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Zur wilden Renate
In den letzten drei Wochen war die Temperatur auch nachts nicht unter dreißig Grad gefallen. Die Luftfeuchtigkeit lag bei achtzig Prozent, die brütende Hitze trocknete jeden Gedanken aus, das Atmen fiel schwer, und die Zeit war eingeschlafen. Selbst das Nichtstun fiel schwer. Die Sieben-Uhr-Nachrichten waren vorbei, im Radio lief Sunshine Reggae. Noa Stern war mittlerweile seit sechsunddreißig Stunden auf den Beinen und so müde, dass sie im Stehen hätte einschlafen können. Aber den letzten Job des Tages konnte sie nicht absagen. Sie hatte monatliche Zahlungen auflaufen lassen, inzwischen waren es schon mehr als zweitausendfünfhundert Euro. Der Gläubiger wurde ungeduldig. Also schwarzes Abendkleid, Handtasche mit Schlagstock, Telefon, Handschellen. Klebeband mit Metallfäden an den Fußsohlen, falls sie die Highheels ausziehen musste. Sie wollte nicht wieder in Glasscherben treten und sich den kleinen Zeh selbst amputieren, wenn sie barfuß jemandem hinterherrannte. Die Baby Eagle zur Sicherheit in dem Holster an der Innenseite des rechten Oberschenkels.
Noa fuhr mit ihrer Triumph Srambler zum Soho House, um die Schutzperson abzuholen, von dort ging es mit dem Limousinen-Service zum Zielort, dem Salon Zur wilden Renate. Große Premierenfeier für einen Kinofilm. Vierhundert geladene Gäste. Es hatte Drohungen gegeben, weil die Schutzperson einen ihren Schauspielerkollegen wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte.
Die Schutzperson war fünfunddreißig Jahre alt, Hauptdarstellerin in dem Film und von der Gala zum neuen deutschen Filmstar mit internationalem Potenzial erklärt worden. Sie war nervös und redete wie ein Wasserfall. Dass sie bisher ja nur Fernsehen gemacht habe, Tatort und so was, dass Kino doch was anderes sei, und ob Noa von dem Film gehört habe. Noa hatte nur den Trailer gesehen. Es ging um Gangster, die sich in Noas Augen so benahmen, als hätten sie in der Bronx einen vom Goethe-Institut gesponserten zweiwöchigen Ghetto-Kurs belegt. Sie sagte, dass ihr der Trailer gefallen habe, die Schauspielerin toll sei und bestimmt bald einen Anruf aus Hollywood erhalten würde. Die Schutzperson nahm das Kompliment dankbar entgegen, und Noa lächelte beruhigend. Du machst das gut, sagte sie mit ihrem Blick, Ich bin bei dir. Die Schutzperson ergriff Noas Hand und drückte sie fest. Der Job sollte bis Mitternacht gehen, danach wollte die Schutzperson ins Bett, um ihre zehn Stunden Schönheitsschlaf zu halten. Kein Problem, meinte Noa. Wenn es um Schönheitsschlaf ging, hätte sie allerdings zwei Monate lang schlafen müssen.
Vor dem Club hatte sich eine Wolke aus hysterischen Fans versammelt, der übliche kritische Moment. Es gab zwar eine Absperrung, die Security hatte acht Leute postiert, aber es gab auch immer ein paar Verrückte, die sich nicht zurückhalten ließen. Noa spürte die Anspannung, ein Kribbeln in Beinen und Armen. Die Sorge, dass sie etwas übersehen könnte, dass jemand aus der Masse heraus plötzlich angreifen würde, bewaffnet mit einem Messer oder einer Pistole oder Säure. Alles schon erlebt. Sie kannte den Club. Vom Markgrafendamm aus gab es einen Lieferanteneingang, da wartete niemand, und es empfahl sich, von dort in den Club zu gehen. Aber die Schauspielerin wollte sich ihren Fans zeigen, da war sie wie die meisten ihrer Kollegen, ein Junkie an der Nadel der Bewunderung. Als Noa die Wagentür öffnete, wurden sie von wildem Gekreische empfangen. Die Fans drängten gegen die Gitter, riefen ihren Namen, bettelten um Autogramme, streckten der Schutzperson die Handys entgegen. Noa scannte die Gesichter. Viele junge Frauen und ältere Männer. War jemand darunter, der seltsam aussah, angespannt, wütend? Sie drängte sich zwischen die Schutzperson und das Gitter, drückte aufdringliche Hände zur Seite, schob Selfiesticks zurück. Die Schutzperson schrieb Autogramme, brachte sich für Selfies in Position. Nicht mit dem Rücken zu den Fans stellen, hatte Noa ihr eingeschärft, aber diese Vorgabe hatte die Schutzperson im Überschwang der Begeisterung schon wieder vergessen. Sie wollte das Bad in ihren Fans genießen. Für Noa war es die halbe Stunde, in der sie jedes Mal durch die Hölle ging. Dann endlich ging es in den Club.
