Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Schon Stunden vor der Jahrtausendwende knallen und explodieren Raketen im dunklen Himmel über der Stadt, und Maureen sieht ihnen ein, zwei Sekunden zu, ehe sie das Fenster aufdrückt und die Vorhänge zuzieht. Sarah hat bereits die Kerzen angezündet und reicht ihr eine, als sie sich wieder setzt.
Flackerndes Kerzenlicht beleuchtet acht geisterhafte Gesichter mit tief eingesunkenen Augen. Sieben Frauen sitzen in einem Halbkreis, einer Art Altar in der Mitte des Raumes zugewandt. Alle schauen ihn an, einige nur kurz und heimlich, andere gebannt, als könnten sie den Blick nicht abwenden. Nur eine von ihnen wusste, dass er hier sein würde; den Übrigen graut unterschiedlich stark bei seinem Anblick. Selbst die eine, die ihn hergebracht hat, gruselt sich, vielleicht noch mehr als die anderen.
Eine Frau namens Ana erhebt sich und kniet vor ihm nieder. Sie hat seit Jahren nicht mehr gebetet, das letzte Mal kurz nach ihrer Ankunft aus Brasilien, trotzdem strömen die Worte, auch wenn sie über dem Partylärm von unten kaum zu hören sind, in schnellem, geschmeidigem Portugiesisch nur so aus ihr heraus, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet. Sarah zündet sich an ihrer Kerze eine Zigarette an.
»Bisschen spät, wenn du mich fragst«, sagt sie zu Ana, bekommt aber keine Antwort. Sarah lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück, schlägt die Beine übereinander und sieht nacheinander die anderen Frauen an, doch keine erwidert ihren Blick.
Kaysha Jackson - die Journalistin - springt plötzlich von ihrem Stuhl auf und verschwindet nach nebenan auf die Toilette, aus der kurz darauf ein Würgen und Platschen zu hören ist. Ein paar Minuten später kommt sie bleich und mit Flecken von Erbrochenem auf dem Pullover zurück. Sarah nimmt ihre Hand, und sie verschränken die Finger, braune Haut mit weißer Haut, die im sepiagetönten Halbdunkel kaum zu unterscheiden sind.
Josie, die Jüngste unter ihnen und außerdem schwanger, beginnt zu weinen. Ihr blasses Gesicht ist fleckig und verquollen.
»Wo ist der Rest von ihm?«, fragt sie mit brüchiger Stimme.
»Wissen wir nicht, Schätzchen.« Maureen beugt sich vor und legt ihr die Hand auf den Arm.
»Eine von uns weiß es sehr wohl.« Sarah schnippt ihren Zigarettenstummel auf den Boden und drückt ihn mit dem Stiefel in den Teppich. Wieder sieht sie ihn an, sieht ihm in die Augen. Es ist lange her, seit sie ihn zuletzt gesehen hat, und noch länger, seit sie mit ihm zusammen in diesem Zimmer war. Sein Aussehen hat sich verändert, und ihre Gefühle haben es auch. Damals liebte sie ihn.
Sein Haar ist länger als damals, sie stehen ihm buchstäblich zu Berge, als hätte ihn jemand daran hergezerrt. Gut möglich, dass es genauso war. Er sieht dünner aus als damals, seine Nase ist eingedrückt und gebrochen, und die untere Hälfte seines Gesichts ist mit verkrustetem Blut beschmiert. Sie stellt sich vor, wie es ihm aus dem Mund geschossen ist, vielleicht in jenem Moment, als er eine letzte witzige Bemerkung zu machen versuchte. Zu ihrer Zeit war er grundsätzlich glatt rasiert gewesen, jetzt hat er einen kurzen Bart, der dicht um Mund und Kinn steht, an der Kehle ausdünnt und abrupt dort aufhört, wo es der Hals auch tut.
Der Rest von ihm fehlt.
Die Frauen befinden sich in einem billigen Hotel am Stadtrand, in einer Suite im obersten Stock, einstmals einem der besten Zimmer im Haus, das inzwischen aber nur noch als Lagerkammer für kaputtes Inventar dient. Unter dem Fenster lösen sich Kartons mit längst vergessenen Fundsachen in ihre Bestandteile auf, und an einer Wand lehnt eine zusammengesackte Matratze.
»Bekennt sich jemand schuldig?«, fragt Sarah.
Niemand antwortet ihr.
»Wir waren noch nicht bereit«, fährt sie fort.
»Bereit?«, fragt Kaysha. »Wir hatten noch nicht mal einen Beschluss gefasst.«
»Bei so was hätte ich auf keinen Fall zugestimmt«, faucht Olive, eine Weiße in ihren Fünfzigern. Sie hat graues, zu einem Bob geschnittenes Haar, das sie alle paar Minuten glatt streicht und hinter die Ohren hakt. Sie bekreuzigt sich mit den Fingerspitzen und schließt kurz die Augen.
»Wissen wir, Olive«, sagt Sarah. Sarah ist Mitte zwanzig und ungewöhnlich blass unter ihrem wilden, schweren schwarzen Haarschopf. Ihren Hals ziert ein Tattoo, eine Rose, und sie trägt eine Lederjacke. Sarah spricht mit dem hiesigen Akzent, aber er klingt bei ihr weniger natürlich als bei den anderen, die Vokale sind weniger flach, so als würde sie ihre Herkunft verleugnen wollen.
»Also, ich glaube, wir haben alle jemand Bestimmten unter Verdacht«, sagt Olive, den Blick fest auf Sarah gerichtet.
»Immerhin hast du es vorgeschlagen«, sagt Maureen zu Sarah und tupft sich mit einem Taschentuch die feuchten Augen.
