Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Bald bricht der Schmelz durch mein Zahnfleisch. Wo es vorher nur weiche Haut gab, bewaffnen mich nun Zähne. Kaum sind sie da, wollen meine Schneidezähne die Beschaffenheit der Gegenstände erkunden, und meine Zunge ihren Geschmack. Im Oktober zerbeiße ich alles, was man mir gibt und was ich finde; mein ganzes Wollen konzentriert sich auf die Bewegung von der Hand zum Mund. Ich verschlinge: Brotlaibe, Honig, Wein, Eier, tote Fliegen, Käse, Tonerde, Apfelbeeren, Preiselbeeren, Holunder und Heckenkirschen, Erde, Wurzeln, Humus, Rinde, Schnüre, Staub, Lachs, Borstenwild, Körperausscheidungen und essbare Vögel.
»Sie schlingt ja«, sagt eine Stimme meiner Mutter.
»Sie wächst doch«, antwortet eine andere.
Einige weisen mich an, Spinnen und Blätter nicht hinunterzuschlucken, andere erwidern: »Lass sie ihren Kopf haben, sie wächst mit dem Mund.«
In dem Moment des Durchbruchs, als ich aufhöre, an ihren Fingern zu nuckeln, beginnt meine Mutter, sich zu teilen. Die Zähnchen verleihen mir eine neue Macht: Sie schneiden und zerlegen und mit ihnen spalte ich meine Erzeugerin in mehrere, eigenständige Figuren auf. Mit einem Mal vervielfältigt sie sich, ich habe viele Eltern und eine jede hat ihre Bewegungen, ihre Anweisungen, ihre Legenden und ihre schwankenden Stimmungen.
Indem ich allmählich Zugang zur gesprochenen Sprache gewinne, fasse ich sie in Gruppen zusammen. Einige von ihnen wenden sich an einen Vorfahren weit oben im Himmel, sie murmeln mehrmals am Tag »Vater Unser«, knien sich mit gefalteten Händen hin und richten ihre Augen zur Decke. Sie singen ihre Bitten, und ihre Stimmen steigen den Glockenturm hinauf und erreichen das väterliche Ohr. Die anderen unterhalten sich mit einer Mutter in unmittelbarer Nähe, die sie »Kybele« oder »Gaia« oder »Mari« oder »Ina Maka« nennen. Das Bitte und Danke, das sie ihr schicken, liegt in ihren Handflächen: um Baumstämme gewundene Blumengirlanden, auf die Felsen niedergelegte Gebeine von Feldmäusen, Brotkrumen, Flechtzöpfe oder unter den Wurzeln vergrabene Kieselsteine und mit Schlick vermengtes Frauenblut.
Ohne es zu wollen, offenbaren sie mir meine Abstammung. Ich bin drei Jahre alt, mein Großvater hat blaue Arme und ich weiß, dass seine Launen die Form der Wolken bestimmen. Er umhüllt den fruchtbaren, üppigen Körper von Nunak, meiner grün geflankten Großmutter mit ihren bergigen Hängen und dem wallenden, flüssigen Haar.
Ob meine Mütter nun diesen oder jenen Ahnen bevorzugen - ich habe sie alle gleich lieb. Wen ich allerdings um eine Brioche anbetteln, mit wem ich in den Fluss springen oder wie ein Wiesel die Bäume hinaufklettern und mich von Ast zu Ast schwingen kann, lerne ich, je älter ich werde. Meine Mutter Ondine erzählt mit ihrer heiseren Stimme schöne Legenden; meine Mutter Lénie kennt alle Insekten beim Namen; meine Mutter Nigel bestimmt Vögel anhand der Farbe ihrer Eier; meine Mutter Mélianne kann die Menschheitsgeschichte auf einen Karton zeichnen; und mit meiner Mutter May lerne ich, mich geschmeidig zu bewegen, mit Hüftschwung und fluidem Rumpf.
Ich wachse, breite mich aus, bekomme langgestreckte, kräftige Muskeln; ich werde riesengroß und ich werde schnell.
Sobald meine Beine mich weit genug tragen, gehe ich durch den Wald bis zur Kohlemine und wieder zurück, ohne zwischen dem Volk der Olbak, das im Herbst aus dem Norden herunterkommt, und den Bergleuten der Kohle Co. zu unterscheiden. Im Winter folge ich den Kindern der Nomaden, die ins Eis treten, es erzittern lassen und Wurzeln ausgraben. Im Sommer springe ich von Kluft zu Kluft im Takt der Keilhauen, zum Krachen der Steine und zum Einstürzen der Felsen. Und wenn die Waldmenschen ihre Jungen zusammentrommeln und die Arbeiter den schwarzen Staub abwischen, der ihren Kleinen im Gesicht klebt, gehe ich zwischen beiden hindurch und lege mich zum Schlafen an die behagliche Haut meiner Mütter, jeden Abend in ein anderes Bett. Ich teile mir die warmen Bäuche von Sainte-Sainte-Anne mit dem alten Hund.
