Schweitzer Fachinformationen
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Als ich 1987 zum ersten Mal nach Bangkok kam, drückte ich mich vor allem an den Stadträndern herum, wo die Einheimischen unter sich sind. Ein Langzeitreisender hatte mir ein Hotel empfohlen. Da stieg ich ab, zahlte eine Nacht im Voraus und wurde in mein großes gefliestes Zimmer geführt, das nur aus Ritzen an der Oberkante der Langwände beleuchtet war und durch Air Condition heruntergekühlt, das Doppelbett wartete groß und nüchtern. Dieses Hotel lag am Ende einer Sackgasse, gegenüber einer leblosen Wäscherei, ein Tischlerbetrieb zur Linken, ein Fotoladen rechts. Der Hotelbesitzer schlief auf dem Sofa. Andere Gäste habe ich nicht beobachtet. Ich wartete den ganzen Tag im grünen Licht des Zimmers, geraume Zeit davon auf der Bettkante sitzend, die Füße auf dem ausgefransten Vorleger. Abends ging ich aus, in der Dämmerung kam ich zurück, gerade rechtzeitig, um die Miete für den nächsten Tag zu bezahlen, die immer morgens fällig war. Einmal hingen lauter bunte Ballons an der Decke des Flurs. Ein andermal fand ich eine Schale mit Obst vor meiner Tür.
Es gab sogar einen Coffeeshop im Haus, in dem ein Debiler mit wackelnden Beinen und quergestreiftem T-Shirt sang, als suche er den Ton der kürzesten Orgelpfeife. Manchmal klapperte er auch über Stunden rhythmisch mit dem Schlüsselbund. Einmal, als ich früher heimgekehrt war, hörte ich vor der Tür meines Zimmers das Giggeln von Mädchen, ein Flüstern und dann Rufen. Ein andermal setzte sich der Etagenboy auf meine Bettkante und bedeutete mir mit der Hand, meine Haare müssten geschnitten werden. Es war nachts, trotzdem nahm er mich kurz bei der Hand, führte mich eine Etage tiefer und schob mich in einen Saal, der von kaltem Neonlicht beleuchtet war. Hier saßen etwa vierzig Mädchen, uniformiert in kurzen Röckchen und lachten, so wie sie über jeden Falang lachten, der ihnen auf dem Flur begegnete. Manche versuchten, mich zum Reden zu bringen, manche versteckten sich hinter ihren Freundinnen, und manche öffneten die Beine, klopften sich mit der flachen Hand auf die Scham und krakeelten. Nein, sagte ich, nein danke.
Eines der Mädchen schnitt mir dann vor allen anderen die Haare, und ich erfuhr auch, dass dies zwar ein Hotel gewesen, aber seit einem Jahr ein Stundenhotel war. Ich genoss den Ruf des einzigen, etwas wunderlichen Dauerkunden, der trotzdem nie ein Mädchen mit aufs Zimmer genommen hatte. Noch jetzt kann ich ihn riechen, den Geruch von Schmierseife, von Kunstlederbezügen. Im Zimmer blätterte der Ventilator die Seiten meines Buchs um, die schlurfenden Schritte von Gummischlappen verrieten täglich mehrmals die Ankunft des Debilen, der immer den Müll aus den Eimern zusammenschüttete. Am nächsten Tag stand der Etagenboy zum zweiten Mal im Zimmer, setzte sich wieder auf die Bettkante und fragte, ob er bleiben solle. Nein.
»More?«
»No.«
»Friend?«
»Yes.«
»Stay?«
So ging es weiter, bis er selbst lachen musste und mir verriet, er sei nicht schwul, nur bereitwillig.
Nachmittags standen im ganzen Hotel die Türen offen. In der Kühle der Zimmer und in ihrem Dunkel sah man die Betten zwischen Spiegeln stehen, den Goldbesatz der Rahmen funkeln. Die Kunstblumen wurden mit Raumspray besprüht, und wenn dann die ersten Mädchenstimmen aus dem Treppenhaus heraufdrangen, wusste man, der Arbeitstag beginnt.
