Der Butler
von Veronique Wille
Der Nebel kroch immer weiter die menschenleere Dorset Street hinauf. Der gelbe Lichtschein der Gaslampen drang kaum durch ihn hindurch. Er erzeugte Schatten, die wie Gespenster im Nebel tanzten. Bis vor einer halben Stunde hatte wenigstens noch ihre Freundin Lizzie ein paar Häuser weiter ebenfalls ausgeharrt. Aber selbst sie hatte sich verabschiedet, nachdem die Aussicht, noch einen Freier abzukriegen, nahezu bei null lag.
Jetzt bedauerte es Mary Jane, nicht auch nach Hause gegangen zu sein. Aber sie brauchte das Geld ...
Thomas Craft, seit William MacKenzies tragischem Tod der alleinige Butler auf Château Montagne, kam kreidebleich ins Arbeitszimmer gestürzt. Nicole und Zamora sichteten soeben gemeinsam die über Nacht eingegangenen Mails. Darunter waren Anfragen aus aller Welt für wissenschaftliche Vorträge, Hinweise auf mögliche paranormale oder dämonische Aktivitäten, aber auch die eine oder andere Mail von Freunden.
»Verzeihung, aber ...« Thomas stockte, während Zamorra und Nicole ihn besorgt anschauten. Offensichtlich rang Thomas nicht nur um Worte, sondern auch um Fassung.
»Was ist los mit Ihnen, Thomas?«, fragte Nicole besorgt. Sie hatte ein besonderes Vertrauensverhältnis zu dem Butler. Und er zu ihr. Er vertraute ihr bedingungslos.
»Es ist ...«
Jetzt erst bemerkte Nicole den Bogen Papier, den Thomas Craft in der Hand hielt. Sie stand auf und ging auf ihn zu.
»Lesen Sie selbst, Madame«, sagte Thomas mit leicht zitternder Stimme. Es war völlig untypisch für den ansonsten stets um Souveränität bemühten Butler.
Er reichte Nicole das Blatt. Es handelte sich um einen auf edlem Bütten geschriebenen Brief. Als Briefkopf war der geprägte Stempel einer Anwaltskanzlei namens Stevenson & Louis angegeben.
»Sehr geehrter Mister Craft«, las Nicole laut, sodass auch Zamorra es mitbekam. Der Meister des Übersinnlichen hatte sich besorgt zu den beiden umgedreht und hörte aufmerksam zu.
»Wir bedauern Ihnen die traurige Mitteilung machen zu müssen, dass Ihr Onkel Aleister Matthew Blake bereits im letzten Jahr am 15. November 2024 verstorben ist. Wir haben Sie als alleinigen noch lebenden Angehörigen und Erben ausfindig machen können und bitten Sie, sich mit uns baldmöglichst in Verbindung zu setzen ...«
Nicole ließ den Brief sinken und sah Thomas an. »Sie haben uns nie etwas von Ihrem Onkel erzählt.«
»Weil es keine Veranlassung gab. Ich habe Onkel Aleister seit meiner Kindheit nicht mehr gesehen und ihn, ehrlich gesagt, auch völlig vergessen. Oder vielleicht auch verdrängt. Umso überraschender ist nun dieser Brief, denn ...« Er geriet wieder ins Stocken.
»Sprechen Sie ruhig weiter, mein lieber Thomas.«
»Nun, es hatte Gründe, warum meine Mutter ihn fürchtete. Und ich ihn übrigens auch. Er war ein böser Mensch, müssen Sie wissen. Umso schmerzlicher ist es, nun wieder an ihn erinnert zu werden.«
Auch Zamorra erhob sich nun. »Wenn es so schmerzlich für Sie ist, Thomas, vergessen Sie das Schreiben doch einfach. Es besteht keine Pflicht, der Bitte Folge zu leisten.«
Thomas senkte den Kopf, ballte die Hände zu Fäusten. Dann sah er Zamorra fest in die Augen.
»Doch. Ich betrachte es als meine Pflicht. Sie können es vielleicht nicht verstehen, Monsieur le Professeur, aber ... nun, vielleicht hilft es mir ja, diesen dunklen Fleck meiner Vergangenheit endlich zu verarbeiten, indem ich mich ihm stelle.«
Nicole nahm seine Hand, die sich sogleich entkrampfte.
»Zamorra und ich verstehen Sie sehr gut, Thomas. Wir würden nicht anders handeln. Und schließlich, so besagt es der Brief, geht es ja auch um ein Erbe. War ihr Onkel vermögend?«
Thomas zuckte die Schultern. »Das vermag ich nicht zu sagen, Madame. Ich war damals, wie gesagt, noch ein Junge. Ich weiß jedoch, dass mir das Haus, das er allein bewohnte, riesig vorkam. Riesig und düster, und ich mich stets unwohl darin fühlte, wenn wir zu Besuch dort weilten.«
»Wie auch immer, Thomas, die Entscheidung liegt bei Ihnen«, sagte Zamorra. »Sie sollen jedoch wissen, dass wir Sie jederzeit beurlauben, sollte Ihre Anwesenheit vor Ort nötig werden.«
Thomas verbeugte sich leicht. »Ich danke Ihnen beiden sehr. Nun, ich denke, ich werde zunächst das Anwaltsbüro Stevenson & Louis telefonisch kontaktieren. Vielleicht weiß ich danach schon mehr.«
»Tun Sie das, Thomas«, ermunterte ihn Nicole. »Und scheuen Sie sich nicht, uns auf dem Laufenden zu halten. Natürlich nur, wenn Sie es für nötig befinden.«
Nachdem sich Thomas noch einmal bedankt und den Raum verlassen hatte, schauten sich die beiden Geisterjäger stirnrunzelnd an.
