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Den Anfang in Kleist, Moos, Fasane macht dieser Satz: »Ich erinnere mich der Küche meiner Großmutter.«[8] So ist von Beginn an der Ton gesetzt. Es ist ein »ich«, das sich hier erinnert, die Erinnerung spricht aus einer bestimmten Perspektive, nicht allwissend. Jene Erinnerung setzt zu Hause an, bei sich und bei der Familie. Und in einem familiären Innenraum, der Küche, ein heimeliger und zugleich funktionaler Ort. Verschiedene Hände und Stimmen berühren diesen Raum, wahrscheinlich haben sich in der erinnerten Zeit vor allem weibliche Familienmitglieder darin aufgehalten. Die Großmutter schreibt dem häuslichen Einsatz der Erinnerung zugleich eine zeitliche Dimension ein - einen Bogen von mindestens drei Generationen. Darin auch ein allgemeiner Zeitraum des Familiengedächtnisses von am Küchentisch weitergegebenen Geschichten.
Dreimal wiederholt Kleist, Moos, Fasane diesen Auftaktsatz, dreimal markiert er den Anfang eines neuen Erzähl- und Erinnerungsabschnitts: »Ich erinnere mich der Küche meiner Großmutter .«, »Ich erinnere mich des Nachmittagsunterrichts .«, »Ich erinnere mich des Beerensuchens auf dem Lande .«. Die Wiederholung desselben Satzanfangs faltet die Bezüge der Erzählung auf, öffnet die Erinnerung für weitere Dimensionen und Schichtungen als den einen geraden Weg. »Ich erinnere mich .« bleibt immer identisch und bezeichnet nie Identisches. Der Beginn einer Liste. Der Beginn einer Poetik aus Wiederholung und Variation, Reihung und Abweichung, raum-zeitlicher Konstellation und Assoziation.
Kleist, Moos, Fasane erinnert konkret und sinnlich; mit Spuren in Aichingers Biographie.[9] Und Kleist, Moos, Fasane abstrahiert von den Lebenserinnerungen, rückt ab vom Genre und der Autorität der Memoiren, denkt anders und grundsätzlicher über die Vergangenheit, über diese Vergangenheit nach. Der Text öffnet nicht zuletzt ein Nachdenken über Erinnerung selbst: als Vorgang und Verfahren. Durchdacht im Modus der Darstellung, in den Schreibverfahren von Kleist, Moos, Fasane. Aichingers Schreiben in Antwort auf die sich nicht zu Ende begreifende Erinnerung stiftet Verhältnisse zur Zeit, vielmehr zu verflochtenen Zeitschichten. Zeiten, die individuell und kollektiv erfahren sind. So stiften Aichingers Worte Verhältnisse zur Welt. Sie sprechen als »ich« und elliptisch ohne Subjekt, allgemein, und manchmal spricht ein »man«. Aichingers erzählte Zeiten leben simultan, sind ineinander verschoben wie Teile eines Gebäudes, das seismischen Kräften ausgesetzt ist, oder wie eine mehrfachbelichtete Fotografie. Aichingers Erinnerungsgeschichten sind bis an die Grenzen der Lesbarkeit verdichtet und verwickelt und zugleich sparsam, lose, lückenhaft. Ihre poetischen Bilder der Erinnerung haben und vollziehen Sprünge - sei es in Gestalt gebrochener, versehrter Bilder, sei es als Assoziationen, deren Genauigkeit sich in der sprunghaften Verknüpfung selbst einlöst.
Dies beginnt beim Titel: Kleist, Moos, Fasane. Die drei Worte sind nur per Komma, österreichisch: Beistrich, verbunden und getrennt. Kein Hinweis, wie die drei Namen zueinander in Beziehung stehen. Wie ist diese Reihe zu lesen? Die einzelnen Titelworte für sich sind recht klar verständlich. Mit der Fragwürdigkeit ihrer Beziehung steht jedoch von Beginn an sogleich in Frage, wie Sinn und Bedeutung überhaupt gebildet werden.
Kleist ist durchaus als dichterischer Seelenverwandter Ilse Aichingers und ihres Texts vorstellbar.[10] Das sprichwörtliche Grün des Mooses kehrt als Farbmotiv in diesem wie anderen Texten wieder. Fasane, ursprünglich aus Asien für Jagd und Ernährung nach Europa gebracht, bevölkern seit der Antike die abendländische Bildwelt: als Symbol für Hochmut, aber auch für Liebe und Auferstehung, aus dem ländlichen Leben gegriffen als Ikone des Jagdstilllebens sowie, eher aus dem Leben gerissen, als Sinnbild der vom Greif verfolgten Seele.[11] Referenzen, die vor dem Hintergrund dessen, wie die Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte des 20. Jahrhunderts auch in Aichingers Familie eingegriffen hat, ihre eigenen, besonderen Bedeutungen entwickeln?[12]
Moos und Fasane könnte man in der Welt der Fauna zusammenbringen: ein Fasan, der über bemoosten Waldboden stolziert oder auf einer dunkelgrün schimmernden Wurzel sitzt, das kann man sich vorstellen, ganz real. Kleist und Fasan, das ließe sich mit etwas gutem Willen in Verbindung bringen, wollte man Heinrich v.Kleist, den exzentrischen, in seiner kreativen Einbildungskraft geradezu weltensprengenden Dichter um 1800 bildhaft als Paradiesvogel, der zugleich ein Wildtier ist, verstehen. Kleist, Moos, Fasane - die Titelworte lassen sich bis zu einem gewissen Grad in Einzelbegriffe auflösen oder in variierende Paare gruppieren. In eine logische Reihe sind sie indes nicht zu bringen, einem eindeutigen Bedeutungszusammenhang scheinen sie sich zu verweigern und zugleich suggerieren sie dessen Existenz.