Das Obst, das ich an den nächsten Morgen regelmäßig vor meiner Tür fand, hatten mir die Frauen hingestellt.
Jedes Geräusch, das ich hörte, übersetzte ich mir in Sex. Die Männer sammelten sich unten im Coffeeshop, redeten, aßen, spielten Karten. Manchmal ging jemand einen Stock höher, man wusste nicht, warum. Die Mädchen auf ihren Bänken lachten, winkten, deuteten auf ihn, bewunderten ihn mit Blicken.
»Alles Scheiße«, sagte der Mann, als er wieder runterkam.
Ein anderer verkündete:
»Rose ist noch nicht fertig, und Debbie hat ihre Tage.«
Ein Mädchen rasierte sich im Flur ihre Beine, ein anderes lehnte dazu rauchend an der Wand und hatte heute keine Lust.
Am Morgen standen wieder alle Türen offen. Auf manchen waren mit Kreide die Belegungspläne der Zimmer fixiert, ergänzt von Zahlungsraten. Putzfrauen mit dicken Armen fielen ein, rissen die Laken heraus, setzten sich dazwischen, studierten Kladden mit handgeschriebenen Eintragungen. Der Debile - am Vortag hatte mir eines der Mädchen zugeflüstert, er sei inzestgeboren - schleppte ein paar abgegessene Teller durch den Flur. Leider konnte er seine Stimmungen nicht homogenisieren, alles stieß aneinander und war laut, die Freude wie der Zorn. Dazu trank er gesalzenen Tamarindensaft.
Die Putzfrauen aßen auf dem Boden von einem der Zimmer. Ihre Haare waren unfrisiert, die Beine blass, die wenige Schminke schien verrutscht. Müde sahen sie aus, und auf den Tellern lag nichts als ein Klops Reis in Sauce. Eine hatte wenigstens ein bisschen knorpeliges Geflügelfleisch darin gefunden, aber zwischen den Knorpeln klebte noch Blut.
Das erste Nacht-Mädchen kam gegen 23 Uhr, noch in Zivil, unscheinbar und nett. Sie nahm im Vorbeigehen meinen Handteller hoch und schrieb mit dem Kuli ihren Namen darauf: Joy, dann die Telefonnummer. Dann wieselte sie lachend auf und davon, verlegen, als hätte sie sich einen Mann bestellt.
Kalter Rauch stand im Flur, ein paar Wisch-und-weg-Tücher wurden vom Wind aufgehoben und meterweit fortgetragen. Ein winziges Mädchen fuhr auf ihrem Hoover durch den Flur, ein anderes lag in der Ecke wie eine Fliege mit verwickelten Beinen. Als ich auscheckte, gab mir der Portier einen Stapel Visitenkarten, eine Faustvoll Kondome und eine Orange. Als ich zwanzig Jahre später wieder in die Straße trete, ist nicht nur das Haus verschwunden, sondern auch das Milieu, die Wäscherei, der Tischlerbetrieb, der Fotoladen, alles weg, und die Straße, die in ihrer Jugend Sackgasse war, ist heute vielspurig und triumphal.
Manchmal bereitet sich das Unwetter am Nachthimmel lange vor, ehe es hereinbricht. Gerade in der Regenzeit sammelt sich so ein Gewitter am Himmel manchmal stundenlang, als müsse es erst seine Kräfte organisieren. Dann wird selbst die Nacht dunkler, das Opal der Wolken trübt und verdüstert sich schließlich. Hatten sich erst bloß ein paar eigenbrötlerische Wolkenbänke um die Hochhäuser geschoben, drängen schon bald die nächsten Kohorten nach, formieren sich zum Verband und belagern, in einem Halbrund heranwogend, die Stadt.
