Lost Place
von Veronique Wille
Manche Orte, so sagt man, sind verflucht. Verlassene Häuser bergen oft noch das Grauen, das ihre ehemaligen Bewohner in ihnen durchleiden mussten. Lost Places nennt man sie. Doch so verlassen, wie sie auf den ersten Blick wirken mögen, sind sie oft gar nicht ...
Frans Urban erwachte mitten in der Nacht. Da war eine Stimme gewesen, die den vierjährigen Jungen aus dem Traum gerissen hatte.
Der Traum hatte sich als Albtraum entwickelt. Frans war im Sommer über eine von der Sonne beschienene Wiese gesprungen. In der Ferne hatte er sein Elternhaus erblickt. Doch dann war Wind aufgekommen. Gewitterwolken hatten den Himmel verdunkelt und ihre schwarzen Schatten bis hinab auf die Erde geworfen. Regentropfen waren urplötzlich heruntergerasselt und hatten sich in dicke Schneeflocken verwandelt.
Eiseskälte umhüllte den Jungen, der sich nun in einer verschneiten Landschaft wiederfand. Sein Elternhaus war hinter dichten Schneeschleiern verschwunden. Orientierungslos hatte er sich im Kreis gedreht, weil er nicht mehr wusste, in welche Richtung er weitergehen sollte, um nach Hause zu kommen.
Da hörte er die Stimme!
»Frans! Oh, mein Frans!«
Es war die Stimme seiner Mutter.
An dieser Stelle hatten sich Traum und Wirklichkeit vermischt, und er war erwacht.
Die Stimme hörte sich unwirklich an. Sie war mit einem Hall unterlegt, als erklänge sie aus dem Geisterreich.
Als befände er sich noch immer in einem Traum, fühlte sich Frans geradezu gedrängt, aus seinem Bett zu steigen: Dabei hätte er sich am liebsten unter der Decke verkrochen.
Seine nackten Fußsohlen spürten die Kälte des Fußbodens kaum.
»Frans!«
Die Stimme klang schmeichelnd, sehnsüchtig. In Frans erwachte der innige Wunsch, sich in die Arme seiner Mutter zu werfen und sich an ihren warmen Körper zu drücken.
Leise schlich er zur Tür, um die anderen Jungs im Schlafsaal nicht zu wecken. Seltsam, dass sie nicht von dem Ruf erwachten!
Lautlos öffnete er die Tür und sah in den Korridor.
Er riss die Augen weit auf, als er die Szenerie sah, die so ganz anders war als das, was er erwartet hatte. Statt des Waisenhausflurs war da eine hohe Kuppelhalle. Unzählige Türen reihten sich links und rechts auf. Darüber gab es eine Balustrade. Auch dort gab es Türen. Sie erinnerten an die von Gefängniszellen.
Die Halle war leer, erfüllt von einem bläulichen Winterlicht, das durch die Glaskuppel hereindrang. Aber war es nicht mitten in der Nacht?
Obwohl sich alles in Frans sträubte, die Schwelle von seinem Schlafraum zu übertreten, stolperte er einen Schritt nach vorne, ganz so, als würde jemand hinter ihm stehen und ihm einen Schubs geben.
Kaum hatte er die unheimliche Halle betreten, hörte er wieder seine Mutter nach ihm rufen: »Frans! So komm doch und hilf mir!«
Ihre Stimme klang nun ganz anders. Da lag kein Sehnen mehr darin, sondern eine hoffnungslose Hilflosigkeit.
Und dann erblickte er sie: Seine schöne Mutter, gekleidet in einer weißen Rüschenbluse und einem langen dunklen Kleid. Verzweiflung lag in ihrem Blick. Aber sie schaute nicht ihn an, sondern hatte den Kopf nach oben gerichtet und in einer hilflosen Geste die Arme seitlich ausgestreckt.
»Mama!«, rief Frans leise. »Mama, hier bin ich doch.«
Er wollte zu ihr laufen, sich in ihre Arme werfen. Aber er stand da wie erstarrt.
Nebelschwaden wallten durch die Halle. Wie Geister wirbelten sie auf und verdichteten sich zusehends.
Und dann sah Frans die Hände. Dürre Krallenfinger, die von oben wie aus dem Nichts erschienen und nach seiner Mutter griffen ...
Seine Mutter schrie.
Dann wurde sie vom Nebel verschluckt.
Aber kurz, bevor sie endgültig seinem Blick entschwand, sah er noch etwas in dem Nebel. Hoch oben schälte sich eine grauenhafte Gestalt aus den Nebelschleiern hervor ...
Das war jedes Mal der Moment, in dem Frans Urban erwachte. Wirklich erwachte.
Neben ihm hatte sich Agneta im Bett aufgerichtet und die Nachttischlampe angeknipst. Nun sah sie ihn besorgt an.
»War es wieder der Traum? Du hast nach deiner Mutter gerufen ...«
Frans rieb sich über die Augen. Das Licht irritierte ihn. Er stand noch immer ganz unter dem Einfluss des grässlichen Traums.
»Es war ... es war wie immer«, murmelte er. »Oder fast ... da war diesmal noch etwas ...« Er versuchte sich zu erinnern, aber mit jeder Sekunde entglitt ihm das Monströse, das ihn derart erschüttert hatte, nur noch mehr. Da war etwas gewesen, das alle bisherigen Träume an Grauen übertroffen hatte.
