Schweitzer Fachinformationen
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»Mitten im Leben geschieht der Tod. Wir können vielleicht damit rechnen. Aber wir können uns nicht darauf vorbereiten. Der Tod geschieht, und wir müssen damit zurechtkommen, dass jemand gegangen ist und nicht wiederkommen wird.«
Bernds Vater Richard war zu einem kleinen Mann geworden, schmal und mit weißem Haar, doch er stand aufrecht, und noch immer strich er sich langsam selbst über den Kopf, als wolle er sich damit beruhigen; von der Stirn über den Hinterkopf bis in den Nacken. Er trug einen schwarzen Anzug, ein helles Hemd, keine Krawatte, er war heute nicht als Pfarrer hier. Er redete laut, denn es gab kein Mikrofon. Es strengte ihn an, sein ganzer Körper sagte das, seine Stimme auch. So oft hatte Ania ihn schon reden hören, reden sehen, aber das heute, das war etwas anderes.
»Bei Bernd hat niemand damit gerechnet. Die Nachricht hat uns alle zutiefst erschüttert. Nun sind wir hierhergekommen, um an ihn zu denken, nicht allein mit unserer Trauer zu sein und zu spüren, dass Bernd auf seine Weise noch immer bei uns ist. Er lebt weiter in uns, in unseren Gedanken und Erinnerungen, und es liegt an uns, wie viel Raum wir all dem schenken möchten.«
Weiterleben. Wie sollte das gehen, wenn nichts von ihm übrig war als Staub, gesammelt in dieser schlichten schwarzen Urne? Wenn es nur noch Bilder von ihm gab und das, was sie über ihn wussten, was sie mit ihm erlebt hatten, eben das, was sie Erinnerung nannten?
Ania lehnte sich an die Wand hinter ihr und wollte doch eigentlich nur weg, die Kapelle verlassen, nicht weiter Richards Worten zuhören müssen, nicht auf den Rücken, den gebeugten Kopf von Bernds Mutter schauen müssen, nicht nach Louise suchen und vor allem nicht immer wieder das Bild betrachten müssen, das neben der Urne stand.
Viel zu müde war sie für all das hier.
Die Beklemmung, die sie schon auf dem Weg durchs Dorf begleitet hatte, wuchs. Es fiel ihr schwer zu atmen. Dabei wollte sie sich nicht verschließen, nicht so tun, als wäre das Vergangene vorbei. Erinnern wollte sie sich, an Bernd denken, um ihn weinen, mit ihm in Gedanken sprechen, doch all das lieber in Stille, im Alleinsein.
Warum brauchte sie dann diesen inszenierten Abschied? Niemand bis auf Ria hatte ihr dazu geraten, nicht mal Mutter oder Brit und auch nicht ihre langjährige Freundin Irene. Warum war Ania nach ihrem Nachtdienst nicht zu Hause geblieben, sondern in den nächsten Zug gestiegen, um hierherzukommen, an diesen Ort, den sie Zuhause nannte, nicht, weil es sich so anfühlte, sondern weil es immer so gewesen war?
Ania war plötzlich hellwach und voller Angst, fühlte sich all dem hier ausgeliefert. Warum ging sie nicht einfach? Es wäre wie ein Spießrutenlauf mit dem halben Dorf als Publikum, ja, aber was kümmerten sie die Gedanken der anderen hier?
Als sie in die Kapelle gekommen war, waren längst alle Sitzplätze belegt gewesen. Sie hatte sich neben einen älteren Herrn gestellt, den sie nicht kannte, der ihr aber freundlich zunickte. Der Geruch nach Staub und modrigen Blumen hatte sie umfangen, und sie hatte sich für einen Moment beschützter gefühlt.
»Lasst uns auf eine Reise gehen.«
Richard hob die Stimme, senkte dann kurz den Kopf, als müsse er sich sammeln.
»Bernd wäre im November neunundvierzig Jahre alt geworden. Er wollte nicht mehr leben, und uns als Hinterbliebenen bleibt nur, ihm diese Feier zu schenken, eine Feier für ihn und sein Leben. Bernds Lebensgefährtin Louise, seine Mutter und ich haben Gedanken, Erinnerungen, Geschichten zusammengestellt und, natürlich, Musik, die er mochte, die ihn die Jahre über begleitet hat.«
Wie viel Leben hatten sie zusammen gehabt, fragte sich Ania. Erst vor etwa einem Jahr war Bernd in die Gegend zurückgekehrt. Weggezogen war er nach der Schule, und wahrscheinlich war er noch seltener zu Besuch hierhergekommen als Ania. Was war in diesem einen Jahr seit seiner Rückkehr passiert? Hatte er sich seinen Eltern angenähert? Waren sie vertrauter miteinander geworden?
Richard holte eine Fernbedienung aus der Tasche seines Jacketts, hielt sie in Richtung der Stereoanlage, die neben dem Fenster auf einem schiefen Holzschränkchen stand. Er drückte mehrmals auf einen der Knöpfe, schüttelte schließlich den Kopf. Die Frau mit den glatten schwarzen Haaren, die neben Bernds Mutter saß und von der Ania inzwischen glaubte, dass es Louise war, hielt den Kopf gesenkt und rührte sich nicht. Die Dame neben ihr stand auf, sie hatte locker hochgestecktes graues Haar und ein dezent geschminktes, fein geschnittenes Gesicht. Erst ging sie zu Richard, dann zu dem Gerät, hielt die Fernbedienung ganz nah an den CD-Player. Es blinkte grün, dann erklang »Imagine«.