In den Hochhausschluchten räuspert sich der Donner. Die Straßenhändler nehmen zuerst Witterung auf, ziehen neue Planen über ihre Stände, retten die Suppenschüsseln in den Schutz der Ladeneingänge und sehen dabei nicht einmal zum Himmel. Es riecht jetzt nach dem Einbruch des Regens, schon wetterleuchtet es zwischen den Häusern, schon hat die Luft diese samtpelzige Textur, die sich schmeichlerisch auf der Haut niederlässt, ehe sie zwischen den Fassaden Atem aufnimmt und beschleunigt. Süffig schmeckt sie, saftig, gesättigt von den frischen Tropfen, die in ihr zerstäubt überleben.
Der erste Regen nach dem Sommer sichert sich seinen Auftritt. Am Himmel hat es sich giftig-gelblich zusammengeballt, ein Gewölle, eine grummelnde Verdichtung, aus der erst der Platzregen bricht und dann das Geschwader der Blitze. Nicht zielgerichtet kommen sie, sie kommen als Schwarm. Schon steigen die Motorradfahrer ab, und unter den Trassen der Hochbahn drängen sie sich aneinander wie das Vieh im Gewitter. Die behelmten Polizisten haben sich dazugesellt, und von der rettenden Ladenschwelle aus macht der indische Schneider unter dem Firmenschild »Peter Armani« den Wartenden weiter Angebote. Doch nein, dies ist keine Stimmung für Anzüge, nein, diese Atmosphäre braucht alle Aufmerksamkeit, heißt sie doch »erster Regen«.
Jetzt ist er da. Das Lametta der Tropfenschnüre knistert, und die Nacht wird gerade unbrauchbar für die Händler mit ihren Wagen, den mobilen Suppenküchen. So klingt ein Regen, der bleibt, ein Schlaflied-Regen, der erst auf die Planen trommelt, dann rauscht und rauscht. Noch ein paar Stunden und die Gehwege werden geflutet, ihre Platten unterspült sein, das Fell der Ratten wird glitschig widerscheinen, und all das Personal, das sonst von Tisch zu Tisch durch die Gärten wieselt, steht nun in Gruppen in den Türen und blickt bedenklich nach oben. So kommt das erste Gewitter der Regenzeit über die Stadt, so bleibt der erste große Regen, und als seien sie aus der Übung, starren alle zum Himmel, ducken sich und sehen zu, wie der Staub abgewaschen, wie das Kolorit frischer wird und wie die Routine des Sommerlebens den Launen des Herbsthimmels weichen muss. Das ist das Gefühl, das »Monsun« heißt.
Eine Stadt wird wirklich durch Unordnung und Willkür. Das Unpraktische, Nichteffiziente, das Verschwenderische oder Übriggebliebene, alles, was ihren Rückzug aus der Arbeitswelt beschreibt, das charakterisiert sie. Die Stadt erhebt dauernd Ansprüche an die Wahrnehmungsintensität. Sie verdichtet dauernd. Aber nicht nur in ihren Denkmälern und Wahrzeichen, sondern mehr noch zwischen Garküche, Wellblechhütte, Straße, Geisterhaus.
Vor einem Becher mit Eiswürfeln, mitten in der Verachtung der Umsitzenden hockt er, palavert, weist wie eine nächtliche Vogelscheuche in alle Himmelsrichtungen, und keiner sieht hin. Vielleicht trinkt er gerade Schlangenblut oder die Kropfmilch eines fernöstlichen Vogels. Jetzt redet er, sich einen Weg unsicher durch die Vokabelmasse bahnend, redet, wie wenn man beim Gehen die Augen schließt. Ab dem fünften Schritt wird es schwankend.
So gehört er der Stadt, dem großen Arrangement vieler Objets trouvés. Die Stromleitungen haben sich verfitzt, ein Kamm hängt darin, als sei er zum Kämmen der Leitungen dort...
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