KAPITEL 2
Courage als Kind
Ritas Vater Ludwig Glasner war im Münchner Ortsteil Denning aufgewachsen. Ritas Mutter Katharina zog nach ihrer Heirat nach Denning. Ihre gemeinsame Adresse war die Englschalkinger Straße 212. So verbrachte Rita ihre frühe Kindheit in diesem Stadtteil, wo sie auch noch eingeschult wurde. Die Schule befand sich ganz in der Nähe ihrer Wohnung, sodass Rita sie auch zu Fuß erreichen konnte.
VERLUST DER DENNINGER WOHNUNG
Erst durch das NS-Regime wurde Familie Glasner gewaltsam aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen, indem ihnen die Wohnung gekündigt wurde. Bereits während der Haft von Ludwig Glasner im Sommer 1937 und damit vor ihrer eigenen Haft erreichte Katharina Glasner die Kündigung. Ludwig Glasner war als Denninger im Ort bekannt. Die Nationalsozialisten fürchteten einen "zersetzenden" Einfluss der Familie auf die Bewohner von Denning. So musste sich die Familie nach Ablauf der Haftzeiten von Ludwig und Katharina Glasner im September 1937 eine neue Wohnung suchen, die sie an der Wasserburger Landstraße 266 im Münchner Ortsteil Waldtrudering[1] fand.
Das bedeutete für Rita und ihre Eltern neben dem Verlust des heimatlichen Umfeldes auch eine Verschlechterung der Wohnsituation. Für Rita war mit dem Umzug auch ein Wechsel der Schule verbunden. Nach dem Umzug besuchte sie die Schule an der Turnerstraße. Sie war damals in der zweiten Klasse. Die Wohnung an der Wasserburger Landstraße blieb für 13 Jahre die Adresse der Familie Glasner, bis in das Jahr 1950.
Abb. 9: Die elfjährige Rita Glasner mit ihrer Mutter (1941)
Rita nahm auch ihr Leben in Waldtrudering ab September 1937 von Anfang an als Zeit der Verfolgung wahr. Unter ihrer neuen Wohnung befand sich eine Gaststätte, deren Wirtin enge Kontakte zu Gestapo-Beamten pflegte, die oft das Lokal besuchten. Familie Glasner fühlte sich ständig von der Wirtin beobachtet. Zu Wohnungsdurchsuchungen durch die Gestapo kam es an der neuen Adresse jedoch über mehrere Jahre nicht mehr.
Treffen einer sogenannten Zelle fanden zu dieser Zeit in Waldtrudering nicht mehr statt. Bibelbesprechungen wurden nur noch im Familienkreis durchgeführt. An diesen Besprechungen nahm allerdings oft die zehn Gehminuten entfernt wohnende Zeugin Jehovas Lina Wilhelm teil, manchmal fanden diese auch bei ihr in der Niobestraße statt. Lina Wilhelm hatte zwei Töchter, Ritas neue Mitschülerinnen Ruth und Hildegard. Ruth bekannte sich nicht zu den Zeugen Jehovas. Auch nach dem Krieg nahm sie den Glauben der Gemeinschaft nicht an.
DIE SCHULE UND DER HITLERGRUSS
Rita konnte auch die Waldtruderinger Volksschule an der Turnerstraße (Ostmarkschule[2], später Turnerschule) bequem zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen. Die Schule wurde sehr streng nach NS-Maßstäben geführt. Der Rektor verlangte von ihr, mit "Heil Hitler" zu grüßen, was Rita jedoch ablehnte. Der Druck des Rektors hat sie sehr belastet, was dazu führte, dass sie sich morgens oft nicht wohl fühlte und manchmal sogar Fieber hatte. Es kam vor, dass sie zu Hause die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Und sie wurde im Laufe der Schuljahre häufig krank.
Ostmark-Medaille
Abb. 10: Turnerschule (Gebäude aus dem Jahre 1938, Aufnahme 2014)
"Die Zeiten in der Schule gehörten zu den schwierigsten Belastungen, die ich während der NS-Zeit erdulden musste.
Und sie dauerten jahrelang an. Es kam oft vor, dass ich mit dem Fahrrad zur Schule fuhr, aber dann unterwegs umdrehte und wieder nach Hause fuhr. Es fehlte mir die Kraft."
Rita erinnert sich, dass der Rektor, Herr Lex, sie fast jeden Tag von einem Fenster aus dem ersten Stock, wo sich sein Büro befand, beobachtete. Der Rektor passte sie dann im Treppenhaus zum Hitlergruß ab. Immer wieder wurde sie in das Büro von Herrn Lex zitiert und dort heftig beschimpft. Manchmal gelang es Rita aber auch, im Schutz einer Gruppe von Mitschülern in das Schulgebäude zu gelangen, ohne vom Rektor wahrgenommen zu werden. Im Klassenraum, der sich im zweiten Stock des Schulgebäudes befand, wurde dann von den Schülern nochmals erwartet, mit "Heil Hitler" zu grüßen. Doch Rita lehnte das dort ebenso ab, was für sie weitere Schwierigkeiten mit sich brachte.
Hitlergruß
Ritas Lehrerin sprach aus diesem Grund einmal Ritas Mutter Katharina Glasner an, doch diese reagierte mit den Worten: "Das muss meine Tochter selbst entscheiden."
Lebhaft erinnert sich Rita noch an die Drohungen des Schulrektors:
"Der Schulrektor sagte: Wenn du nicht 'Heil Hitler' sagst, dann sorge ich dafür, dass deine Eltern ins Gefängnis kommen."
