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Um einen Begriff zu verstehen, ist es meistens sinnvoll, an seinen Ursprung zurück zu gehen und dann zu schauen, wie er sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. In diesem Falle führt die Suche nach dem Ursprung in die Medizingeschichte. Dabei zeigt sich, wie die Auseinandersetzung mit einem Phänomen zur Entwicklung und Wandlung von Begriffen und deren Bedeutungen führt.
Ursprünglich wurde der Begriff »Autismus« geprägt, um einen Zustand zu beschreiben. Eugen Bleuler, Psychiater und von 1889 bis 1927 Direktor der Klinik am Burghölzli in Zürich, war bemüht, seine Patienten als menschliche Individuen zu betrachten und sie so zu beschreiben, wie er sie in ihren jeweiligen Seins-Weisen und in unterschiedlichen Zuständen wahrnahm. Einer der Zustände, die er beobachtete, wurde zur Grundlage des von ihm geprägten Begriffs »Autismus«: Die jeweilige Person wirkt von außen betrachtet so, als sei sie ganz bei sich. Sie schaut vor sich hin oder scheint versunken in irgendeine Betrachtung; der außenstehende Betrachter ist sich nicht sicher, ob er überhaupt wahrgenommen wird, ob die Person Kontakt möchte. Sie wirkt wie unter einer Glasglocke, nur auf sich selbst und auf ihre eigene Welt bezogen. Kurz gesagt: Von außen gesehen könnte man diesen Zustand als extreme Selbstbezogenheit wahrnehmen bzw. deuten.
Aus dem Wort »autos« (griechisch für »selbst«) leitete Bleuler daher den Begriff »Autismus« ab im Sinne einer - zumindest von außen so wahrgenommenen - Selbstbezogenheit. Man kann aus diesem Begriff »Autismus« jedoch auch die Idee eines »Ganz-bei-sich-Seins« herauslesen.
Erst Jahre später, Ende der 1930er Jahre, wurde dieser Begriff des Autismus von zwei Kinder- und Jugendpsychiatern aufgegriffen, um ein Phänomen zu beschreiben, das ihnen bei Kindern in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld auffiel.
Leo Kanner - gebürtiger Österreicher - arbeitete damals an der Johns Hopkins University in Baltimore. Ihm fielen Kinder auf, die von Anfang an so wirkten, als seien sie »ganz bei sich«, als nähmen sie ihre soziale Umwelt kaum wahr und seien aus sich heraus gar nicht an zwischenmenschlichem Kontakt interessiert. Sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte, meist gegenständliche Objekte und Themen. Viele von ihnen kommunizierten aus sich heraus nicht und konnten umgekehrt mit Kontakt und Kommunikationsangeboten ihrer Mitmenschen offenbar nichts anfangen. Auch ihre Sprachentwicklung war deutlich verzögert und in spezifischer Weise beeinträchtigt. Wenn Sprache erlernt wurde, dann wurde sie häufig nur echolalisch angewendet, das heißt dass einzelne Wörter oder Sätze wohl korrekt nachgesprochen bzw. wiederholt wurden; die Sprache konnte jedoch nicht sinnvoll und situationsangemessen oder gar zum spontanen Selbstausdruck eingesetzt werden. Manche Kinder entwickelten ihre ganz eigene Phantasiesprache, die nur von ihnen selbst - oder manchmal von einem Zwilling oder Geschwisterkind - verstanden und eingesetzt wurde. Rund 50 Prozent der betroffenen Kinder entwickelten jedoch gar keine Sprache, weder verbal noch ersatzweise irgendeine Zeichensprache. Dass dies auch zu Schwierigkeiten beim Lernen und in der - messbaren - kognitiven Entwicklung führte, ist leicht nachzuvollziehen.
Leo Kanner konzentrierte sich in seiner Arbeit zunehmend auf diese Gruppe von Kindern und prägte für das von ihm beforschte und beschriebene Phänomen den Begriff »Frühkindlicher Autismus« - wohl um es vom ursprünglich im Kontext der Schizophrenie beschriebenen Autismus als reiner Zustandsbeschreibung abzusetzen. Bei diesen Kindern war von Anfang an etwas anders. Es konnte hier also nicht von einer psychischen Erkrankung wie der Schizophrenie als Grundproblematik ausgegangen werden - wenngleich damals zeitweise auch der Begriff »kindliche Schizophrenie« kursierte.
Etwa zeitgleich mit Leo Kanner, jedoch völlig unabhängig von dessen Forschung, griff Hans Asperger den Begriff des »Autismus« ebenfalls auf, um eine Gruppe von Kindern zu beschreiben, die ihm in seiner Arbeit besonders aufgefallen waren. Er war als Kinderarzt und Heilpädagoge an der heilpädagogischen Abteilung der Universitätsklinik in Wien tätig. Bereits 1938 hielt er dort einen Vortrag, in dem er einige dieser jungen Patienten eingehend beschrieb.