In der Halle wurde es wieder stiller, die leisen Geräusche, das Rascheln und das Getuschel legten sich.
John Lennon sang, und Ania traten Tränen in die Augen, sie zwinkerte, doch sie kam nicht dagegen an. Wie oft hatten Bernd und sie den Song gehört, an den kühlen Oktoberabenden nach den Demos, den Zusammenkünften in der WG und in ihren Nächten? Noch immer kannte sie jedes Wort, jede Nuance der Melodie. Ihr Körper war plötzlich ein einziger Schmerz, sitzen würde sie gern oder sich einfach nur irgendwo festhalten. Warum hatte sie, wenn sie schon geblieben war, nicht doch nach Brit und Mutter gesucht, draußen, vor der Kapelle? Warum tat sie sich all das hier an?
Und warum ging es ihr überhaupt so schlecht? Es war doch alles so lange her.
Die Tränen liefen ihr übers Gesicht, sie griff nach der Packung Papiertaschentücher, die sie in das Außenfach ihrer Handtasche gesteckt hatte, schnäuzte sich leise, wurde etwas ruhiger. Wieder betrachtete sie das Foto, das im schwarzen Rahmen neben der Urne stand. Bernd am Fenster, er klopfte die Asche der Zigarette auf eine Untertasse auf dem Fensterbrett. Noch immer die Brille, runde Gläser ohne Rand, noch immer die leicht zusammengekniffenen Augen, der Mund als Strich, die Locken, im Nacken zusammengebunden. Ein einfaches schwarzes Shirt, schmale Arme, die aus den weiten Ärmeln hervorschauten.
Er sah John Lennon ähnlich, mehr als früher sogar. Doch wann war früher? Vor dreißig Jahren, als sie sich zum ersten Mal geküsst hatten, im Skoda seines Onkels, auf dem Parkplatz vorm Haus seiner Eltern, an dem Abend, bevor er Bausoldat in Prora wurde? Oder ein paar Jahre später, als sie an den warmen Oktoberabenden in Leipzig auf dem Ring liefen, mit Kerzen in den Händen und nichts als ihrer Angst und ihrer Hoffnung? Oder noch später, als er plötzlich aus Anias Leben verschwand, den Vagabunden in sich wiedergefunden hatte und nur einen Zettel mit eilig dahingekritzelten Zeilen hinterließ? Oder vor sieben Jahren, als sie sich in Leipzig wiedergesehen hatten?
Der Anruf von Mutter war vor etwa vier Wochen gekommen, an einem sommerwarmen Sonntagabend.
»Ania, meine Liebe«, hatte Mutter gesagt und noch einmal, »meine Liebe.« Dann hatte sie angefangen zu weinen.
Eine Woche später hatte sich Louise über Facebook bei Ania gemeldet. Von Mutter wusste Ania, dass es Louise in Bernds Leben gab, dass sie zusammen mit ihm von Berlin in die Kleinstadt gekommen war, dass sie gemeinsam das Atelier von Fotograf Schwab übernommen hatten, der vor einem Jahr in den Ruhestand gegangen war. Es hatte Ania wehgetan, als sie von Louise hörte, mehr, als sie sich eingestehen wollte.
Nun hatte Louise Ania geschrieben, sie hatte geschrieben, dass sie die Freundin von Bernd gewesen sei, von Bernd Lehne.
Sie schrieb, dass sie nach einem langen Fototermin spätabends nach Hause gekommen wäre, ihn im Bett gefunden hätte, ins Kissen gewühlt, und geglaubt hätte, er würde schlafen. Doch sein Körper war kalt gewesen, er hatte sich mit offenen Augen nicht mehr geregt, neben ihm lagen eine leere Wodkaflasche, und mehrere Packungen starker Schlafmittel.
Liebe Ania, es ist mir ein Bedürfnis, allen zu schreiben, von denen ich weiß, dass sie Bernd gekannt haben. Ich habe ein Bild von Dir in seinem Notizbuch gefunden. Hintendrauf stand »Ania«, und ich habe mich daran erinnert, dass Bernd von Dir erzählt hat.
Ania war lange an ihrem Schreibtisch vor dem Laptop sitzengeblieben. Louises Nachricht war fast ein Brief, sie hatte Ania so offen geschrieben, als wären sie alte Freundinnen, und Ania hatte beim Lesen eine Vertrautheit gespürt, die sie anfangs erschreckte und irritierte und erst später etwas tröstete. Als sie aufgehört hatte zu weinen, war es Nacht geworden. In diesen Stunden hätte sie sich nicht vorstellen können, zu Bernds Beerdigung zu fahren, sich ihrem Schmerz so ungeschützt auszusetzen und all der verlorenen Zeit ins Auge zu blicken.
Doch schon am nächsten Morgen war ihr bewusst geworden, wie wichtig es war, genau das zu tun. Vor sieben Jahren war sie Bernd zuletzt begegnet. Wie lange war das her? Eine Ewigkeit? Einen Moment?
Letztlich, so dachte sie, zählte nur, dass die Zeit für den Abschied gekommen war. Einen anderen Zeitpunkt würde es nicht geben, einen besseren auch nicht.
»Bernd wurde am 22. November 1967 hier in der Kleinstadt geboren. Er ist bei uns im Dorf aufgewachsen, ging nach der Schule zur Ausbildung ins Erzgebirge. Filmvorführer hat er gelernt, denn Filme waren sein Leben, bis die Fotos kamen, bis er selbst Geschichten...
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