Schweitzer Fachinformationen
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»Bist du denn als Kind schon mal hier gewesen?«, wunderte sich Mütze.
»Nicht körperlich«, erwiderte Karl-Dieter und grinste.
Was gibt es Schöneres, als sich an einem sonnigen Sommermorgen aufs Rad zu schwingen? Fand zumindest Karl-Dieter. Mütze hätte gerne noch ein zweites Frühstücksei gelöffelt, aber was half's? Karl-Dieter sprühte vor Unternehmungsgeist wie eine Wunderkerze. Heute sei ein ganz besonderer Tag, heute würden sie zum Traumort seiner Kindheit radeln.
Die Sache mit dem Fahrradurlaub ist natürlich Karl-Dieters Idee gewesen. Sich interessante Orte anzuschauen und dabei gleichzeitig die Fitness zu verbessern, das sei doch die optimale Kombi. Wie hat es Fontane ausgedrückt? »Luft und Bewegung sind die eigentlichen geheimen Sanitätsräte!« In ihrem Alter würde es schon gar nicht schaden, etwas für die Gesundheit zu tun. Mütze hatte skeptisch gelächelt. Für die Gesundheit? Karl-Dieter meine wohl eher sein neues Abspeckprogramm. Ob da nicht ein richtiges Fahrrad geeigneter wäre? - Auch ein E-Bike sei ein richtiges Fahrrad, hatte Karl-Dieter nur säuerlich erwidert. Schließlich müsse man auch beim E-Bike trampeln. Der einzige Unterschied sei, dass man die Anstrengung feiner dosieren könne.
»Na, dann dosier' mal fein!«
Mütze trat kräftig in die Pedale. Niemals wäre er auf ein E-Bike gestiegen. War er ein gichtgeplagter Opa? Mann, er war ein harter Bulle in den besten Jahren! Wenn schon Fahrrad, dann Mountainbike, so ein knackiges X-Trail-Rad ohne jeden überflüssigen Schnickschnack. Karl-Dieters Einwand, in der Mark Brandenburg seien richtige Berge in etwa so zahlreich wie Skandale an seinem Erlanger Theater, ließ Mütze nicht gelten. Ein Mountainbike war etwas für echte Kerle, egal, wo's langging. Und sei es eine Fahrradtour durch die Sandwüsten der Mark Brandenburg.
»Eine Radwanderung!«
»Wie bitte?«
»Radwanderungen durch die Mark Brandenburg, so nennt sich unsere Reise!«
Mütze schnaubte. Musste Karl-Dieter neuerdings alles unter ein Motto stellen? Konnten sie nicht einfach zehn Tage vor sich hin radeln? Ganz absichtslos, einfach ins Blaue hinein? Nein, Karl-Dieter hatte beschlossen, eine Fontane-Gedächtnistour daraus zu machen. Fontane sei nun mal einer seiner Herzensautoren und Fontanes »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« ein Highlight der Literaturgeschichte. Davon könne man nur profitieren. Theodor Fontane hatte einmal einem Freund beschrieben, wie er bei seinen Recherchereisen vorgegangen ist, nicht wie einer, der mit der Sichel zur Ernte geht, sondern wie ein Spaziergänger, der einzelne Ähren aus dem reichen Feld pickt. Auf solche Ähren hoffte auch Karl-Dieter, die vielleicht schönste wollte er heute pflücken.
Flott ging's voran. Karl-Dieter hatte den Schalter auf maximale Unterstützung gestellt und raste mit zum Platzen gefüllten Akku dahin, als wollte er die Tour de France gewinnen. Zugleich jedoch saß er äußerst entspannt im Sattel und betrachtete mit sichtbarer Lust die vorbeiziehende Landschaft. Hätte Mütze auch nur den Hauch eines romantischen Anflugs in sich gespürt, er hätte zugeben müssen, was für ein anmutiges Bild sich ihnen bot. Über den Wiesen schwebten zart die Reste des Morgennebels, glitzernd funkelten die Tautropfen in den Hecken und Büschen, und über dem weiten grünen Land begann sich der Himmel blau zu wölben. Kaum zu glauben, dass Berlin nur einen Katzensprung hinter ihnen lag. Zwischen alten Kopfweiden tauchte der Kirchturm eines nahen Dorfes auf, nach einer Viertelstunde das Ortsschild »Ribbeck«.
Es gibt Orte, da ist man noch nie gewesen, und dennoch verbindet man mit ihnen die lebhaftesten Bilder. Jedenfalls ging das Karl-Dieter so. Besonders mit Orten seines Lieblingsschriftstellers Fontane. Der Eriesee in Nordamerika? Nie dagewesen - und doch sah Karl-Dieter die »Schwalbe« darüber fliegen, das in Flammen stehende Dampfboot, dessen Gischt schäumte wie Flocken von Schnee. Der Tay, Schottlands mächtiger Fluss? Vor Karl-Dieters Augen raste der unglückselige Mitternachtszug über die Brücke, durch heftigen Wintersturm, in den Abgrund, in die Tiefe, in den Tod: »Tand, Tand ist das Gebilde aus Menschenhand!« Der schönste, der lebendigste aller literarischen Orte aber war zweifelsohne das Städtchen Ribbeck. Karl-Dieter spürte, wie sein Herz höher zu schlagen begann. Ribbeck, sein Ribbeck! So schlicht, so einfach, und doch voller Magie. Was verband sich nicht alles mit diesem Namen? Bald würde er den Zauberort mit eigenen Augen betrachten können, nur noch ein paar Minuten, dann waren sie dort.
