Schweitzer Fachinformationen
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Vom Hafen dröhnt das Rollen der Wellen herauf. Am Himmel türmen sich riesige Gebirge aus Kumuluswolken. Aase Stræde presst die kleinen Kronenstücke fest in ihrer rechten Faust. Das blonde Mädchen spürt auf ihrer Handfläche die runden Löcher in der Mitte der Münzen und hastet über den Sandweg an den geduckten Fischerhäusern vorbei, die sich dicht an dicht zu beiden Seiten der schmalen Schotterstraße reihen. Alle Haustüren und Fenster stehen weit offen. Die dunklen Rechtecke in den weißgekalkten Wänden wirken bedrohlich, Monsteraugen mit flackernden Petroleumpupillen, die Aase unheilvoll hinterherschauen. Ihre Schritte werden schneller, sie heftet ihren Blick ängstlich auf die unebene Erde und summt leise gegen die Angst an. Auf den Hügeln von Hansted geht etwas vor, das weiß Aase ganz genau, denn der heutige Tag ist anders als die Tage der letzten Wochen. Schon gestern hatte der Lehrer der Klasse schulfrei gegeben, für den ganzen morgigen Donnerstag. Wegen der Kanonen, hatte er gesagt und keinerlei Fragen zugelassen.
»Die Deutschen wollen morgen mit den Kanonen schießen.« Die Worte sagte die Mutter beim Zubettgehen. Sie sind am frühen Morgen wieder in Aases Kopf, gleich nachdem sie die Augen aufgeschlagen hatte.
Heute schießen sie mit den Kanonen, heute schießen sie mit den Kanonen, hat sie immer wieder gedacht und ängstlich auf die Lichtstreifen an der Wand gestarrt, die durch einen Schlitz im Vorhang fielen. Sie hat durch die Tür gehört, wie der Vater und ihr großer Bruder in der Küche mit der Mutter sprachen. Es war schon hell und sie waren noch im Haus. Normalerweise waren sie mit dem Kutter schon auf dem Meer, lange bevor Aase aufwachte.
Als sie die Vorhänge aufgezogen hatte, war eine Schar deutscher Soldaten in schilfgrünen Uniformen am Fenster vorbeimarschiert. Aase beobachtete die Deutschen vom Fenster aus, wie sie seitwärts den Hang hinauf zu den Häusern am Hügelrand stapften, dann dort oben von Tür zu Tür gingen und kurze Zeit später die Bewohner ihre Wohnungen Hals über Kopf verließen. Mit Koffern und Pappkartons beladen zog eine Menschenlinie in Richtung Dorfmitte. Das Mädchen konnte erkennen, dass sie beim Weggehen alle Türen und Fenster offenließen. Als sie panisch in die Küche stürmte und ihren Vater danach fragen wollte, erntete sie nur einen versteinerten Blick. Mutter legte blitzschnell den Finger an den Mund, schob sie vor sich her zur Haustür und flüsterte: »Dein Vater und dein Bruder dürfen nicht zum Fischen rausfahren ., heute. Die Deutschen haben es verboten.«
Danach hat die Mutter ihr die Kronen und den Auftrag gegeben, in den Kaufmannsladen von Jørgen Rosen zu gehen und ein grobes Vollkornbrot und ein kleines Stück Bratfett mitzubringen.
Beim Verlassen des Hauses hatte ihre Mutter die Haustür hinter ihr offen gelassen. Aase ist schon ein paar Meter gegangen, da hat sie gehört wie auch die Fenster geöffnet wurden. In den Häusern in der nächsten Gasse sind ebenfalls alle Türen und Fenster geöffnet.
Jetzt sieht das Mädchen, dass es überall genauso ist. Im ganzen Fischerdorf, egal wo Aase entlangkommt, sind die Türen und Fenster in den Häusern sperrangelweit offen.
Wollen die Deutschen in die Wohnungen gucken?
Wohin wollen sie mit den Kanonen schießen?
Müssen wir alle sterben?
Aase ist erleichtert, als sie auf dem Dorfplatz gegenüber von Jørgen Rosens Laden mehrere deutsche Militärlastwagen stehen sieht, um die herum eine Schar Soldaten lungert und Zigaretten raucht.
Hierher werden die Kanonen bestimmt nicht schießen!
In einer langen Reihe liegen Tornister und Stahlhelme am Boden, dazwischen jeweils drei Gewehre, die mit den Läufen aneinandergestellt sind. Aus einiger Entfernung beobachten Anwohner argwöhnisch die Ansammlung der Deutschen. Die meisten dänischen Männer haben die Hände in den Hosentaschen, starren wortlos auf die unbeliebten Besatzer, und ab und zu spuckt einer vor ihnen aus. Aase drückt sich vorsichtig an den Leuten vorbei und stößt die Tür zum Kaufmannsladen auf. Die Türglocke scheppert hell durch den Raum.
»Die Tür offenlassen, Mädchen! Wer hat die denn schon wieder zugemacht«, ruft der Mann mit der blauen Schürze hinter dem hölzernen Verkaufstresen herüber. Herr Rosen hat einen kleinen Bauch und eine rötliche Narbe auf seiner Glatze. Aase mag Herrn Rosen nicht besonders, denn der war öfter unfreundlich zu ihr, besonders wenn Mutter ihr aufgetragen hatte, anschreiben zu lassen.
Unter den Frauen, die sich im Laden drängen, wird rege getuschelt. Im Gegensatz dazu sagt Herr Rosen kein Wort, füllt in aller Ruhe Kartoffeln mit einer Holzschaufel in eine Blechschüssel, die auf einer Waage steht. Aase bleibt etwas abseits, stellt sich regungslos neben einen Sack mit Mehl in den Eingangsbereich.
