Schweitzer Fachinformationen
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Nachts im Bett lauscht sie dem Fluss und dem Wind, der ums Cottage herum tobt. Sie ist ganz allein. Das darf sie nicht denken. Sie ist nicht allein - der Wind hat Stimmen. Sie rufen: Komm heim. Das Meer ist direkt hinter der Biegung des Flusses. Das ist ein Traum, natürlich. Oder ein Halbtraum im benommenen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, in dem ihre Gedanken vom Hundertsten ins Tausendste springen und Verbindungen schmieden, die nicht wahr sein können.
Ein Knarzen weckt sie auf. Das Haus stöhnt an unerwarteten Stellen; es klingt, als liefen Füße übers Dach. Das harte Bett reicht für zwei Personen. Die Matratze ist mit Stroh gefüllt, das ihr in den Rücken sticht, aber die Laken sind sauber. Wer hat hier vor ihr gewohnt? Mrs. Dowling sagte, das Cottage habe drei Jahre leer gestanden. Bestimmt ein alter Mann mit seiner Frau, denkt Isabel. Ob sie in diesem Bett gestorben sind?
Der Meeresarm ist nachts lauter, die Wellen vom frühen Abend haben sich zu mächtigen Brechern entwickelt. Das Geräusch beruhigt Isabel, und schließlich schweifen ihre Gedanken wieder ab, so wie sie es immer tun, wenn sie auf der Schwelle zum Schlaf ist: das Haus in Greenwich, ihre Eltern, George und sie nach der Hochzeit, in den zwei Tagen, bevor er zurück auf See musste. Sie wären zu jung, hatte Georges älterer Bruder gesagt. Nach dem Krieg wäre noch jede Menge Zeit. Nur gab es die nicht.
Der Morgen bringt schweren Regen. Es ist Ebbe; der Meeresarm hat sich in einen breiten Streifen aus Tang und Steinen verwandelt. Der Wind peitscht den Regen gegen die Fenster. Tief hängt der Himmel über dem Fluss. Beide sind grau, das Wasser steingrau, der Himmel vom Grau zu oft gewaschener Baumwolle. Dem Regen trotzend wirft Isabel ihre Pelisse über, stellt sich in ihren Paradiesgarten und sieht zu, wie sich der Fluss im Wind hebt und senkt. Sie weiß nicht genau, was sie jetzt tun soll. Leben Menschen so?, fragt sie sich. Sieht es so aus, wenn man wirklich und wahrhaftig allein ist?
Wieder im Cottage legt sie Anzündholz in den Kamin. Konzentriert ahmt sie nach, was Mrs. Dowling ihr gezeigt hat: den Flint anschlagen und damit den Leinwandzunder entzünden, doch das Feuer will sich nicht entfachen lassen. Sie hat bereits die Hälfte ihres Zunders verbraucht und weint fast vor Verdruss, da züngelt plötzlich eine Flamme empor. Vor Erleichterung könnte Isabel weinen. Seit sie hier ist, sind zu viele Gefühle in ihr; ständig kämpft sie mit den Tränen.
Gegen Mittag klopft es an der Tür. Ob das schon wieder Mrs. Dowling ist? Isabel kennt sonst niemanden im Dorf, abgesehen vom Gastwirt und dessen Sohn, und die haben keinen Grund, sie zu besuchen. Als sie die Tür öffnet, ist sie überrascht, das rote Hemd und die blauen Beinkleider eines Zöllners vom Steueramt zu sehen. Sein Gesicht über der steifen Baumwollkrawatte erinnert sie an den Mond; es ist blass und rund, und die in den Winkeln herabhängenden Augen haben etwas Trauriges. Er scheint ungefähr zehn Jahre älter als sie zu sein.
Der Mann lupft seinen Hut, verbeugt sich tief und sagt: »Leutnant Arthur Sowerby, berittener Zöllner des Steueramts, zu Ihren Diensten, Madam«, als gäbe es kein armseliges Cottage, als sei es ganz und gar üblich, dass sie persönlich die Tür öffnet.