Dabei kommt der Rhythmus der zwei Einsilber und des einen Dreisilbers durchaus nicht widerborstig daher, eher angenehm, beinahe getragen - Kleist, Moos, Fasane. Spricht aus diesem Dreiklang »die wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie«, die alle Prediger von Logik und Nützlichkeit zu widerlegen sucht, oder womöglich das Bedürfnis, »die eigene Seele von irgendeinem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen« zu wollen? Oder ein memento, gelegentlich könne eben auch der Weiseste von uns zum Narren des Rhythmus, des zwanghaften Gleichschritts werden und einen Gedanken als wahrer empfinden, wenn er »mit einem göttlichen Hopsasa« daherkommt - also ein subtiler, subversiver Aufruf zum Misstrauen, zum Widerspruch, zum Widerstand gegen allzu gefällig Schönes und Angenehmes?[13]
Kleist, Moos, Fasane gibt Rätsel auf, ein puzzle oder Puzzle, das zusammenzusetzen ist, und doch werden Lücken bleiben. Der titelgebende Reigen lässt sich weder schlüssig machen noch in etwas Höheres aufheben. Gleichwohl eröffnet das Dreigestirn eine Art Konstellation, eine Kombination einzelner, gegebener Referenzpunkte in der Entfernung, die erst durch Auswahl und Anordnung zum Bild, zum Sinnbild und somit womöglich lesbar werden. Eine Entscheidung, die um ihre Begrenztheit weiß, wie um das Chaos, das sie nicht zu fassen vermag und das zu ihr gehört, anhaltend unverfügbar. Aichingers poetische Konstellation und konstellierende Poetik bleibt bei aller Abstraktion dem Konkreten ganz nah, dem Wörtlichen der Worte und so auch dem Boden der Tatsachen.
Um dem weiter nachzugehen, wollen wir uns mit Kleist, Moos, Fasane in das Stadtviertel begeben, von dem der Text seinen Ausgang nimmt: das Fasanviertel im dritten Wiener Bezirk. Sein Name stammt von der Gasse, um die herum es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt wurde: die Fasangasse, zu der parallel die Hohlweggasse verläuft und parallel dazu die Kleistgasse. Damit ist der topographische Kosmos, den das Prosastück entwirft, schon fast umrissen. Wobei bemerkenswerterweise die Hohlweggasse, der Wohnort der Großmutter und zeitweilig auch Ilse Aichingers, im Text ausgespart bleibt. Und: historische Gasse wie Viertel führen den Fasan im Singular im Namen, während Aichingers Titelgeschichte ihn in ein Pluralwesen versetzt. Es sind diese kleinen Verwandlungen, auf die es bei Aichinger immerzu ankommt.
Abb. 1: Wien, III. Bezirk: Fasanviertel
Wie sieht es nun mit »Moos« aus? »Daß Kleist mit Fasanen zusammenhing, mit Moos und mit der Bahn, wer hätte es sich träumen lassen, wenn nicht er selber und die Kinder dieser Gegend, die in der Moosgasse wohnten, in der Fasangasse, in der rechten und linken Bahngasse«, berichtet der Text.[14] Ein Blick auf die Karte der Stadt Wien, Fasanviertel, dritter Bezirk, zeigt: Es gibt dort keine Moosgasse. Was allerdings zu finden ist, ist eine »Mohsgasse«, benannt nach dem Universitätsprofessor für Mineralogie, Friedrich Mohs. Als Zeitgenosse Kleists, wurde Mohs vier Jahre vor dem Dichter 1773 in Gernrode im Harz, bei Quedlinburg, geboren und starb 66 Jahre später in einem kleinen Ort in den Dolomiten. Nach dem Studium an der Bergakademie Freiberg war er auf Einladung des Bankiers van der Nüll nach Wien gekommen und veröffentlichte dort eine Beschreibung von dessen umfangreicher Mineraliensammlung. Dies trug ihm die Aufmerksamkeit von Erzherzog Johann ein, der Mohs ab 1812 mit der Aufstellung der Mineraliensammlung am Grazer Joanneum betraute: halb Wissenschaft, halb Wunderkammer. Heute gilt Mohs als Begründer der wissenschaftlichen Mineralogie und der Skala zur Messung der Härte von Kristallen. Eine Gedenktafel an seinem ehemaligen Wohnhaus - Mohsgasse 15, an der Kreuzung zur Hohlweggasse - erinnert an ihn.[15]
Es waren »die Kinder dieser Gegend, die in der Moosgasse wohnten«, heißt es bei Aichinger. Die Kinder haben den Mineralogen Mohs in das weiche, gleichklingende Moos verwandelt - ihrer blühenden Phantasie oder ihrer Unfähigkeit zu lesen oder schlicht ihrer sorgfältigen Sorglosigkeit ist diese dichterische Schöpfung zu verdanken. Ein Echo, womöglich, auch zum Sprachspieler und Sprachskeptiker Kleist, der den Bedeutungstrubel von Homophonen (erwiesene Unschuld - verlorene...
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