KAPITEL 1
Jüdische Kindheit in Breslau
"Uns kann nichts passieren. Ich habe doch Deutschland im Weltkrieg gedient."
Adolf Ebstein, Vater von Alex Ebstein, Soldat im Ersten Weltkrieg, 1930er Jahre
Im Jahr 1892 verließen Wolf und Eva Gotthilf, Alex' Großeltern mütterlicherseits, ihre schlesische Heimat Oppeln[1] und wanderten in die USA aus. Sie reisten mit dem Schiff über Antwerpen nach Philadelphia. Zunächst fuhr der damals 32-jährige Wolf Gotthilf zu Verwandten in die USA, um erste Vorbereitungen zu treffen. Anschließend ließ er seine Frau mit den vier Kindern nach New York nachkommen.
Rachel Gotthilf, die spätere Ehefrau von Adolf Ebstein und Mutter von Alex, wurde während des mehrjährigen USA-Aufenthalts ihrer Familie am 26. März 1894 in Manhattan (New York) geboren und hatte die amerikanische Staatsangehörigkeit. Nach etwa zehn Jahren entschieden sich Wolf und Eva Gotthilf, mit ihren fünf Kindern nach Deutschland zurückzukehren.
Die Großeltern von Alex konnten nicht wissen, was auf Rachel und die künftige Familie ihrer Tochter zukommen würde. Sie selbst starben, bevor das NS-Regime an die Macht kam.[2]
"Es war eine schlechte Entscheidung, wieder nach Deutschland zurückzukehren."
Abb. 4: Schiffsregistrierung von Wolf Gotthilf, 8. August 1892 (Hervorhebung nicht im Original). An diesem Tag erreichte er Philadelphia, Pennsylvania, USA.
Abb. 5: Geburtsurkunde Nr. 14434 von Rachel Gotthilf, geboren am 26. März 1894 in New York, ausgestellt am 8. April 1894 vom Staat New York
Also ging es Anfang des neuen Jahrhunderts zurück nach Deutschland. Rachel war etwa zehn Jahre alt.[3] Als sie in die deutsche Schule wechselte, änderte ihr Schullehrer ihren Namen in Margarethe, weil, so meinte er, der (jüdische) Name Rachel nicht zu Deutschland passe.[4] Daraufhin wurde sie von vielen Gretel genannt.
Rachel wurde in Schlesien erwachsen und lernte Adolf Ebstein kennen und lieben, den sie dann 1919 heiratete. 1920 wurde eine Tochter geboren. Sie erhielt, der jüdischen Tradition folgend, den Namen ihrer Großmutter mütterlicherseits, Eva. 1926 kam Alexander, kurz Alex,[5] zur Welt, genannt nach dem Großvater väterlicherseits. Die Familie lebte in Breslau, einhundert Kilometer von Oppeln entfernt. Die geschichtlich, kulturell und wirtschaftlich bedeutende Metropole Niederschlesiens zählte damals mit mehr als 400.000 Einwohnern zu den größten Städten Deutschlands.[6]
Alex erinnerte sich gern an seine schönen und friedlichen Kindertage in seiner Heimatstadt Breslau. Doch erwachsen werden sollte er dort nicht.
Jüdisches Leben in Alex' Heimatstadt Breslau
Jüdisches Leben hatte sich in Breslau bereits im Mittelalter entwickelt. 1933 besaß die schlesische Stadt mit 24.433 jüdischen Bürgerinnen und Bürgern die drittgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands. Vier Prozent der Einwohner Breslaus bekannten sich zum Judentum.[7] Im gesamten Deutschen Reich waren es dagegen nur 0,8 Prozent, das waren 520.000.[8] Das 1854 in Breslau gegründete Jüdisch-Theologische Seminar war die erste akademische Rabbinerausbildung und jüdische Religionslehrer-Ausbildung in Deutschland. Das Judentum war also in Breslau im Vergleich zu anderen deutschen Metropolen überdurchschnittlich vertreten. Jüdische Deutsche gehörten zum Bild der Stadt und waren Normalität.
Das war möglicherweise der Grund, warum Alex aus dieser Zeit keine antisemitischen Tendenzen bekannt waren. Bis zu seinen ersten Schuljahren konnte er auf eine normale und fröhliche Kindheit zurückblicken.
Elternhaus und Erziehung
Alex wurde 1932 im Alter von sechs Jahren eingeschult. Er kam in eine Gemeinschaftsschule für Kinder aus Familien, die anderen Konfessionen als der evangelischen oder der katholischen, den beiden in Breslau dominanten Religionsgemeinschaften, angehörten.
"In der Schule verspürte ich keinen Hass. Wir Juden wurden normal behandelt. Das änderte sich auch nicht, als Hitler 1933 an die Macht kam."
Alex erinnerte sich gern an seine Kindheit.
"Ich wuchs in einem sehr liebevollen Elternhaus auf. Fast jeden Abend, wenn mein Vater von der Arbeit nach Hause kam, hat er uns etwas mitgebracht, meistens Süßigkeiten. Am Wochenende gingen wir meistens ins Grüne hinaus."