»Mrs. Henley. Sehr erfreut.« Sie macht einen Knicks, und zu ihrem Entsetzen greift der Mann nach ihrer Hand und drückt seine Lippen darauf. Die Berührung ist kalt. Regen tropft aus seinen rötlich blonden Locken, läuft ihm über die Wangen in den Hemdkragen. Irgendwo draußen schnaubt ein Pferd. »Aber kommen Sie doch herein, Leutnant«, sagt sie und tritt zur Seite.
Er duckt sich unter der Tür hindurch. »Danke, Madam, sehr verbunden.« Seine anmutigen Bewegungen strafen seine Größe Lügen: Er geht, als würde er tanzen. Am Küchentisch dreht er sich um. »Ich bin hier, Madam, um Sie zu warnen.«
»Mich warnen? Wovor denn?« Ihre Stimme klingt seltsam laut, als gehörte sie nicht in dieses Cottage, bräuchte mehr Platz.
»Ich habe vernommen, Sie leben hier allein?«
»Erstaunlich, wie schnell sich das herumspricht.«
»Ich bin in St Keverne stationiert. Das ist nur fünf Meilen entfernt. Wir wurden über Ihr Kommen unterrichtet. Die Gattin meines speziellen Freunds, des stellvertretenden Lordleutnants Sir Hugh Darby, möchte Ihnen auch bald einen Besuch abstatten, habe ich gehört. Lady Darby ist ganz erpicht darauf, Ihre Bekanntschaft zu machen, genau wie ich. Wie Sie bemerkt haben dürften, gibt es in dieser Gegend nicht viele Menschen unseres Stands.«
Sie würde ihm gern einen Tee anbieten, weiß aber nicht genau, wie man ihn zubereitet. Etwas anderes hat sie nicht da. Ihr wird warm, sie greift nach der Medaille um ihren Hals. Das Band, an dem sie hängt, hält das Metall nah an ihrem Herzen. »Wie Sie sehen können, Leutnant, bin ich in meinen Lebensumständen sehr reduziert.«
Leutnant Sowerby besitzt den Anstand, so zu tun, als würde er es erst jetzt bemerken. »Ich verstehe. Gleichwohl. Ich empfinde es als meine Pflicht, Sie zu warnen, Madam, dass es in dieser Gegend vor Schmugglern nur so wimmelt. Als alleinstehende Frau sind Sie besonders gefährdet. Ich würde Ihnen raten, nachts die Türen und Fenster zu verriegeln.«
Isabel wirft einen kurzen Blick auf die Tür hinter sich. Sie hat kein Schloss.
»Oder lassen Sie ein Schloss anbringen«, sagt Leutnant Sowerby. »Für Ihre Sicherheit und die Ihres Besitzes. Sollte jemals etwas fehlen, geben Sie mir bitte umgehend Bescheid. Es wäre mir eine Ehre, Ihnen zur Hilfe zu eilen, sollten Sie mich benötigen.«
Er klingt furchtbar dienstbeflissen. Mit seinen durchgedrückten Schultern und dem hochgereckten Kinn sieht er auch so aus. Die Küche ist zu klein; er überragt sie förmlich. Isabel macht einen Schritt nach hinten, er rückt nach, tänzelt näher. Mit gesenkter Stimme fragt er: »Sie sind doch Witwe, nicht wahr?«
»Ja.« Ihre Hand umklammert die Trafalgar-Medaille. Die Konturen von Admiral Nelsons Profil drücken sich in ihre Finger. Auf der anderen Seite prangt eine Szene der Schlacht, in der George starb, darüber die Losung, die Nelson vorher ausgegeben hatte: England erwartet, dass jeder Mann seine Pflicht tut.