»Was meinte er nur mit dem dunklen Fleck seiner Vergangenheit?«, fragte Nicole.
»Hätte er es uns verraten wollen, hätte er es uns erzählt.«
»Du Schlauberger. Trotzdem, es klang nach einer nicht sehr schönen Episode in seinem Leben.«
»Einer, die er nach eigenen Worten verdrängt hast. Umso wichtiger wird es für ihn sein, sie aufzuarbeiten - was immer damals auch geschehen sein mag.«
Vergangenheit
»Ich will nicht zu Onkel Aleister, Mom!«
»Aber, Thomas, wir haben das doch alles lang und breit besprochen. Ich muss nun mal für eine Woche ins Krankenhaus, und dein Onkel Aleister ist unser einziger Verwandter. Also bleibt uns gar nichts anderes übrig. Seien wir froh, dass er sich um dich kümmern wird!«
»Ich will nicht!« Thomas' Stimme klang nun beinahe weinerlich. Er war zwölf Jahre alt, und er wusste, dass es sich nicht ziemte für einen zwölfjährigen Jungen zu heulen. Er versuchte sich zusammenzureißen, aber es fiel ihm schwerer, je näher sie der Eingangspforte kamen.
Sie war schwarz, ebenso wie das ganze herrenhausähnliche Gebäude in Schwärze getüncht war. Nicht nur deshalb wirkte es überaus düster. Thomas glaubte zu spüren, dass so etwas wie ein böser Hauch von Lucifer's Hall ausging.
Wer war schon so irre und benannte sein Haus nach dem obersten aller Teufel?
Thomas hatte es nachgelesen. Ebenso hatte er sich in der Gemeindebibliothek informiert, was ein Satanist war. Onkel Aleister war ein solcher. Zumindest hatte Thomas das herausgefunden, als er heimlich gelauscht hatte, wie sich seine Mutter und sein Onkel stritten.
Ein Satanist huldigte dem Teufel, also war Onkel Aleister ein Teufelsanbeter. In dem Lexikon, aus dem Thomas seine Informationen bezüglich Satanismus bezogen hatte, waren auch Abbildungen gewesen. Bilder von Opferungen nackter Frauen. Und auch nackte Leiber von Männern und Frauen. Sie alle trugen Tiermasken. Was sie da miteinander trieben, wusste Thomas natürlich. Er war ja kein Kind mehr. Besonders ein ineinander verschlungenes Paar hatte es ihm angetan: Da trieben es nicht Mann und Frau, sondern zwei Männer miteinander.
In Thomas' Fantasie fanden auch in Lucifer's Hall solche Feiern statt. Seltsamerweise erregte ihn der Gedanke.
Und doch hatte er, seitdem er wusste, dass er eine Woche in dem düsteren Haus wohnen sollte, eine entsetzliche Angst davor.
Es war nicht so, dass er bisher niemals dort gewesen wäre. Im Gegenteil, sogar sehr oft, hatte Mom mit ihm Onkel Aleister besucht. Einmal im Monat lud er sie zum Essen ein. Jeweils am dreizehnten. Auch das war einer seiner Spleens. Er bezeichnete die Dreizehn als die unheiligste aller Zahlen.
Mom war alleinerziehend. Das Geld war immer knapp. Also nahm sie die Einladungen ihres Schwagers stets nur allzu gern an. Jedes Mal gab es ein üppiges Essen, das aus mehreren Gängen bestand. Besonders gern tischte Onkel Aleister Wild und Geflügel auf: Pudding mit Wildragout, Fasan mit Perlgraupen oder auch Moorhuhnpastete mit Entenleber.
Letzteres Gericht gab es zu Thomas' Leidwesen jedes zweite oder dritte Mal. Er hasste Innereien genauso wie Kaviar oder Schnecken. Es ekelte ihn geradezu an. Aber Onkel Aleister bestand darauf, dass er alles aß, was serviert wurde. Und je mehr Abscheu auf Thomas' Gesicht stand, umso sardonischer geriet das Lächeln seines Onkels.
Eigentlich gab es nur eines, auf das Thomas sich freute: auf den Nachtisch. Seine Favoriten waren Brownies mit dunkler Schokoladen-Ganache und karamellisierte Apfelpfannkuchen.
»So, jetzt mach nicht so ein jämmerliches Gesicht und reiß dich zusammen!«, tadelte ihn Mom, nachdem sie die altmodische Türglocke betätigt hatte und von drinnen Schritte zu hören waren.
Die Tür öffnete sich, und Mrs Mercy stand vor ihnen.
Mrs Mercy war Haushälterin, Köchin und wohl auch Hausdame in einem. Sie war füllig, hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht mit blauen Kulleraugen. Und sie trug tatsächlich bei gewissen Tätigkeiten eine altmodische weiße Haube auf dem pechschwarz gefärbtem Haar. Sie mochte über sechzig sein. In Thomas' Augen war das uralt, aber dennoch ertappte er sich dabei, dass er manchmal auf ihre üppigen Brüste schielte, die sich unter ihrer Bluse abzeichneten.
»Ach, der junge Herr Thomas!«, begrüßte sie ihn und schenkte ihm ein...