Alex bezeichnete sein Elternhaus als jüdisch-liberal. Seine Eltern waren gläubige Juden, wobei sein Vater religiöser war als seine Mutter. Doch wurde nur selten über Religion gesprochen. Über seinen Religionsunterricht äußerte er sich mit den Worten:
"Im jüdischen Religionsunterricht haben wir nur Hebräisch lesen und schreiben gelernt, nichts darüber hinaus."
Infolgedessen erzogen die Ebsteins ihre beiden Kinder kaum religiös. Die Familie ging nur hin und wieder am Sabbat[9] und anlässlich hoher Feiertage in die Synagoge. Dort wurde hebräisch gesprochen und Alex verstand nur wenig, wie er sich später erinnerte.
Ein Bild und seine Geschichte
Die Aufnahme der Familie Ebstein (Abbildung 6)[10] stammt vom 8. November 1936 und hat ihre eigene Geschichte. Es ist ein familienhistorisch sehr bedeutendes Bild. Das Foto ist eine Zusammenstellung mehrerer Ausschnitte einer Aufnahme, die auf der Hochzeit von Sigismund Ebstein, einem Onkel von Alex, im ersten Stock eines Lokals gemacht wurde.[11] Daher ist auch das genaue Datum noch bekannt. Sigismund Ebstein heiratete in Breslau Charlotte Schrent. Die Trauung war zuvor in der jüdischen Synagoge von Breslau vorgenommen worden, als diese noch genutzt werden konnte.
Der in Südamerika lebende Bruder seiner Frau vermittelte den beiden ein Visum zur Auswanderung nach Paraguay. So konnten Sigismund und seine Frau noch vor dem Brand der Synagoge, zu einer Zeit als Juden die Auswanderung noch möglich war, Deutschland verlassen. Sie nahmen das Familienfoto mit.
Da es ihnen in Paraguay nicht gefiel, zogen sie nach kurzer Zeit nach Uruguay. Nach dem Krieg ließen sie sich dann in den USA nieder. Das Familienfoto reiste mit und zählte weiter zu ihren ganz besonderen Wertgegenständen. Jahre später fand das Foto seinen Weg zurück nach Deutschland. Sigismund schenkte es seinem Neffen Alex, als er ihn 1967 in Deutschland besuchte. Er war sich darüber im Klaren, welchen Wert das Foto für Alex haben würde, der nichts aus seinem Elternhaus hatte retten können.[12]
Alex wird von der öffentlichen Schule verwiesen
Ab etwa 1936 wurden auch Alex und seine Familie mit der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung konfrontiert, die sich nun auch in Breslau langsam bemerkbar machte.
"Die Diskriminierung der Juden begann langsam und in kleinen Schritten."
Abb. 6: Das Familienfoto: Eva, Alex, Adolf und Rachel Ebstein (von links nach rechts), 8. November 1936
1936, Alex war zehn Jahre alt, beauftragte ihn sein Vater, einen goldenen Familienring zu verkaufen, um dessen Wert vor den Nationalsozialisten zu schützen. Den Ring hatte schon der Großvater von Alex getragen. Die Familie trennte sich schweren Herzens von dem Erbstück und erhielt dafür den Goldpreis.
Im selben Jahr wurden alle jüdischen Schüler und Lehrer[13] von den Breslauer Schulen verwiesen, auch Alex war davon betroffen. Die Juden Breslaus richteten daraufhin eigene Schulen ein. Breslau lag in Preußen und war der preußischen Hauptstadt Berlin unterstellt. Eigene Schulen waren noch bis zum Polenfeldzug 1939 möglich, erinnerte sich Alex.[14]
Alex begegnet Adolf Hitler
1938 besuchte Adolf Hitler Breslau. Viele Menschen versammelten sich auf den Straßen, um den "Führer" zu sehen und zu bejubeln. Es hieß: "Kinder gehören nach vorne", weshalb auch der zwölfjährige Alex in die erste Reihe gestellt wurde. Aber er jubelte Hitler nicht zu.[15] Wegen seines familiären Umfeldes sah er in Hitler keine Glanzgestalt. Die Familie von Alex stand Hitler äußerst kritisch gegenüber. Obwohl Adolf Ebstein, der 1933 als jüdischer Deutscher noch wählen durfte, national eingestellt war, hatte er sein Kreuz bei der SPD gesetzt. Wie damals bei vielen Deutschen hing auch im Hause Ebstein ein Porträt des 1925 zum deutschen Reichspräsidenten gewählten Paul von Hindenburg, der allgemeine Sympathie und Anerkennung genoss.[16]
Verlust von Arbeit und Wohnung, Einführung des "Judenstempels"
1938, das Jahr, in dem die Breslauer Bevölkerung Adolf Hitler zujubelte, verschlechterte sich die Situation der jüdischen Bevölkerung weiter. So untersagte die "Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben" vom 12. November 1938 jüdischen Bewohnern unter anderem die selbstständige Führung von Betrieben.
Alex' Vater führte als gelernter Textilkaufmann einen erfolgreichen Betrieb, in dem Arbeitskleidung hergestellt wurde.[17] 1938 enteigneten die Nationalsozialisten den Betrieb, wodurch die Familie ihre wirtschaftliche Existenz...