Jetzt erst merkte er, dass er nass geschwitzt war. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper. Er zitterte.
»Du musst Doktor Rosenqvist davon erzählen«, sagte Agneta und strich ihm sanft über die Wange. Am liebsten hätte er sich an sie geklammert. Aber er schämte sich, dass er so verschwitzt war.
»Ich glaube, ich stehe noch mal auf und trinke was«, murmelte er und stieg aus dem Bett.
Er verließ das Schlafzimmer und hoffte, dass Agneta wieder einschlief. Wenn nicht, würde sie ihn nur wieder nerven, dass er doch ins Bett kommen solle. Aber heute Nacht, das wusste er, würde er keinen Schlaf mehr finden können.
Wie immer, wenn er von diesem immergleichen Traum heimgesucht wurde.
»Das ist ganz schön unheimlich hier«, stellte Lena Ågren fröstelnd fest. Die hübsche Siebzehnjährige mit den schulterlangen weißblonden Haaren und den himmelblauen Augen schlang fröstelnd die Arme um den schlanken Körper.
»Warte erst mal, bis wir drinnen sind«, sagte Niels Jeppesen. Der schlaksige, junge Mann mit den schwarzen Locken grinste extra diabolisch.
»Jetzt mach Lena nicht noch Angst!«, tadelte ihn Hanna Holst.
»Macht er doch gar nicht!« Malte Klausen, der vierte im Bunde, nahm seinen Freund sofort in Schutz. »Er sagt nur, wie's ist!«
Lena und Hanna hatten die beiden Jungs erst vor einigen Stunden im Blue Moon kennengelernt. Die zwei jungen Männer hatten sich im Club von der besten Seite gezeigt, ein paar Drinks ausgegeben und auf nette Art geflirtet. Nicht so wie die meisten anderen Jungs, die Lena bisher kennengelernt hatte und die gleich mehr wollten als nur zu tanzen.
Letztlich war es auch zwischen ihr und Malte nicht nur dabei geblieben. Aber mehr als ein paar innige Küsse waren bei ihr nicht drin gewesen. Sie war keines dieser Mädchen, die es am ersten Abend schon auf der Toilette trieben. Sie wusste, dass Hanna da nicht so zimperlich war. Sie war auch nicht wirklich ihre Freundin. Es hatte sich einfach so ergeben, dass sie sich heute im Blue Moon getroffen hatten.
Jedenfalls hatte der Club irgendwann spät in der Nacht zugemacht. Der letzte Bus nach Lyngby, dem nördlichsten Vorort Kopenhagens, war längst abgefahren. Da hatte sich Niels angeboten, die beiden Mädchen mit seinem alten Saab nach Hause zu bringen.
Die beiden Mädchen hatten das Angebot nur zu gern angenommen.
Irgendwo auf dem Weg dahin hatte Niels von einem tollen »Lost Place« gesprochen.
»Wenn man die nächste Seitenstraße nimmt, geht es ein Stück durch den Wald. Bald darauf kommt man an dem alten Irrenhaus vorbei.«
»Wow!« Hanna war sofort Feuer und Flamme gewesen. »Echt jetzt? So eine richtig gruselige Location?«
»Das sag' ich euch«, hatte Niels geantwortet. »Malte und ich waren schon zweimal da drin. Voll spooky! Bisher waren wir nur im Erdgeschoss, aber wir haben vor, uns demnächst auch mal den Keller anzugucken.«
»Wow!«, sagte Hanna wieder. »Bei dem Gedanken krieg' ich jetzt schon eine Gänsehaut.«
»Die würde ich mir gern mal angucken«, grinste Niels. »Was ist? Habt ihr Lust auf einen Abstecher in das alte Gemäuer?«
»Ich auf keinen Fall!«, erklärte Lena. Nicht nur die Aussicht, mitten in der Nacht in ein leerstehendes Haus einzusteigen, bereitete ihr Unbehagen. Sie kannte die Jungs kaum. Vielleicht war das auch nur eine Finte.
»Sei kein Frosch, Lena!«, sagte Hanna. »Wäre doch mal ne echt geile Sache. Was meinst du, was die in der Klasse Stilaugen machen, wenn wir das erzählen.«
Lena dachte eher daran, wie sie dastehen würde, wenn Hanna erzählte, dass sie, Lena, zu feige gewesen war, mitzukommen. Oder zu blöde. Die beiden Jungs sahen wirklich klasse aus. Lena fand sich nicht besonders hübsch. Das Gegenteil sagte man ihr zwar immer, aber sie fand ihre Nase zu schief, ihre Brüste zu klein und ihren Hintern zu dick.
Im Gegensatz zu Hanna, die ihre Vorzüge stets ins rechte Licht setzte, war Lena in der Hinsicht zurückhaltender. Umso mehr hatte es sie überrascht, dass beide Jungs sich zunächst um sie gerissen hatten. Hanna hatte sich schon sehr bemühen müssen, um Niels' Aufmerksamkeit von Lena weg und auf sich zu lenken.
Lena erwiderte nichts. Dafür schien für Niels nun die Sache klar.
»Dann ist ja alles gucci, Mädels. Da vorne geht's in den Wald.«
Er bremste stark ab. Lena schaute nach hinten. Die roten...