Sie alle fielen zunächst durch eine hohe Empfindsamkeit auf, die zugleich dazu führte, dass sie leicht störanfällig waren, Ängste entwickelten und in Situationen die Fassung verloren, die von anderen Kindern als neutral oder sogar besonders attraktiv erlebt wurden. Sie alle waren mindestens durchschnittlich, manche von ihnen auch deutlich überdurchschnittlich begabt. In ihrer Sprachentwicklung waren sie ihren Altersgenossen eher voraus und drückten sich sprachlich sehr gut aus. Dennoch - und das erschien vor diesem Hintergrund besonders auffällig - kamen sie mit anderen Menschen, insbesondere mit Gleichaltrigen, nicht zurecht. Sie schafften es nicht, Freundschaften aufzubauen und zu gestalten, hatten Schwierigkeiten sich in Gruppen zu integrieren und blieben so oft Außenseiter.
Hans Asperger sprach bereits in diesem ersten Vortrag in sehr wertschätzender, ja sogar anerkennender Weise von diesen Patienten, die ihm ganz offenbar besonders am Herzen lagen. Er war überzeugt: Diese Menschen können und müssen wir erreichen - weil sie wertvolle und wichtige Mitglieder unserer Gesellschaft sind. Ohne sie, ohne ihre Originalität, ihre ganz eigene Wahrnehmung und Sicht der Dinge, hätte sich die Menschheit nie so weit entwickeln können.
Jahre später kam er dann gar zu dem Schluss:
»Es scheint uns als wäre für gewisse wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuss >Autismus< geradezu notwendig.« Hans Asperger
Eine solche Sichtweise öffentlich zu vertreten, war zu seiner Zeit in Wien allerdings nicht ganz unproblematisch. Die Nationalsozialisten hatten schließlich ganz eigene Vorstellungen davon, was mit Kindern zu passieren hatte, die »anders«, »nicht leicht erziehbar« und nicht problemlos in Gruppen zu integrieren und zu führen waren.
Dass die überaus hohe Wertschätzung, die Hans Asperger gerade diesen Patienten, die er als »autistisch« bezeichnete, auch eine Schattenseite hat, stellt sich jetzt, fast achtzig Jahre später heraus bzw. ist inzwischen historisch belegt (siehe Sheffer 2018, Czech 2018). Denn während er die autistischen Kinder, mit denen er arbeitete, sehr hoch schätzte und nicht müde wurde, ihren »Wert« und ihre Bedeutung für die menschliche Gesellschaft zu betonen, schätzte er andere Kinder, die im damaligen Sprachgebrauch als »schwachsinnig« galten, offenbar so gering, dass er ihr Leben nicht unbedingt als schützenswert ansah. So ließ er zu, dass einige von ihnen, wie viele andere Kinder, die den damals unter Nationalsozialisten vorherrschenden Vorstellungen von Gesundheit und »Brauchbarkeit« nicht entsprachen, u.?a. in der Klinik am Spiegelgrund in Wien zu Tode kamen.
Vor diesem historischen Hintergrund wird erklärbar, warum die Beobachtungen und Sichtweisen Hans Aspergers sich zunächst nicht verbreiteten, während Leo Kanners Beschreibungen zum »frühkindlichen Autismus«, die in den USA frei beforscht und in englischer Sprache veröffentlicht wurden, bald auch international Verbreitung fanden. So setzte sich also erst einmal ein Bild vom Autismus durch, das dem klinischen Bild des von Kanner beschriebenen Frühkindlichen Autismus oder »Kanner-Syndrom« entsprach.
Erst Mitte der 1980er Jahre entdeckte die britische Psychologin Lorna Wing, die mit autistischen Kindern und Jugendlichen arbeitete, die Arbeiten von Hans Asperger wieder und sorgte dafür, dass sie ins Englische übersetzt und als Beschreibung einer »anderen Form des Autismus« anerkannt wurden. Mitte der 1990er Jahre wurde dann das nach ihm benannte »Asperger-Syndrom« bzw. die »Asperger-Störung« als eigenständige Diagnose in die offiziellen diagnostischen Handbücher (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems [ICD] und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [DSM]) aufgenommen.
Hinzu kam noch die diagnostische Kategorie des »atypischen Autismus«, da es immer wieder Fälle gab, bei denen das Gesamtbild zwar durchaus dem einer autistischen Ausprägung entsprach, die jedoch nach den gegebenen Kriterien keiner der beiden Kategorien zugeordnet werden konnten.
Die Autismus-Forschung versuchte indessen, herauszufinden und zu definieren, was genau nun das Asperger-Syndrom vom Bild des Frühkindlichen Autismus unterscheidet. Ist es ein eigenständiges Syndrom mit einer eigenen Ätiologie (Entstehungsgeschichte) und womöglich eigenen biologischen Markenzeichen? Ist es eine »Variante« des...
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