Rita wusste, was das bedeuten würde. Sie hatte bereits erleben müssen, wie ihre Eltern inhaftiert wurden und wie ihr Vater von der Gestapo misshandelt worden war. Und obwohl der Rektor sie nicht bei der Gestapo anzeigte, hatte die achtjährige Rita Angst. Jeden Tag wurde sie aufs Neue mit dieser Situation konfrontiert.
Der Schulalltag entspannte sich erst in der fünften und sechsten Klasse mit einer neuen Lehrerin. Diese tolerierte Ritas Haltung und übte keinen Druck auf sie aus.
MIT DEM ERNEUTEN SCHULWECHSEL BEGANNEN WIEDER SCHWIERIGKEITEN
Rita besuchte die Turnerschule bis Sommer 1943. Zu dieser Zeit, als Rita in der siebten Klasse war, wurden die Münchner Schülerinnen und Schüler zum Schutz vor alliierten Luftangriffen aufs Land evakuiert. Man nannte das Schullandverschickung. Die Kinder, die in München blieben, wurden zusammengefasst und besuchten ab September eine Gemeinschaftsschule am Herkomer Platz in München-Bogenhausen.[3]
Auch Rita besuchte diese Schule. Mit der Begründung, dass sie als Näherin dringend die Unterstützung ihrer Tochter benötige, hatte Katharina Glasner durchgesetzt, dass Rita bei ihr bleiben konnte. Katharina Glasner stellte in Heimarbeit Anoraks her und Rita half ihr dabei, indem sie Knöpfe annähte. So konnte Rita bei ihrer Mutter bleiben.
Ritas neue Schule war zu weit entfernt - etwa zehn Kilometer - um sie zu Fuß oder mit dem Rad zu erreichen. Deshalb fuhr Rita nun jeden Tag mit dem Omnibus zur Schule. In der neuen Schule erlebte Rita wieder zunehmend Diskriminierung und Ausgrenzung.
"Ich wurde jeden Tag heruntergesetzt. Jeden Tag wurde gesagt, wie schlecht ich wäre, weil ich ja unseren Führer nicht anerkenne und nicht [mit Heil Hitler] grüße."
Abb. 11: Die 1914 erbaute Schule am Herkomer Platz, heute Gebeleschule (Aufnahme 2014)
Hinzu kamen die Probleme, die ihr einige Mitschülerinnen machten. Eine Schulkameradin war durch ihr Elternhaus sehr nationalsozialistisch geprägt. Ihren Vater bekam man nur in SA-Uniform zu sehen. Diese Mitschülerin suchte nach Gründen, Rita Schwierigkeiten zu bereiten. Sie forderte sogar andere Schüler auf, Anklagepunkte gegen Rita zu sammeln. Gleichzeitig erlebte Rita aber auch unerwartete Solidarität, als ihr eine Schulkameradin mehrfach zu Hilfe kam. Rita besuchte die Schule am Herkomer Platz bis zum Ende des Krieges.
Die Brisanz der Lage, in der sich Rita befand, zeigen Erfahrungen anderer Kinder von Zeugen Jehovas. Detlef Garbe schildert einen Fall, der zu einem obergerichtlichen NS-Grundsatzurteil führte. Der Rektor einer Volksschule in Alfdorf (Nähe Schwäbisch Gmünd) setzte sich dafür ein, den Eltern von zwei seiner Schülerinnen das Sorgerecht zu entziehen. Er hatte sich daran gestört, dass die beiden Mädchen beharrlich den Hitlergruß verweigerten. Das Urteil der Revisionsverhandlung vor dem Oberlandesgericht München vom 3. Dezember 1937 gründete sich auf folgende Feststellungen: Die beiden Kinder hatten nicht an der Feier des Tages der nationalen Arbeit teilgenommen. Sie hatten die Erweisung des Hitlergrußes, das Singen des Horst-Wessel-Liedes (Parteihymne der NSDAP) und im Kunstunterricht das Zeichnen der Hakenkreuzfahne verweigert. Eines der Mädchen hatte darüber hinaus ausdrücklich erklärt, sie stehe nicht hinter Hitler. Das Gericht stellte fest, "daß die beiden Kinder infolgedessen im Elternhaus der Gefahr der sittlichen Verwahrlosung ausgesetzt sind."[4] Den Eltern wurde das Sorgerecht entzogen; die Kinder kamen zunächst in eine NS-Pflegefamilie, später in ein Kinderheim.
KURIERDIENSTE VERBOTENER SCHRIFTEN
Die Schriften der Zeugen Jehovas mussten wegen des Verbots aus dem Ausland ins Deutsche Reich geschmuggelt werden. In München gab es mehrere Orte, an denen die Zeitschrift "Der Wachtturm" und andere illegale Schriften der Zeugen Jehovas mithilfe eines Abziehapparats vervielfältigt wurden. Kuriere übernahmen dann die gefährliche Aufgabe, die Zeitschriften an andere Zeugen Jehovas zu verteilen.
"Der Wachtturm"
15. Juni 1933
"Meine Mutter war viel fort. Und weil es so gefährlich war, über Informationen zu verfügen, sagte sie mir nicht, wohin sie ging. Mir war allerdings bekannt, dass sie zum Beispiel oft als Kurierin mit dem Zug nach Rosenheim fuhr, um biblische Schriften dorthin zu bringen."
Auch Rita stellte sich für...