Der Fußboden klebte, die Sessel waren dreckig. Die Sofas sahen aus, als würden sie Bakterien und Viren für jede bekannte Geschlechtskrankheit bereithalten. Aus den Klos waberte Uringestank. Noa wunderte sich, dass ausgerechnet solche Orte für Partys ausgesucht wurden, aber der Salon war angesagt und gab sich morbid, cool und unsterblich. Das Personal war unfreundlich, und das Publikum schien darauf zu stehen. Berliner Charme auf Speed. Die Schutzperson winkte, gab Küsschen, umarmte und lachte. Sie sagte etwas, das Noa nicht verstand. Die Musik war zu laut. Die Bässe riefen Herzrhythmusstörungen hervor. Noa fragte nach. »Bleiben Sie mir vom Hals, ich kann mich ja kaum bewegen«, sagte die Schutzperson. Die Bar im zweiten Stock war auf Drogen und brauchte zehn Minuten für einen Drink. Noa hatte Mühe, die Schutzperson in dem Gedränge nicht zu verlieren. Einer der Gäste hatte schon ordentlich getankt. Es war ausgerechnet jener Kollege, der wegen der sexuellen Belästigung nicht auf der Party hätte sein dürfen. Eigentlich. Er taumelte auf die Schutzperson zu, umarmte sie und schrie etwas, das sich nach Blowjob anhörte. Angeblich hatte sie ihm in dem Film zwei Blowjobs gegeben, woraus er nun auch in der Realität sein Menschenrecht auf diese Form der sexuellen Befriedigung ableitete. Die Schutzperson stieß ihn zurück, und es kam zum Handgemenge. Noa zwängte sich bis zum Schauspielerkollegen vor und flüsterte ihm ins Ohr, dass sie ihn nicht verletzen, aber vorübergehend ausschalten würde. Dabei drückte sie ruckartig so fest auf seinen Solarplexus, dass er Atemprobleme bekam. Kurz bevor er ohnmächtig wurde, legte sie ihn auf einem Sofa ab, aber sie hatte übersehen, dass der Kollege seine Entourage mitgebracht hatte. Sie waren zu viert und drängten lärmend in den Raum. Testosteron auf Koks flackerte in ihren Augen und verlangte Krawall. Ein paar Provokationen, gefolgt von rüden Beleidigungen. Noa ärgerte sich. Sie hatte die Jungs schon vorher gesehen, aber nicht richtig eingeschätzt. Mit einem schnellen Blick erfasste sie den Linksaußen als den Gefährlichsten der vier und hielt geradewegs auf ihn zu. Stellte sich vor ihn, bat ihn höflich, die Party zu verlassen. In seinen Augen sah sie, dass er sich jenseits jeglicher Impulskontrolle befand. Er richtete den Zeigefinger auf sie, fuchtelte millimeternah vor ihren Augen herum, lachte sie aus und spuckte ihr ins Gesicht. Als er ihr ins Gesicht schlug, ging es schnell. Noa ergriff mit der Linken seine Hand, kugelte ihm mit der Rechten den Zeigefinger aus und kurz darauf wieder ein. Er schrie auf, hielt sich die Hand und ging in die Knie. Noa sah die anderen drei Typen an. »Hat noch jemand Bedarf?«, fragte sie. Niemand hatte. Ein Mann kam auf Noa zu, stellte sich als Produzent des Films vor und dankte ihr. Die Schutzperson hatte genug von der Party und wollte ins Hotel, was Noa ebenfalls für die beste Lösung hielt. Außerdem konnte sie den Job dann schon vor Mitternacht beenden. Das Honorar blieb wie vereinbart: tausend, bar, unversteuert. Die Schutzperson dankte Noa und wollte wissen, was Noa zu ihrem Kollegen gesagt hatte. Dass er ein braver Junge sein solle, antwortete Noa. Zurück beim Soho House, schwang sie sich im Abendkleid und mit Highheels auf ihr Motorrad und fuhr ins Büro. Sie konnte noch nicht nach Hause fahren. Nach solchen Abenden musste sie zuerst runterkommen. Außerdem wollte sie noch schnell die Liste der Klientinnen durchgehen, um die sie sich am nächsten Tag kümmern musste.
Vor einem Jahr hatte sie ihre Anstellung bei Loewe Security gekündigt und ihre eigene Firma aufgemacht. Noa wollte endlich jemand sein, beweisen, dass sie mehr konnte, als Befehle zu exekutieren, hinter C-Promis hinterherzulaufen, bei denen die einzige Bedrohung darin bestand, nicht erkannt zu werden. Be successful or die trying. Sie wollte zeigen, dass sie es konnte, bevor die anderen erkannten, dass sie eine Blenderin war. Noa's Security UG. UG stand für Unternehmergesellschaft mit Haftungsbeschränkung; die sei wichtig, hatte ein Herr Groß vom Jobcenter ihr erklärt, damit sie nicht mit allem, was sie besaß, bezahlen müsste, sollte sie pleitegehen. Den Namen fand er okay, Noa auch, er war ja auch ihre Erfindung. Bis ihre Mutter sie vor einer Woche darauf hinwies, dass die Abkürzung von Noa's Security UG NSU lautet. Ausgerechnet NSU, diese Truppe von rassistischen, faschistischen Vollidioten, die nichts anderes als der militärische Arm der AfD waren. Da waren aber bereits Visitenkarten, Briefkopf, Kugelschreiber mit dem Firmennamen usw. gedruckt und tausenddreihundert Euro ausgegeben. Jetzt musste sie wieder bei den Ämtern vorstellig werden und eine Namensänderung beantragen. Der neue Name sollte Personenschutz Stern UG lauten. Abgekürzt PSU, was laut Google nur noch für ein paar sterbende sozialistische Parteien stand. Ihre USP war trotzdem clever. Sie zielte auf die Frauen, die sich nicht mehr alles gefallen ließen, die sich beschwerten, wenn der Chef ihnen den Arsch tätschelte, oder die einfach nein sagten, wenn sie nein meinten. Dabei brachten die Schauspielerinnen, Politikerinnen, Sportlerinnen, die Muttis aus Dahlem und Zehlendorf das Geld, damit Noa den Frauen helfen konnte, denen niemand mehr half. Den Sechzehnjährigen, die aus...
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