Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Dienstag
»Olé, BVB, olé, olé .«
Mit einem Griff hatte Mütze seinen alten Nokiaknochen gepackt. Doktor Kunzelmann war am Apparat, mitten in der Nacht. Ob Mütze gleich vorbeikommen könne? Natürlich könne er kommen, sofort würde er kommen. Bis gleich!
Mütze glitt in seine Jeans, die ihm Karl-Dieter am Abend zuvor ordentlich über den Stuhl gehängt hatte. Auch Hemd und Socken lagen akkurat an ihrem Platz. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sich Mütze seine Sachen noch selbst herausgesucht. Seitdem er jedoch den unverzeihlichen Fehler begangen hatte, grüne Socken zu einer blauen Jeans anzuziehen, hatte ihm Karl-Dieter die Kleidungsfragen abgenommen. Grüne Socken zu blauen Jeans, das ging ja gar nicht! Auch das Waschen und Bügeln hatte Karl-Dieter übernommen und selbstverständlich das sorgfältige Bestücken ihrer Kleiderschränke. In jeder Partnerschaft entwickelte sich eine natürliche Arbeitsteilung.
Karl-Dieter war nur kurz wach geworden, hatte sich umgedreht und war gleich wieder weggedöst. Er hatte den Schlaf eines Murmeltiers. Mütze sprang in seinen alten Opel Manta und fuhr durch die Nacht. Kosbach lag wie ausgestorben da, auch in Büchenbach war kein Eichhörnchen zu sehen. Die vierspurige Straße, die sich über den Europakanal schwang, endete kurz darauf im grünen Nirwana. Man hatte schlicht vergessen, sie ins Zentrum zu verlängern. Auf dem kurzen Stumpf, der die Möglichkeit einer Brücke über das Regnitztal andeutete, standen nur Müllcontainer und die Container eines Flüchtlingswohnheims. Mütze musste links abbiegen und einen lästigen Umweg in Kauf nehmen.
Erlangen pflegte eine eigentümliche Verkehrspolitik. Autos schien man nicht zu mögen, Radfahrer erst recht nicht, selbst für ein modernes öffentliches Nahverkehrssystem mochte man sich nicht entscheiden. Nur an kleinen Details bastelte man gerne herum. Wie aber sollten sich die Bürger fortbewegen? Man wartete wohl ab, bis das Beamen serienreif wurde. Ihr Regnitztal jedenfalls war den Erlangern heilig, da durfte sich kein Bagger sehen lassen. In Dortmund war man in diesen Dingen weniger zimperlich. Die Emscher hatte man kurzerhand unter Tage gelegt, so war sie keiner Straßenplanung mehr im Wege gewesen.
Mütze nahm die Möhrendorfer Straße durch Alterlangen, das kein bisschen alt aussah, eher wie eine dieser planlosen Siedlungen aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Die außergewöhnlich hohe Apothekendichte wies darauf hin, dass hier viele Senioren wohnen mussten. Oder Kranke. Oder kranke Alte. Ob daher der Name kam? Alterlangen? Tatsächlich tauchte rechter Hand nun auch noch das bläuliche Neonschild eines Altenheims auf. Fazit, leuchtete es blau durch die Nacht. Kein schlechter Name für eine Seniorenentsorgungsanlage, dachte Mütze grinsend. Der Zeitpunkt des Anrufs hatte ihn überrascht. Schließlich war es zwei Uhr in der Früh. Kunzelmann schien die ganze Nacht durchgearbeitet zu haben, Bücherregal für Bücherregal musste er durchforstet haben, eine Herkulesaufgabe.
»Respekt«, murmelte Mütze, als er am Langen Johann, dem angeblich höchsten Wohnhaus Bayerns, Richtung Innenstadt einbog. Was mochte Kunzelmann entdeckt haben?
Am Schlachthof nahm Mütze die Stadtautobahn. Die Franken waren Pragmatiker. Hatten auf den alten Main-Donau-Kanal einfach die Autobahn draufgepackt. Vom Schlachthof leuchtete ein blaues Schild: UNIFLEISCH. Mütze musste grinsen. Karl-Dieter konnte sich jedes Mal darüber aufregen. Für eine Unistadt wie Erlangen sei dies ein höchst ungehöriges Schild und gehöre verboten. Unifleisch! Wie sich das anhöre. Wie eine despektierliche Verhöhnung der Studenten. Karl-Dieter war eben ein Feingeist und ein Mann von Bildung und Niveau, wer sonst käme auf die Idee, sich über so ein Schild Gedanken zu machen?
Trotz der nächtlichen Störung war Mütze kein bisschen verstimmt. Im Gegenteil. Er freute sich, wenn's voranging. Wenn ihm eine Tugend fehlte, dann die der Geduld. Und sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Fall kein gewöhnlicher war.
»Rückert! Zwei Bände Rückert sind verschwunden!«
»Rückert?« Mütze sah den Bibliotheksdirektor an wie ein Hamster, wenn's donnert.
»Friedrich Rückert«, sagte Doktor Kunzelmann gedehnt und stöhnte auf, als hätte er den Verlust des Originalmanuskripts von Goethes Faust zu beklagen. Oder den der Lutherbibel.
»Wertvolle Sachen wohl?«, fragte Mütze und versuchte teilnahmsvoll zu wirken, was ihm nur mäßig gelang.
»Wertvoll? Unbezahlbar!«
Kunzelmann wirkte zutiefst zerknischt. Erst der Tod von Frau Apeldoorn und nun auch noch dieser Verlust.
»Wie viel?«, fragte Mütze.
Kunzelmann sah ihn fragend an.
