Schweitzer Fachinformationen
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Memories at a Bargain Price
In dem Schaukasten vor mir liegen unzählige Erinnerungsstücke. Die meisten werden wohl nicht mehr eingetauscht werden, auch wenn die Uhren, Ketten und Armbänder noch geduldig darauf warten, wieder abgeholt zu werden.
Eine meiner Erinnerungen befindet sich gerade in nikotingelben Fingern, die die Uhr meines Vaters hin und her drehen. Der Mann vor mir brummt nachdenklich. Schwer zu sagen, ob dieses Brummen nun einen Geldsegen für mich bedeutet oder nicht. Ich kann nur hoffen, dass er seine Entscheidung schnell trifft, weil ich von dem penetranten Tabakgestank in diesem Laden allmählich Kopfschmerzen bekomme.
»Da ist ein Kratzer«, sagt der Mann und hält mir die goldene Uhr entgegen.
Er braucht ihn mir nicht zu zeigen, immerhin habe ich den Kratzer mit sieben Jahren selbst verursacht. Ich hatte mir die Uhr unbedingt nehmen müssen, obwohl mein Vater mir damals immer verboten hatte, damit zu spielen. Zu kostbar war dieses Erbstück für ihn. Zehn Monate vor meiner Geburt war mein Grandpa gestorben, und ich kenne meinen Dad nur mit dieser Uhr. Er hat sie immer getragen. Jeden einzelnen Tag der letzten dreiundzwanzig Jahre. Diese Uhr hat alles miterlebt, die guten wie die schlechten Tage. Die Hoch- und Tiefphasen.
Das hier ist dann wohl das tiefste Tief.
Das Ende der Erinnerung.
»Der Kratzer mindert natürlich den Wert«, murmelt der Pfandleiher. »Einhundertfünfzig Dollar kann ich dir anbieten.«
»Was?« Die Kopfschmerzen gleichen nun kleinen Nadeln, die sich in mein Hirn bohren und damit jeden einzelnen hoffnungsvollen Gedanken zum Platzen bringen. »Aber die Uhr ist aus Gold.«
»Ist auch nicht mehr so viel wert wie früher. Einhundertfünfzig ist mein letztes Angebot. Ob du es annimmst oder nicht, ist deine Sache.«
Er lächelt müde, vermutlich weil er genau weiß, dass ich es annehmen werde. Würde ich das Geld nicht dringend brauchen, wäre ich schließlich nicht hier.
»Dann einhundertfünfzig«, seufze ich.
Die nächsten zehn Minuten leiert er Bedingungen herunter. Er redet von Zinsen und von einer allgemeinen Aufbewahrungsdauer, aber ich höre nur mit einem Ohr zu. Weder Dad noch ich werden diese Uhr wieder einlösen können.
Mein Magen verkrampft sich, während ich mir vorstelle, wie mein Grandpa sich im Grab umdreht. Aber wenn es stimmt, was man über den Tod sagt und die Menschen, die gehen, einen trotzdem niemals ganz verlassen, kann ich nur darauf hoffen, dass er es verstehen wird. Dann hat er gesehen, was ich gesehen habe, und dann weiß er, dass mir nichts anderes übrig bleibt, als Dad zu helfen und diese Uhr für ihn zu verkaufen.
Der Pfandleiher ist fertig mit seinem Monolog und reicht mir endlich die abgezählten Scheine, die ich einrolle und in die Innentasche meiner Jacke steckte. Das Bündel ist winzig.
Einhundertfünfzig Dollar sind letztendlich nur ein kleiner Regentropfen in einer ausgewachsenen Dürre.
Mein Apartment in Kings Country empfängt mich mit einer beruhigenden Stille. Neben mir wohnt eine alte Dame, die kaum das Haus verlässt und die höchstens mal zu laut fernsieht, dafür aber ab und zu jemanden braucht, der ihren Wasseranschluss überprüft. In den neun Monaten, in denen ich hier lebe, habe ich schon drei Mal versucht, ihr zu helfen. Die Hausverwaltung kümmert sich einfach nicht genug. Dafür ist die Miete von zweitausend Dollar für Brooklyn-Verhältnisse erschwinglich.
Ich knipse die Stehlampe an, die ich vor vier Monaten auf dem Brooklyn Flea gekauft habe. Die meisten meiner Möbel sind Secondhand, was Dads Finanzlage und meinem eher schlecht bezahlten Job in der Redaktion von Current Flash geschuldet ist. Während meines Journalistikstudiums hatte ich mir etwas mehr Luxus vorgestellt als einen Raum mit vierundzwanzig Quadratmetern, auch wenn immerhin ein eigenes Badezimmer dazugehört. Aber nun liebe ich dieses kleine Reich und die Möbel, die ich in mühevoller Handarbeit abgeschliffen und neu lackiert habe und die somit ihren ganz eigenen Charme besitzen.
Ich lege die Scheine, die ich vom Pfandleiher bekommen habe, in eine kleine Holzschachtel auf meinem Bücherregal.
Eigentlich bräuchte ich dringend ein zweites, weil das hier aus allen Nähten platzt, aber der Platz im Apartment ist mit Couch, Abstelltisch, Bücherregal, Apothekertisch, Doppelbett und Nachttisch und der integrierten Küchenzeile mehr als ausgereizt. Mehr geht nicht. Mich von Büchern zu trennen, geht allerdings auch nicht, deswegen stapeln sich inzwischen auch welche vor dem Regal. Lyrik neben Märchen, Thriller neben Fantasyromanen. Zwischendrin ein paar Klassiker und Ratgeber zu kreativem Schreiben. Auf dem obersten Regalbrett ist ein signierter Ball von Derek Jeter platziert, direkt daneben steht ein Foto von Mom und mir. Wir tragen beide weiße Yankee-Shirts und Kappen, und ich habe einen dieser Schaumstoffdaumen. Dabei lächeln wir in die Kamera - ich ein wenig zahnlos, Mom dafür mit ihrem makellosen Julia-Roberts-Lachen.
