Schweitzer Fachinformationen
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Die schmalen grauen Häuser drängten sich aneinander. Kleine Fenster sahen auf die Bucht. Wie viele Frauen hatten dort vergeblich auf die Rückkehr ihrer Männer gewartet? Wie jeder Insulaner kannte Arline die alten Geschichten der Walfänger. In einem der kleinen Häuser war sie aufgewachsen, und eins der bunten Schiffe war die Colina. Sie stieß sich von der Reling ab, schulterte ihren Rucksack und spürte das Stampfen des Schiffsmotors. Nachdem das Anlegemanöver beendet war, verließ sie das Fährschiff mit den übrigen Passagieren.
Zu Weihnachten war sie zum letzten Mal hier gewesen. Schnee hatte auf den Dächern gelegen. Und ihr Vater hatte in seinem alten dunkelblauen Wollmantel an der Mauer gelehnt und auf sie gewartet. Den Kragen aufgeschlagen, die Mütze tief über die Ohren gezogen, war er auf sie zugestapft und hatte sie an sich gedrückt. »Gut, dass du da bist«, hatte er gesagt. Er war nie ein Mann vieler Worte gewesen.
Arline schluckte und spürte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Der Wind fegte in die Bucht und jagte ihr einen Schauer über die Haut. Sie nahm den Rucksack von den Schultern und hockte sich auf einen Poller. Es roch nach Diesel, Seetang und Fisch. Die Menschen gingen an ihr vorbei, die Urlauber lachten, unterhielten sich, andere wollten einfach nur nach Hause. Wie sie selbst. Sie war hier aufgewachsen. Jedes Haus, die engen Gassen, die Pubs und Cafés, die Wanderwege, die Fischerboote, alles war ihr vertraut. Sie hielt nach dem Boot ihres Vaters Ausschau.
Die Colina war rot und blau gestrichen und lag an einer der Anlegestellen vor Anker. Inmitten der bunten Boote der Creel-Fischer, wie die Krebsfischer auch genannt wurden, schaukelte die Colina auf dem kabbeligen Wasser. Alles schien wie immer. Und doch war alles anders. Ihr Vater war tot. Plötzlicher Herztod, ein Unfall. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Mit einundsechzig war man heute nicht alt, und ihr Vater hatte nie über irgendwelche Beschwerden geklagt.
Jeden Tag war er mit seinem Schiff ausgelaufen, um die Fangkörbe zu kontrollieren, die er an den Tagen zuvor ausgelegt hatte. Die roten Bojen wippten auf dem Meer und markierten das Ende einer Korbreihe, die tief auf dem Grund lag. Arline war oft genug mitgefahren, um zu wissen, wie man Hummer und Taschenkrebse fing. Sie wischte sich über die Augen und holte ein Taschentuch hervor.
»Arli!«
Die Stimme ihrer Tante Imogen riss sie aus ihren Gedanken.
»Tante Mogs!« Arline stand auf und umarmte die um einen Kopf kleinere Tante.
Für einen Maitag war es nicht kalt, doch an den Wind musste man sich gewöhnen. Imogen trug eine Strickjacke über ihrem dunklen Kleid. Sie roch nach Lavendelseife und Kuchen.
Arline weinte, und Imogen strich ihr tröstend über den Rücken. »Meine arme Kleine. Es kam so überraschend. Keiner konnte sich vorstellen, dass dein Vater . Ach, so ein Unglück.«
»Wo ist er, Mogs? Ich will ihn sehen«, schniefte Arline und schnäuzte sich die Nase. Wenigstens das. Ihre Tante hatte sie sofort benachrichtigt, und Arline war am Tag darauf losgefahren.
Ihre Tante strich ihr liebevoll die langen dunkelbraunen Haare aus der Stirn. »Beim Bestatter. Du bist das Ebenbild deiner Mutter, Arli. Komm, ich habe dir unser Gästezimmer hergerichtet.«
Arline schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte meinen Vater sehen.«
Seufzend erwiderte Imogen: »Na gut. Scollie & Sons liegt auf dem Weg zu uns.«
»Danke, aber ich werde nicht bei dir bleiben.« Arline packte ihren Rucksack. »Ich werde in meinem Elternhaus wohnen.«
»Arline, nein, das ist nicht gut. Du kannst doch nicht ganz allein in dem alten Haus sein. Es ist kalt, und alles ist so, wie Thomas es verlassen hat, bevor er am Hafen .« Imogen rang die Hände. »Mach es dir nicht unnötig schwer. Ich habe gekocht und gebacken, alle freuen sich, dich zu sehen.«
Genau das wollte Arline nicht, Gesellschaft. »Wann ist die Beerdigung?«
»Morgen früh. Am Nachmittag hast du einen Termin beim Notar. Ich begleite dich, wenn du das möchtest.« Imogen MacConnachie kümmerte sich gern um ihre Mitmenschen. Sie kümmerte sich, auch wenn man es nicht wollte.
Früher hatte sich Arline oft von der Fürsorglichkeit ihrer Tante erdrückt gefühlt, auch wenn sie nachvollziehen konnte, dass Imogen in ihr auch die verstorbene Schwester sah. Ihre Mutter war gestorben, als Arline fünf Jahre alt gewesen war, und sie erinnerte sich kaum an sie.