»Wie viel sind die Bücher wert?«
Kunzelmann schüttelte erschöpft den Kopf. Es sei nicht der materielle Verlust, es sei der ideelle. Bei den Bänden handele es sich um Originalhandschriften Rückerts, um bislang noch unpublizierte Schriften. Unwiederbringlich sei dieses Kulturgut verloren, wenn Mütze es nicht wiederfinde.
»Sehen Sie her«, sagte der Bibliotheksdirektor und deutete auf ein hohes, dicht mit alten Büchern gefülltes Regal, in dem deutlich eine Lücke klaffte, »hier bewahrten wir die Rückert-Handschriften auf, unseren ganzen Stolz! Dennoch, der Mörder ist nicht nur ein brutaler Killer, es muss sich zugleich um einen ziemlichen Idioten handeln.«
»Warum?«
»Denken Sie erst an unsere kostbaren, von Hand gestalteten Bibeln! Das sind die noch größeren Schätze hier, also wirtschaftlich betrachtet. Mein erster Gang führte mich in die mittelalterliche Abteilung. Sie können sich meine Erleichterung vorstellen, als ich alle unsere Bibeln und Stundenbücher unversehrt an ihren Plätzen fand. Insofern haben wir noch Glück im Unglück gehabt. Bis auf das Hinscheiden von Frau Apeldoorn natürlich.«
»Natürlich. Und die Bücher dieses, dieses . wie hieß der Mann noch gleich?«
»Rückert, Friedrich Rückert. Einer der ganz Großen unter den deutschen Dichtern, ein Olympier.«
». dieses Rückerts. Was kann man damit anfangen?
»Nichts.«
»Verkaufen?«
»An wen denn? Dafür existiert kein Markt. Daran sind höchstens wissenschaftliche Bibliotheken interessiert.«
»Warum mordet jemand, um Bücher zu rauben, die nur die Wissenschaft interessieren?«
»Keine Ahnung«, seufzte Kunzelmann, »verraten Sie es mir.«
»Was stand denn in den Büchern?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie sind doch der Bibliothekar!«
»Glauben Sie, ein Bibliothekar kommt zum Lesen?«
Erneut ins Bett zu klettern, dafür war es zu spät. Oder zu früh. Mütze beschloss, Karl-Dieter zu überraschen und das Frühstück zu zaubern. Tassen und Teller standen bereits auf ihrem Platz, Karl-Dieters letzte Handlung vor dem Zu-Bett-Geh-Zähneputz. Warum er das Geschirr nicht erst am Morgen hinstelle, hatte Mütze ihn am Anfang ihrer Beziehung gefragt. Es sehe einladender aus, hatte Karl-Dieter geantwortet. Wenn man morgens aufstehe, fühle man sich einfach besser, so, als würde man erwartet. Mütze hatte die Stirn gerunzelt, aber nichts darauf geantwortet. Bei manchen Sachen durfte man Karl-Dieter nicht reinreden, da war er empfindlich wie ein Bottroper Zuchttäubchen.
Mütze nahm ein Schüsselchen, schüttelte Müsli aus der Box, dazu etwas Leinsamen und goss die Bio-Milch darüber. Das Ganze garnierte er mit drei Dörrpflaumen. Karl-Dieter würde sich wundern, wie gut sein Müsli heute aufgequollen war. Karl-Dieter liebte aufgequollenes Müsli. Es sei so verträglich, bringe den Darm zum Lächeln. - Den Darm zum Lächeln! Wie sich Karl-Dieter auszudrücken pflegte. Das musste an der Theaterluft liegen. Mütze aß morgens immer zwei Toastscheiben mit dick Butter drauf und je vier Scheiben Aldi-Salami, was Karl-Dieter gar nicht gerne sah. Wegen der Nitrosamine und überhaupt. Mütze aber ignorierte solche Bedenken. Was war denn von einem Kommissar zu halten, der mit gequollenem Müsli im Leib auf Mörderjagd ging? Da könnte er ja gleich auf Sojawürstchen umsteigen! Und außerdem war die Aldi-Süd-Salami noch einen Tick besser als die Aldi-Nord-Salami in Dortmund.
Als der Toast hochschnellte, stand plötzlich Karl-Dieter in der Küche. Er hatte sich seinen seidenen Morgenmantel übergezogen und gähnte gewaltig. Gerührt schaute er auf seine Müslischüssel und gab Mütze einen schmatzenden Kuss auf dessen Gesichtsmaske.
»Rückert? Natürlich kenne ich Rückert!«
Gemütlich saßen die beiden Ruhrpottjungs in der Essecke ihrer Küche und ließen sich das Frühstück schmecken. Mütze biss krachend in seinen Toast. Audi-Toast, nannte er seine Kreation, weil er die vier Salamischeiben in Form der Audi-Ringe zu legen pflegte. Karl-Dieter hatte noch für Kaffee gesorgt, hatte das Wasser zweimal aufkochen lassen, altes Geheimrezept seiner Lieblingstante, und für Mütze als Müsli-Dank-Offensive zwei Spiegeleier gezaubert. Mit Petersilienkrönchen obendrauf, denn das Auge isst ja bekanntlich auch mit. Zum Glück beeinträchtigte die Gesichtsmaske die Kaumuskulatur nur unwesentlich.
»Und?«, fragte Mütze, das Grünzeug unauffällig beiseiteschiebend. »Wer war nun dieser Rückert, ein Arbeiterdichter?«
»Du bist wirklich ein solcher Prolet«, sagte Karl-Dieter und rollte mit den Augen, »Rückert war einer der größten deutschen Dichter, ein später Zeitgenosse Goethes.«
»Faust!«, sagte Mütze und setzte eine intellektuelle Kennermiene auf.
»Goethes Faust und Schillers Locken, darin erschöpft sich deine...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.