Ich gliedere die Welt in Schwarz, Braun und Rostrot. Schwarz die Bergleute, braun die Olbaks, rostrot alle anderen, die an Kopf oder Körper kupferfarben sind und schmutzig wie der Klosterturm. Die reinen Farben der Säugetiere verschmutzen auf Menschenhaut. So bei mir: Ich habe kein Fell, bloß Flaum wie der eines neugeborenen Vogels, wie Felsenmoos. Ich bin fünf Jahre alt und meine Haut, von den Seiten bis zur Stirn, von den Schenkeln bis zum Schambein, ist eine dünne Rinde, die unter dem Kinderhaar bedeckt ist mit Kohle, Flecken und Blasen, mit weißen Narben von alten Stichen, neuen Bissen von Stechmücken. Ich weigere mich, mein Schopfdickicht schneiden zu lassen: Ich nehme darin Bienen und Blätter, abgebrochene Zweige, Disteln und Raupen auf, die mir in den Weg gefallen sind. Ich bin braun, rostfarben und schwarz, Tochter des Waldes, der Mine, der vierundzwanzig Bäuche meiner Mutter, und meines Stammesvaters.
Das allererste Mal, dass ich das Weiße entdecke, höre ich es, noch bevor ich es sehe. Ein vorbeiziehender Krach, Schritte, die den Farn zertrampeln, ein Körper, der Vögel, Eichhörnchen und Feldmäuse in Alarm versetzt.
Ich bin in der Nähe eines Wasserfalls am Spielen. Ich sage »mein Liebling« zum Filet-aux-Truites-Fall und zum dicken Felsen im Geröll, ich paare mich mit Birken, reibe mich an der Rinde, sage »amiq ononhouoyse«, verspreche den Tannen wilde Babys, gehe weg und komme zurück, beuge mich über die Äste und flüstere, die Hände kegelförmig um meine Lippen gelegt, gegen den Stamm: »Jetzt werden sie geboren.« Ich hole Blattstücke und Knospen aus meinen Unterhosen, sage: »Unsere Nachkommen, Abazi, mein Liebling, schau zu, wie ich unsere Kinder gebäre.« So wie meine Mütter mit mir niederkamen, so entbinde ich meine Taiga.
Das Weiße stört die Geburt meiner Sträucher. Ich wittere es auf hundert Schritte. Noch nie habe ich etwas Ähnliches gerochen. Körperdüfte, völlig unter einem Geruch vergraben, der nicht aus dem Wald kommt, nicht vom Alkohol, von einer Pfeife oder von Erde und ebenso wenig von irgendeiner Blume. Ich verfolge den Geruch, während er sich durch ein Wäldchen am Pfad entlangwühlt. Er ahnt nichts: Meine Füße wissen seit jeher, wie sie verhindern, dass Zweige knacken, mein Atem geht leise und mein Herz entspannt sich.
Zwischen den Zweigen erkenne ich zuerst den blassen Schein eines Hemdes und einer hellbraunen Leinenhose. Der Duft ist nicht der von Baumwolle, aber er haftet daran. Die Helligkeit der Kleidung verwirrt mich, ich muss die Augen zusammenkneifen, um hinter den Stoff zu blicken. Das Weiße hat das Gesicht eines jungen Mannes - fünfzehn, siebzehn Jahre alt - mit dichtem, schneeigem Haar, gelben Augen und den milchig rauen Wangen eines Rehbocks irgendwo zwischen Jugend und Vaterschaftsalter. Der Junge hat die Haut eines Flussgeistes, der unablässig ins Wasser taucht, glattgewaschen im Spiel der Kiesel.
Ich beobachte ihn, er weicht nicht vom Weg ab. An der Stelle, wo mein Herz schlägt, spüre ich seine Nervosität. Aus einem Feldmäppchen hat er eine gusseiserne Schere mit langen Klingen und einen braunen Papierumschlag hervorgeholt und beugt sich über die Zeichnung eines Mutterkrauts. Um sich zu beruhigen, pfeift er. Er klemmt den Kopf eines Zweiges zwischen seine Finger und öffnet seine Schere über dem Stängel.
Ich schreie: »Nein!«
Ich springe vor ihm auf.
»Was machst du da!«
Ich habe meine Fäuste in die Seiten gestemmt, knotige Ellenbogen, geschmeidige Oberarme. Er hat sich drei Schritte von mir entfernt, hält seine Schere vor sich und mustert mich, ich habe graue Kniebundhosen an, mein Bauch ist frei, die Unterlippe zittert. Aus meinem Schritt ragen Knospen und Birkenkätzchen. Er runzelt die Augenbrauen, hält Abstand. Ich gehöre zu einer Spezies, die er nicht kennt. Er schaut sich um, als ob weitere meiner Artgenossen ihn angreifen könnten.
Außer mir ist hier niemand von meiner Rasse.
»Was du machst, habe ich gefragt.«
»Guten Tag. Bist du das kleine Mädchen, das von den Nonnen adoptiert wurde?«
Seine Stimme versucht, sanft zu klingen, er füllt seine Überraschung mit Worten.
»Wie heißt du?«
»Du bist hier in meinem Wald. Also sagst du mir deinen Namen.«
Ich möchte wissen, was er da ausatmet und was mir die Nasenlöcher füllt; ich schaffe es nicht, mich auf seine Worte zu konzentrieren, mein Gehirn durchforstet die Bibliothek der Gerüche, ohne einen vergleichbaren Duft zu finden wie den, der seinen Menschengeruch überdeckt.
»Laure Hekiel. Ich bin der Lehrling von Doktor Do. Er hat mir von dir erzählt.«
Ich erkenne die Farbe seiner Behaarung, es ist die eines Hermelins, und seine Haut gleicht der der weißesten...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.