Sie gingen den leicht ansteigenden Pier hinauf zur Victoria Street. Die Lebensader von Stromness zog sich am Meer entlang, ging im Norden in die John Street über und im Süden in die Dundas Street. Dort lag ihr Elternhaus. Arline hob den Blick zu dem grauen Hügel, der über der Stadt thronte. Brinkie's Brae war als Aussichtspunkt bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebt. Als Jugendliche hatten sie sich abends dort oben getroffen, Bier getrunken und wilde Pläne für die Zukunft geschmiedet. Die meisten ihrer Schulfreunde allerdings waren nicht von den Inseln weggekommen.
Arline betrachtete das modern anmutende Pier Arts Centre und die wie an einer Schnur aufgezogenen Häuser der Victoria Street. Viele Fassaden waren neu gestrichen, Reklameschilder wiesen auf Shops und Restaurants hin. Der Tourismus spülte Geld auf die Inseln.
»Da vorn ist es«, sagte Imogen. Ihre Tante humpelte ein wenig, dachte Arline. Wie alt war sie? Über sechzig? Sie war älter als ihre Mutter gewesen. Das graue Haar trug sie kurz geschnitten, und sie verzichtete auf Make-up.
Vor einem grauen Steinhaus blieben sie stehen. Nur ein grünes Schild mit goldener Schrift verriet, dass man sich hier mit den Toten befasste. Arline berührte den Arm der Tante.
»Lass mich allein hineingehen.« Bittend sah sie die Ältere an.
Imogen zögerte, trat dann jedoch zurück. »Geh nur. Du weißt ja, wo du uns findest. Und komm heute Abend zu uns zum Essen. Versprich es mir, ja?«
»Vielleicht. Ich kann dir nichts versprechen, Mogs.« Arline gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und stieß entschlossen die Tür des Bestattungsinstitutes auf.
Ein Mann in dunklem Anzug, mit Glatze und einer von professionellem Mitgefühl triefenden Miene begrüßte sie und stellte sich als Martin Scollie vor. Als er ihren Namen hörte, geleitete er sie in einen winzigen Raum, der gerade Platz für einen Sarg hatte. Der unangenehme Geruch von Duftkerzen schnürte ihr die Kehle zu.
»Soll ich Musik anmachen? Für manche Hinterbliebene ist es tröstlich, wenn .«
»Nein.« Mit weichen Knien näherte sich Arline dem Sarg, dessen oberes Drittel nun von Mr Scollie aufgeklappt wurde.
Arline presste sich die Hand vor den Mund, als sie ihren Vater - oder vielmehr seinen Körper - sah. Was da vor ihr lag, waren Haut und Knochen, aber nicht mehr ihr Vater. Der Tod war nicht friedlich, wie immer behauptet wurde. Der Tod war endlich, bitter, traurig und erschreckend.
»Wir haben uns große Mühe gegeben, ihn für Sie herzurichten, Ms Nicolson. Damit er dem Bild entspricht, das Sie von ihm haben. Am Abend vor seinem Tod ist er noch im Pub aufgetreten.« Der Bestatter stand in der Tür und plauderte, als wäre das hier normal. Nun, für ihn war es das wohl.
»Was ist das hier? Eine Verletzung? Mein Vater hatte keine Narben am Kopf.« Arline wischte sich die Augen und schluckte mehrfach. An der Schläfe ihres Vaters bemerkte sie eine kleine Erhebung.
Scollie kam zu ihr und beugte sich über den Toten. »Äh, ach so, ja. Ihr Vater ist gestürzt. Nach dem Infarkt. Dabei muss er sich den Kopf aufgeschlagen haben.«
»Wo ist er gestürzt?«, fragte sie, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn des Toten und zuckte zurück. »Kalt .«, flüsterte sie rau.
»Am Hafen. Er hat mit seiner Band im Pub des Stromness Hotels gespielt. Irgendwann im Laufe der Nacht ist er dann wohl nach draußen gegangen, und da ist es passiert. Tragisch, wirklich tragisch.« Scollie seufzte hörbar. »So etwas kann jedem passieren. Vielleicht ist es nicht einmal der schlechteste Abgang. Verzeihung.«
Arline warf dem Bestatter einen vorwurfsvollen Blick zu. »Lassen Sie mich allein, bitte.«
»Natürlich.« Scollie verschwand.
»Du hättest doch etwas merken müssen, Dad«, flüsterte Arline. »Warum bist du nicht zum Arzt gegangen? Ich hatte mich so darauf gefreut, mit euch auf dem Festival zu singen. Und was ist mit den Geschichten über Mum, die du mir noch erzählen wolltest?« Arline schluchzte. »Ich liebe dich, Dad. Verdammt, das ist nicht fair.«
Ihr wurde übel und schwindelig, und sie wollte nur noch weg von hier. Arline wandte sich ab und verließ die engen, stickigen Räume. Auf der Straße holte sie tief Luft, vergewisserte sich, dass sie den Haustürschlüssel bei sich hatte, und schlug den Weg zur Dundas Street ein. Als sie vor ihrem Elternhaus stand, ging sie zuerst hinunter zum Wasser. Die alten Fischerhäuser hatten fast alle einen eigenen Anleger.
Die Colina schaukelte gemächlich auf dem Wasser. Arline stellte den Rucksack an die kleine Mauer, die die winzige Terrasse vom Anleger abgrenzte, und ging zum Schiff. Auf dem Anleger waren die Hummerkörbe sorgsam gestapelt. Der Schuppen mit den Gerätschaften ihres Vaters hatte einen neuen Anstrich erhalten. Der Plastikstuhl, auf dem er immer gesessen hatte, stand davor. Die Signalbojen waren in mehreren Kisten nach Farben sortiert. Rote und gelbe.
»Was mache ich nur mit dir?«, murmelte Arline und fuhr über...
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