Was Mom wohl über die Pfandleiher-Pleite denken würde? Oder über diese ganze verkorkste Situation mit Dad und meinen Versuchen, ihm zu helfen?
Auf meinem Smartphone wartet bereits eine Nachricht von ihm, aber ich bringe es nicht über mich, ihm zu sagen, welch traurige Ausbeute ich beim Pfandleiher gemacht habe. Er hat eine Arbeitsschicht im Sicherheitsdienst vor sich und ist ohnehin erschöpft, schließlich arbeitet er vormittags auch noch als Reinigungskraft. Die schlechten Nachrichten sollte ich ihm wohl auch besser persönlich übermitteln.
Ich antworte ihm, dass ich morgen vorbeikomme, und wünsche ihm eine erfolgreiche Schicht, ehe ich den Flugmodus aktiviere. Brooklyn versinkt bereits in der zunehmenden Dämmerung und läutet damit meine liebste Zeit ein. Die, in der ich für eine Stunde alle meine Sorgen, Gedanken und Probleme vergessen kann.
Ich sehe zu meinem antiken Apothekertisch - dem Herzstück meiner Wohnung und mein liebster Ort, um meiner Kreativität nachzugehen, seit ich ihn auf dem Bushwick Market entdeckt und nachlasiert habe. Darauf befinden sich mindestens zehn Notizzettel, die ich gestern Abend geschrieben habe. Ideen und Skizzen, die darauf warten, in meinen Fantasyroman eingearbeitet zu werden.
Im Kühlschrank finde ich Pizzareste von gestern, mit denen ich mich an den Tisch setze und den Laptop aufklappe. Dann beginne ich zu schreiben und versinke in meiner eigenen Welt.
Wenn ich früher in das Haus meiner Eltern gekommen bin, hat es immer nach Jasmintee gerochen. Mom hat ihn sich jeden Tag in der Küche aufgegossen und ist in ihr Büro gegangen, um zu schreiben, nur um dann Stunden später den kalten Tee vorzufinden, dessen Existenz sie über ihrer Arbeit vergessen hatte. Während der Duft ihrer Haare oder der Klang ihres Lachens drei Jahre nach ihrem Tod immer weiter in die Ferne rücken, ist der Jasmintee etwas Greifbares. Manchmal koche ich mir beim Arbeiten selbst welchen, einfach um ihr noch mal nah sein zu können.
Wenn ich jetzt Dads Haus in Brooklyn betrete, empfängt mich hier kein Tee, sondern abgestandene Luft.
Irgendwo im Nachbarhaus brummt Bassmusik, weil die Nachbarschaft sich in den letzten Jahren ebenso verändert hat wie die Atmosphäre in diesem Haus. Es sind dieselben braunen Möbel, dieselbe dunkelblaue Tapete und dasselbe dunkle Parkett, und doch wirkt alles anders. Weniger lebendig. Als wären sieben Jahre voller Krankheit und Leid in die Wände gesickert.
Ich finde Dad schlafend in dem Sessel, in dem auch Mom immer gesessen hat, um sich zu erholen. Eine Wolldecke, die er sich um die Beine gelegt hat, ist verrutscht und hängt nun auf dem blauen Teppich, den wir für Mom gekauft haben, weil sie durch die Chemo immerzu kalte Füße hatte.
Tränen schießen mir in die Augen, aber ich lasse sie nicht zu. Dad soll sich erholen und nicht mitbekommen, wie sehr ich mich sorge.
Wie konnte ich nur übersehen, was in diesen Wänden vor sich ging? Wieso habe ich nicht gemerkt, dass Dad nach dem Tod von Mom nicht mehr auf die Beine kam?
Ich hätte ihn einfach viel öfter besuchen sollen, anstatt nur zwischen Arbeit und Freizeit anzurufen, immerzu kurz angebunden. Sicher hätte ich dann früher erkannt, dass es nicht bei seinen gelegentlichen Abenden vor den Spielautomaten in der Bar um die Ecke geblieben ist.
Ich hebe die Decke auf und lege sie ihm wieder über die Beine, ohne ihn zu wecken. Ihm bleiben nur noch ein paar Stunden bis zu seiner nächsten Schicht, und er braucht den Schlaf.
So leise ich kann, gehe ich in die Küche.
Eierschalenfarbene Wände mit Familienfotos heißen mich willkommen, während ich aus meinem Rucksack ein paar Dosensuppen hervorhole. Keine Ahnung, ob es Dad zwischen seinen zwei Jobs überhaupt noch zum Einkaufen schafft. In seinem Kühlschrank finde ich jedenfalls nichts außer einem halben Glas Mayonnaise und einem Salatkopf.
Ich gieße mir ein Glas Wasser ein und öffne meinen Laptop. Vor drei Wochen waren Dad und ich zusammen bei einem Schuldenberater, der uns empfohlen hat, jede seiner Ein- und Ausgaben in einer Exceltabelle festzuhalten, um nicht den Überblick zu verlieren. Mir war schon zu diesem Zeitpunkt klar gewesen, dass diese Tabelle eher niederschmetternd als motivierend sein würde, doch das ernüchternde Ergebnis schockierte mich trotzdem mehr als gedacht.
So viele rote Zahlen, zu wenig grüne.
Ich trage die einhundertfünfzig Dollar ein, die ich vom Pfandleiher bekommen habe, und verbuche damit endlich mal wieder ein Einkommen. Demgegenüber stehen 50000 Dollar Schulden durch Kreditkartenüberziehungen...
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