»Was ist bloß wieder los da draußen, Herr Rosen?«, fragt Frau Mølby fast flüsternd, während sie die Kartoffeln in ihren Korb geschüttet bekommt. »Die Grünen benehmen sich seit Tagen wie aufgescheuchte Hühner!«
Aase grüßt Frau Mølby mit einem artigen Kopfnicken. Frau Mølby wohnt im Nebenhaus und ist die Mutter ihrer besten Freundin Damaris. Sie spitzt die Ohren, ist immer neugierig auf das, was die Erwachsenen miteinander zu reden haben.
»Ich glaube, die wollen uns nur Angst machen, Frau Mølby, damit es keinen Tumult im Dorf gibt«, flüstert der Kaufmann. »Ich habe gehört, dass oben in der Festung alles weiträumig abgesperrt ist. Man behauptet, die Kanonen erzeugen einen gewaltigen Druck, und unsere Häuser könnten einstürzen, wenn sie die ersten Probeschüsse abfeuern. Deswegen haben sie befohlen, dass alle Türen und Fenster offenbleiben müssen.«
»Das ist aber alles übertrieben!«, mischt sich eine Frau dazwischen, die direkt neben Frau Mølby steht. Sie wischt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickt mit kaltem Misstrauen durch ihre runden Brillengläser. »Das hat . mein Mann hat das gesagt. Das Ganze ist dummes Gerede!«
»Was weiß denn Ihr Mann. Woher will der das denn wissen?«, hält eine dritte Kundin dagegen. Sie ist etwas kleiner als die anderen Frauen, trägt einen aufwendig geflochtenen Haarkranz und verschränkt provokativ ihre Hände vor einer Häkelstola, die sie locker über ihre Schultern gelegt hat. »Das sind richtige Schiffskanonen, Spezialanfertigungen, die Deutschen benutzen die normalerweise nur für ihre ganz großen Schlachtschiffe. Riesengroß sind die, länger als zwei Häuser!«
Die Frauen stöhnen hörbar auf und werfen ihr verächtliche Blicke zu. Die kleine Person lässt das unbeeindruckt. Sie gehört nicht zu den derben Fischerfrauen, trägt feinere Kleidung.
»Na, die Dame ist wieder bestens informiert«, giftet Frau Mølby in die bleierne Stimmung. »Haben die Deutschen Ihnen das erzählt? Die Spatzen pfeifen es bereits vom Dach, dass Sie mit denen ja ziemlich gut zurechtkommen, oder?«
Wie auf Kommando rücken die Frauen kollektiv von ihr ab, schießen spitze Pfeile aus halbgeschlossenen Augen.
»Ich hab mit den Deutschen nichts zu tun!«, antwortet der Haarkranz mit beleidigtem Unterton. »Mein Mann ist doch nur Bahnbeamter. Er arbeitet in Thisted und er . er war zufällig dabei, als die Kanonenrohre ankamen . aus Deutschland.«
»Es stimmt schon, was Frau Kristensen sagt. Diese Kanonenrohre sind wirklich ziemlich groß«, bestätigt Herr Rosen. »Ich habe selbst eine gesehen. Vier Stück wurden auf den Hügel gebracht, habe ich gehört, nach und nach, mehrere Tage lang. Und alle diese Ungetüme wurden auf einem riesigen Gefährt heran gekarrt.«
»Einem Blockwagen mit 24 Rädern«, wirft die Eisenbahnergattin ein und erntet erneut verächtliche Blicke. »Die wurden mit einem großen Kran in Thisted verladen.«
»Mindestens 100 Tonnen müssten die wiegen, habe ich gehört«, sagt Herr Rosen.
»110 Tonnen! Jedes Geschütz wiegt 110 Tonnen!«, ergänzt der Haarkranz.
»Und seitdem die dort oben in unseren Dünen stehen, kommen immer mehr Deutsche hierher«, klagt Herr Rosen, ohne auf die Beamtenfrau einzugehen. »Erst Anfang des Monats sollen über 200 neue Soldaten gekommen sein, habe ich gehört, und das werden nicht die letzten .«
Dem Kaufmann bleibt der Satz im Hals stecken. Ein hochgewachsener Mann ist in den Raum getreten. Er steht mit seinen breiten Schultern wie ein Riese neben der kleinen Aase. Das jugendliche Gesicht ist kantig und hat scharfe Züge, sein blondes Haar ist glatt zurückgekämmt und legt seine hohen Schläfen frei. Rechts auf seiner breiten Brust droht ein goldgelber Adler mit dem Hakenkreuz. Auf den linken Ärmel der Uniform ist ein rundes, blaues Abzeichen genäht, darauf eine goldgelbe Granate mit Flügeln. Nach dem unerwarteten Auftritt des Soldaten ist es schlagartig still geworden. Doch die Frauen, die wie versteinert wirken, tauschen hinter seinem Rücken heimliche Blicke aus. In kürzester Zeit hat eine nach der anderen, ohne ein Wort zu sprechen, den Laden verlassen. Aase weiß einen Moment lang nicht, was sie machen soll. Sie schaut verlegen zu dem Mann hinauf, starrt auf seinen ziemlich großen Adamsapfel. Er lächelt sie an, hat dabei ein leichtes Zucken um den Mundwinkel, ihre Blicke verhaken sich, und das Mädchen schlägt schamhaft die Augen nieder.
»Das ist der Feind! Du darfst nicht hier sein«, spricht eine mahnende Stimme. Das Mädchen stürmt Hals über Kopf zur offenen Tür hinaus.
»Ein guter Däne steht nicht mit dem Feind in einem Raum«, hat der Vater einmal beim Abendbrot gesagt.
Erst an der nächsten Ecke bleibt Aase stehen. Sie sieht das Gesicht des...
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