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Vada
Mein Stift wackelt in meiner Hand. Bei jedem Schlagloch muss ich mich regelrecht daran klammern und irgendwie versuchen, meine Notizen nicht zu verschmieren. Vermutlich sollte ich das mit dem Tagebuchschreiben im Bus lassen, aber mein Kopf ist so voll, mein Innerstes so aufgewühlt, dass ich ohne dieses Ventil wahrscheinlich überlaufen würde.
Als mir der Stift beim nächsten Schlagloch aus der Hand fällt, entfährt mir ein Seufzen. Keine Chance, meinen Tagebucheintrag zu beenden. Ich klappe notgedrungen das in Leder gebundene Buch zu und sehe aus dem Fenster, vor dem sich bereits die Küste von Nordwales erstreckt - sattgrüne Wiesen, raue Klippen, dahinter tiefblaues Meer, das vom Wind aufgeschäumt wird. Der National Express folgt der engen Straße. Ich sitze direkt hinter dem Busfahrer, der über den Radiomoderator schimpft, weil er die Fußballleistung von Swansea City schlechtgeredet hat. Gedämpft vernehme ich auch das Gespräch von zwei älteren Fahrgästen, die ein Stück weit hinter mir sitzen. Sie sprechen Walisisch, sodass ich nichts verstehe. Ein Teil von mir wünscht sich, aufmerksamer zuzuhören und vielleicht irgendein Wort aufzuschnappen, aber nach einer vierstündigen Reise, während derer ich von Cardiff aus zweimal umsteigen musste, habe ich dann doch keine Motivation mehr und will einfach nur noch ankommen.
Es ist unwirklich, dass ich mich vor wenigen Stunden erst von meiner Mum verabschiedet habe. Sicher ist sie selbst bereits unterwegs. Nach Nordirland, um endlich mal wieder Thomas zu besuchen. Um ihm zu sagen, dass ich nun in Nordwales bin. Zu gerne hätte ich es ihm selbst erzählt, aber dank gestrichener Telefonate und eingeschränkter Besuchskontakte hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Die Zusage für die Cliffworth Academy kam vor zwei Monaten, fünf Tage zuvor habe ich Thomas das letzte Mal gesprochen.
In meinem Magen breitet sich ein flaues Gefühl aus. Dass Mum nun allein in unsere Heimat Belfast fährt und ich sie nicht begleiten und unterstützen kann, belastet mich sehr. Ich hoffe, sie kommt klar. Ob ich so ganz ohne sie klarkomme, weiß ich allerdings noch nicht. Schon jetzt spüre ich den Druck, den die kommenden sechs Wochen an der Akademie mit sich bringen werden.
»Der nächste Halt ist deiner«, lässt mich der Fahrer wissen. Tatsächlich ist die Haltestelle, nach der ich mich beim Einsteigen erkundigt hatte, nun angeschrieben. Kurz darauf stoppen wir. Ich hieve meinen rostroten Koffer von der Gepäckablage und steige aus.
Der weiße Bus fährt sofort davon, und ich brauche einen Moment, um mich zu orientieren. Laut Google Maps sind es rund fünfundzwanzig Minuten Fußweg von der Haltestelle aus. Ich halte mich nach links, Richtung Küste, und befinde mich schließlich auf einer in die Jahre gekommenen Straße, die sicher nicht oft befahren wird. Um mich herum erstrecken sich wilde, knöchelhoch gewachsene Wiesen, und in der Ferne erspähe ich eine Schafherde, aber keine Menschen weit und breit. Den Koffer ziehe ich hinter mir her, auch wenn die schlechten Straßenverhältnisse es mir nicht leicht machen. Immer wieder bleibt ein Rad am rissigen Asphalt hängen. Doch das alles nehme ich in Kauf. Die Landschaft wird etwas rauer, und immer mehr Felsen und Klippen prägen das Küstenpanorama. Dann taucht endlich das Ziel meiner Reise hierher auf: Mauern aus dem sechzehnten Jahrhundert, die auf einer dieser Klippen thronen, als würden ihnen das Land und der Ozean darunter gehören. Große, turmartige Gebäude, die in den wolkenbedeckten Himmel ragen, so alt und ehrwürdig wie ihr Ruf. Endlich erhebt sich die Cliffworth University vor mir in scheinbar greifbarer Nähe, auch wenn mich noch immer einige Meter von ihr trennen. Einige Meter und die Frage, ob ich dort überhaupt aufgenommen werde, denn ohne Stipendium werde ich mir ein Studium dort niemals leisten können.
Mein Blick wandert zu den drei abseits gelegenen Gebäuden vor den Türmen der Universität, die trotz geringerer Größe nicht weniger anmutig auf den Klippen sitzen und über eine Steinmauer mit Torbogen ragen. Das muss sie sein, die Cliffworth Academy. Dort wird das Auswahlverfahren für die Stipendien stattfinden. Es ist der Ort, an dem meine Träume beginnen - oder enden werden.
Dunkelblaue Fahnen mit dem goldenen Wappen der Akademie wehen im Wind und heißen mich willkommen, und ich stelle mir vor, wie sie meinen Namen rufen: Vada, Vada, Vada. Ein tosender Beifall dafür, es überhaupt an die Cliffworth Academy geschafft zu haben.
Ich überwinde die letzten Meter auf Kopfsteinpflaster, das sich durch meine dünnen Schuhsohlen drückt, und mache vor dem Torbogen aus moosbesetztem Stein halt, der in den Innenhof der Akademie führt. Stimmengewirr dringt an mein Ohr. Ich bin offenbar nicht die Erste, und das ist eine Tatsache, die Übelkeit in mir aufkommen lässt. Weil mir allzu deutlich bewusst wird, dass ich hier niemanden kenne und noch nie mit fremden Leuten und ohne meine Mum gelebt habe.