»Ich weiß, was ich vorgeschlagen habe«, sagt Sarah. Sie zieht einen Flachmann aus ihrem Stiefel und nimmt einen Schluck.
Olive nickt zu Sarahs Flachmann hin. »Wahrscheinlich warst du betrunken, als du es getan hast. Vielleicht erinnerst du dich nicht mal.«
Sarah öffnet den Mund, um ihr etwas zu entgegnen.
»Aufhören«, kommt Sadia ihr zuvor. »Streit können wir jetzt wirklich nicht brauchen. Wir hatten Glück, dass keine früher gekommen ist.«
Als die Frauen vor fünfzehn Minuten eingetroffen waren, hatten sie den Kopf mit einem Kopfkissenbezug vorgefunden. Alle hatten sich auf ihre üblichen Plätze gesetzt, alle hatten stirnrunzelnd auf den improvisierten Altar in der Mitte des Raumes gestarrt. Keine hatte etwas gesagt, bis Josie nach einer Weile gefragt hatte, was unter dem Kissenbezug sei. Als keine geantwortet hatte, war Sarah aufgestanden und hatte mit ausgreifender Geste und einem Augenrollen den Bezug nach oben gezogen, wobei ihre Augen noch größer wurden, als sie sah, was sich darunter verborgen hatte. Ein paar unter den Frauen hatten aufgeschrien.
»Das kannst nur du gewesen sein«, fährt Sadia fort und nickt dabei zu Kaysha hin. Sadia hält ein Babyfon in der Hand und trommelt mit den Fingern auf das Plastik, maskiert ihr Entsetzen mit Ärger und Ungeduld. Sadia hat tiefbraune Haut und ein ebenmäßiges Gesicht, weiße Zähne und lange Wimpern. In einem anderen Leben hätte sie ein Model oder ein Filmstar sein können, nicht die Witwe eines toten Wissenschaftlers. »Schließlich hast du das alles arrangiert. Du hast als Einzige alle unsere Handynummern.«
»Mir ist klar, wie das aussehen muss«, sagt Kaysha. »Aber ich war es nicht.«
Früher am Abend hatten alle Frauen eine Nachricht von einer unbekannten Nummer zugeschickt bekommen: Treffen am üblichen Ort, 19 Uhr. Ein Notfall. Kayshas Nachrichten lasen sich ganz ähnlich, allerdings hat sie noch nie ein Notfalltreffen einberufen.
»Woher hätte irgendwer unsere Handynummern haben sollen? Irgendjemand muss über uns Bescheid wissen«, sagt Maureen. Sie fächelt sich mit einer Broschüre aus ihrer Handtasche Luft zu.
»Du hast behauptet, unsere Infos wären bei dir sicher.« Sadia sieht Kaysha an, die die Stirn runzelt.
»Das sind sie auch, schau her.« Kaysha zieht einen Reißverschluss innen in ihrer Jacke auf und tastet in der Tasche nach dem Zettel, auf dem sie vor Monaten alle Nummern notiert hatte. Der Zettel ist nicht mehr da, und sie kann ihr Erschrecken nicht verbergen. Sie sieht Sarah an, mit der sie zusammenlebt. Sarah zuckt mit den Achseln.
»Du hast sie verloren?«, fragt Olive.
Ana bekreuzigt sich, immer noch auf den Knien, und steht dann auf. Sie ist groß und mit ihren dunklen Haaren und der goldbraunen Haut eine klassische Schönheit.
»Telefonnummern lassen sich auf verschiedene Weise herausfinden«, sagt sie und lässt sich neben Sadia in einen Sessel sinken.
Ein paar Minuten schweigen alle. Das Babyfon knistert.
»Ich kann nicht glauben, dass du die Kleine mitgebracht hast«, sagt Sarah zu Sadia und leert ihren Flachmann, bevor sie ihn wieder in den Stiefelschaft schiebt. Sie zündet sich die nächste Zigarette an.
»Ich hatte ja keine Ahnung, was mich hier erwartet.«
»Wo ist sie?«
»Nebenan. Sie war seit vier Uhr früh wach, sie wird also eine Weile schlafen.«
»Du bist vielleicht eine Mutter.«
»Fang nicht damit an, Sarah«, mischt sich Kaysha ein. Sie ist Anfang dreißig, sieht aber jünger aus, und trägt einen schwarzen Anzug. Ihr Blick huscht gehetzt durch den Raum, als wollte sie auf keinen Fall noch einmal den Kopf ansehen.
»Können wir ihn bitte wieder zudecken?« Josie hält den Blick gesenkt. Über ihren runden Bauch spannt sich ein Paillettenkleid, und der Glitter auf ihren Wangen funkelt im Kerzenschein. Sie wollte gerade mit ein paar Freundinnen feiern gehen, als sie die Nachricht bekam.
Sarah hebt den Kissenbezug vom Boden auf und streift ihn wieder über den Kopf. Der Kopf wird zwar nicht komplett abgedeckt, aber Sarah stellt sicher, dass er wenigstens von Josies Platz aus nicht zu sehen ist. Als sie sich wieder setzt, starrt sie ein Auge durch ein Loch im Stoff an.
»Ist noch jemand der Meinung, dass wir allmählich die Polizei rufen sollten?«, fragt Olive mit energisch vorgerecktem Kinn und sieht reihum die anderen an. Ein samtweiches Flüstern geht bei dem Wort Polizei durch den Raum.
»Wenn du wirklich die Cops rufen wolltest, hättest du das längst getan«, sagt Sarah.
»Ich finde auch, dass wir sie rufen sollten«, sagt Maureen. Eine Schweißperle kullert unter ihrem Haar hervor, an ihrer Schläfe entlang und über ihre Wange bis unter das weiche Kinn.
»Damit wir wegen gemeinschaftlichen Mordes verhaftet werden?«, fragt...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.