Mit feierlichem Gesicht stand Karl-Dieter vor dem kleinen Bäumchen. Es war nicht mehr der Originalbirnbaum, aber was machte das? Es war derselbe Ort, der alte Friedhof von Ribbeck, derselbe Wind blies durch die grünen Blätter, zwischen denen sich die zarten Fruchtansätze versteckten, in Sichtweite das ehrwürdige Schloss der von Ribbecks, das Doppeldachhaus. Die Fahrräder hatten sie an die Wand der nahen Kirche gestellt, ein niedriger, rustikaler Bau, wie er in der Mark Brandenburg üblich zu sein schien. Karl-Dieter schloss kurz die Augen, dann begann er das Gedicht vorzutragen:
»Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland
Ein Birnbaum in seinem Garten stand .«
»Wöff, wöff, wöff!« Ein winziger Kläffer kam aus dem Gebüsch gestürmt und bellte Karl-Dieter an, ein zerzaustes weißes Etwas mit schwarzen Knopfaugen. Karl-Dieter aber war entschlossen, sich durch nichts und niemand stören zu lassen, nicht jetzt, nicht in diesem erhabenen Moment.
». und kam die goldene Herbsteszeit
Und die Birnen leuchten weit und breit .«
»Wöff, wöff, wöff!« Wilder noch klang das Gebell, eindringlicher, fast verzweifelt. Karl-Dieter hielt ärgerlich inne. Wo kam der Zwerg nur her? Warum gab er keine Ruhe? Was wollte er nur? Wo war sein Frauchen, wo sein Herrchen? Er hatte sich wohl losgerissen, die Leine hing ja noch an seinem Halsband. Ach, was soll's, sein Besitzer würde sicher gleich kommen. Karl-Dieter schloss die Augen wieder.
». da stopfte wenn's Mittag vom Turme scholl
Der von Ribbeck sich beide . Autsch! Mistvieh!«
Nachdem ihm der weiße Strubbel in die Radlerhose gezwickt hatte, schoss das Hündchen mit einem wilden Sprung davon, drehte sich abrupt um, bellte heiser, machte drei weitere Sprünge, drehte sich wieder um und bellte erneut.
»Der will uns was zeigen!« Mütze folgte dem Hündchen hinter ein nahes Gebüsch und pfiff durch die Zähne.
Eine Axt. Mitten im Schädel. Kein schöner Anblick. Selbst wenn sich in dem blanken Teil des Stahls, dort, wo er nicht mit Blut verschmiert ist, hell die Morgensonne spiegelt, hat man doch kein Auge für derlei optische Raffinessen. Nicht jetzt, nicht in einem solchen Moment. Es gibt ein paar Dinge, die passen einfach nicht zusammen. Eine Axt hat in einem Kopf nichts zu suchen, erst recht nicht in einem menschlichen.
»Wahnsinn«, flüsterte Karl-Dieter atemlos.
Mütze bückte sich nieder. Das Blut, das dem Toten übers Gesicht lief, glänzte frisch. Die Axt, sie konnte noch nicht lange im Schädel stecken. Mütze erhob sich rasch und sah sich um. Kein Mensch, nirgends.
»Halt' doch mal den Hund zurück«, sagte Mütze und zog sein Handy hervor.
Das weiße Knäuel hatte damit begonnen, dem Toten das Gesicht sauber zu lecken. Eilig schnappte sich Karl-Dieter die Leine und zog den winselnden Hund ein Stück zur Seite.
Noch unwilliger als sonst trat Mütze in die Pedale, vorbei an einem Maisfeld, das zu einem Labyrinth gestaltet war. Seine Laune war im Keller. Hinter seinem Rücken lag ein Dorf, in dem ein grauenhafter Mord passiert war, ein Täter war zu ermitteln - und er sollte sich an Kuhweiden ergötzen? Zwar hatte ihm der nette Herr Kollege versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten, aber was half ihm das! Seinen Vorschlag, ihnen bei den Ermittlungen zur Hand zu gehen, hatte man dankend abgelehnt. Westliche Amtshilfe bräuchte man zum Glück schon seit einer geraumen Weile nicht mehr, hatte Treibel, so hieß der Kollege, hinzugefügt. Der Spott war nicht zu überhören gewesen. Rudi Treibel war ein Mann seines Alters, allerdings mit einer etwas gemütlicheren Figur. Sein Witz und seine wachen Augen verrieten den hellen Kopf. Wohlwollend hatte Treibel Mütze auf die Schulter geklopft, der Herr Kollege solle nur in aller Ruhe weiterradeln und die schöne Mark und seinen verdienten Urlaub genießen. - Urlaub genießen! War das für Mütze schon ein Widerspruch in sich, so erst recht in einer solchen Situation.
Auch Karl-Dieter fühlte sich elend, wenngleich aus gänzlich anderen Gründen. Mit bleichem Gesicht surrte er mechanisch vor sich hin. Der Anblick des Toten ging ihm nicht aus dem Kopf. Wie zerbrechlich das Leben doch war. Ein einziger Schlag, und es herrschte ewige Finsternis. Der Mann wird nichts gespürt haben, hatte Mütze trocken bemerkt. Als wenn das ein Trost wäre! Während Mütze mit den Kollegen diskutiert und auf die Spurensicherung gewartet hatte, hatte sich Karl-Dieter um sich abzulenken den Rest des alten Birnbaums angesehen, den Original-Ribbeck-auf-Ribbeck-Birnbaum, dessen Stumpf man, nachdem ihn ein Sturm gefällt hatte, in der alten Kirche aufbewahrte. Der alte Stamm hatte sich manches von seiner Würde bewahrt, Karl-Dieter aber hatte die Kirche dennoch schnell wieder verlassen. Nichts von der erhofften Stimmung hatte sich eingestellt. Dabei hatte er sich so auf Ribbeck und seinen Birnbaum gefreut! Unzählige Male hatte ihm Tante Dörte, die ihn wie eine...
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