Ich nehme all meinen Mut zusammen und trete durch den Torbogen in den Innenhof, der von alten Steinmauern und Wiesen umrahmt wird. Drinnen führen Wege zu den zwei kleineren Gebäuden der Akademie. Das größere liegt zu meiner Rechten und wirft seinen Schatten auf uns. Die Augenpaare aller Anwesenden sind auf mich gerichtet. Als ich auf sie zugehe, gleicht mein Gesicht hoffentlich dem einer Pokerspielerin. Ich richte meinen dünnen Cardigan, unter dem ich eine verspielte Rüschenbluse trage. Gedeckte Farben, wie es von der Akademie gewünscht war.
»Dann waren wir wohl doch nicht die Letzten«, empfängt mich ein Mitbewerber, der mit schnellen Schritten auf mich zukommt. Sein dunkelblaues Polohemd spannt ein wenig an der Brust. Er lächelt breit und mustert mich freundlich. »Wir dachten schon, wir wären vollzählig.«
Eine zweite Person nähert sich, lächelt mich mit dunkelroten Lippen an. Sie passen perfekt zu ihren rotblonden Haaren, die sie zu einem eleganten Knoten hochgesteckt und mit einer dunklen Schmetterlingshaarspange verziert hat.
»Wir sind auch eben erst angekommen«, erklärt sie. »Da hatten sich die anderen schon zusammengetan. Also dachten wir, wir gründen unsere eigene Clique.« Sie streckt mir die Hand entgegen. »Ich bin Charlotte, das ist Grayson.« Sie deutet auf den Jungen mit dem Polohemd, dann zu den anderen drei Leuten, mit denen sie zusammengestanden haben und die mich neugierig anschauen. Die beiden Jungs wirken etwas schüchtern, während das Mädchen mit den Korkenzieherlocken mich unverfroren mustert. »Ruby, Alfie und Amar«, stellt Charlotte sie vor. Ich schüttle ihre Hände und versuche, mir die Namen zu merken. Alfie ist der blasse Junge, der gerade seine Brille zurechtschiebt, Amar hingegen hat olivfarbene Haut, füllige Wangen und schwarze Haare, die er in die Stirn gestylt hat. Er nimmt mir sofort den Koffer ab und stellt ihn zu den anderen Gepäckstücken, die an der Mauer neben dem Torbogen aufgereiht sind.
»Danke, echt nett von dir.«
»Klar, kein Ding.« Amars Lächeln zittert ein wenig, sicher vor Aufregung. In diesem Moment finde ich es mehr als sympathisch, dass es ihm genauso geht wie mir, auch wenn ich noch versuche, meine Nervosität zu verbergen.
Verstohlen sehe ich mich um. Hinter der Gepäcksammlung befindet sich das große Akademiegebäude, das mit seinen imposanten, teils efeubesetzten Mauern nahezu märchenhaft aussieht. Einige Meter von mir entfernt befindet sich eine Tür in der Hausfassade, die geschlossen ist.
»Mit dir sind wir vierzehn«, verkündet Ruby, deren Blick aufmerksam umherhuscht, während meiner an einer kleinen Steinmauer im Innenhof hängen bleibt. Darauf sitzt eine einzelne lesende Person, vertieft in ein Buch, als würde sie das geschäftige Treiben um sie herum nichts angehen. Sie hält ihren Blick gesenkt. Ihre Beine sind übereinandergeschlagen, und ihre schwarzen Locken wehen im Wind. Einzelne Strähnen fallen ihr auf die dunkelbraunen Wangen, aber auch daran scheint sie sich nicht zu stören. Sie liest einfach . die vollen Lippen vor Konzentration ein wenig geöffnet.
Ruby tritt näher an mich heran, ihre Korkenzieherlocken kitzeln mich ein wenig, so dicht steht sie neben mir, damit ich sie im Stimmengewirr um uns herum verstehen kann. »Keine Ahnung, wer sie ist. Sie ist ungefähr zehn Minuten vor dir angekommen, hat stumm ihr Gepäck abgestellt und sich auf diese Mauer gesetzt.« Auch die anderen kommen nun näher, um sich an unserem Gespräch zu beteiligen. »Wir haben versucht, sie in Empfang zu nehmen, aber sie hat nur stumm gelächelt und auf ihr Buch gezeigt. Seitdem sitzt sie da und redet mit niemandem.«
»Mit diesem Verhalten wird sie die Akademie nie bestehen«, mutmaßt Grayson. »Kommunikation wird hier großgeschrieben.«
»Woher weißt du das?«, frage ich ihn, kann meinen Blick jedoch nicht von ihr abwenden. Ich bin wie in einen Bann genommen von der Ruhe und Gelassenheit, die sie ausstrahlt und die mir fehlt. Jeder Muskel meines Körpers scheint zu brennen, während meine Beine weich wie Pudding sind. Ich bin kurz davor, durchzudrehen. Im Innern schreie ich vor Aufregung und sehne mich danach, meine Eindrücke in meinem Tagebuch festzuhalten, damit mein Kopf nicht überquillt.
»Mein Bruder ist an der Cliffworth«, beantwortet Grayson meine Frage und holt mich damit zurück ins Hier und Jetzt.
»Dein Bruder ist wirklich an der Uni?«, kommt es ehrfürchtig von Charlotte. »Mit Stipendium?«
»Ja, mit einem Vollstipendium für die gesamte Studienzeit.«
»Wow«, haucht Alfie. »Dann war er zuvor auch an der Akademie?«
»Vor zwei Jahren. Aber er spricht nicht darüber. Ich habe alles versucht, um Informationen aus ihm...
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