»Sie brauchen Schutz«, stellt Leutnant Sowerby fest. »Wenn nicht als vermögende Frau, so doch als Frau von Rang, die allein in einem rauen, gefährlichen Land lebt.«
Sie denkt an die Schönheit des Paradiesgartens, an die Blumen, den Fluss. »Bisher habe ich nur sehr wenig davon gesehen, aber es scheint mir nicht rau zu sein«, erwidert sie. »Ich finde es außerordentlich hübsch.«
»Weil sie eine Frau sind. Sie haben ein romantisches Herz. Aber ich habe gesehen, wie dieses Land wirklich ist. Ich musste auf den Wellen und Klippen gegen seine Söhne kämpfen. Gesetzlos, das sind die Leute hier. Jeder ist am Schmuggel beteiligt - Fischer, Bergarbeiter, Ladenbesitzer, Bauern. Selbst Frauen und Kinder! Alle haben ihre Finger darin.«
Wut steigt in Isabel auf, wie von Sowerby an einem Haken hochgezogen. Sie denkt an Tom Holder und dessen Sohn Richard, an Mrs. Dowling. Isabel ist gerade erst in Cornwall angekommen, doch es erscheint ihr ungerecht, die gesamte Bevölkerung derart zu beschuldigen. Sie hat nichts für Schmuggler übrig, hält sie für gefährlich. Aber die Bauern und Fischer? Sogar deren Kinder? Sie lässt Georges Medaille los und ballt die Hände zu Fäusten. »So schlimm kann es doch nicht sein, oder?«
»Es ist noch schlimmer, Madam. Früher dachte ich, ich würde die Männer, die ich ergreife, einer gerechten Strafe zuführen. Ich ließ sie einsperren und für ihre Verbrechen vor Gericht stellen. Schmugglerei, Seeräuberei. Doch fast alle wurden freigesprochen. Selbst die Geschworenen waren auf ihrer Seite!«
Er überragt sie, sein Mondgesicht ist viel zu nah. Isabel kann seinen Atem riechen, der sonderbar süßlich ist, als hätte er etwas Alkoholisches getrunken; sie spürt die Wut, die hinter seiner höflichen Fassade brodelt. Er hasst es hier, denkt sie. Er hasst Cornwall; hasst die Menschen.
Sie denkt an seine kalten Lippen auf ihren Fingerknöcheln. Zum ersten Mal wünscht sie, es würden noch die Regeln gelten, die vor ihrer Ehe ihren begrenzten Umgang mit Männern bestimmten. Als Witwe hat sie deutlich mehr Freiheiten, aber jetzt würde sie am liebsten darauf verzichten. Wäre sie noch ledig, würde Leutnant Sowerby nicht im Traum einfallen, hier allein mit ihr zu stehen.
»Mittlerweile riskiere ich gar keinen Prozess mehr«, bemerkt er.
»Wie meinen Sie das?«
»Was glauben Sie denn, wie ich das meine, Madam?« Seine Stimme wird schärfer. »Ich stelle sicher, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Ich lasse sie hängen, wie es Verrätern gebührt.«
»Verrätern?«, piepst sie und verdrängt das Bild, das vor ihrem inneren Auge aufkommt. Er hängt sie? Jungen wie Richard Holder?
»Halten Sie Schmuggler nicht für Verräter?« In ihm grollt Wut, doch er kontrolliert sie, lässt sie unter der Oberfläche seines höflichen Lächelns sieden. »Die Schmuggelei hilft den Franzosen. Wir befinden uns im Krieg, Madam.« Sowerbys Blick fällt auf Georges Medaille. Seine Stimme, sein ganzes Verhalten wird argwöhnisch. »Woher haben Sie die?«
Verblüfft tastet ihre Hand nach dem Metall. »Mein Ehemann, George Henley, war als Fähnrich vor Trafalgar auf dem Schiff seiner Majestät, der Neptune. Er erlag einer Kugel, die vom Mast der Bucentaure abgeschossen wurde.« Isabel hat diese Sätze so oft ausgesprochen, dass sie fast bedeutungslos geworden sind. Sie vermitteln nicht, wie...
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