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Dombås, 15. April 1940
Es war das totale Chaos.
Panik griff um sich, und die Abwesenheit einer klaren Führung vermittelte Leutnant Martin Linge ein Gefühl absoluter Verlassenheit. Auch die anderen Soldaten in der Gegend litten darunter. Die Verlorenheit drang ihnen wie Kälte bis ins Knochenmark, weil nirgendwo eine klare Linie zu erkennen war. Ihm wurde bewusst, dass er sterben würde und seine Handlungen für den Ausgang des Kampfes vermutlich keine Rolle spielten. Er fürchtete den Tod nicht, wollte aber nicht sterben, ohne sich wenigstens gewehrt oder die Chance bekommen zu haben, etwas von Bedeutung zu tun. Er wollte nicht ohne Hoffnung draufgehen, nicht mit der Gewissheit, dass Norwegen verloren und alles nutzlos war.
Am Himmel über Dombås kreuzten Junker 52. Einige von ihnen flogen so tief, dass sie die Bäume zum Schwanken brachten. Die Flugzeuge spuckten unzählige deutsche Fallschirmjäger aus, aber Nebel, Regen und Dämmerung machten es nahezu unmöglich, sie vom Himmel zu schießen.
Es war ein Sprung ins kalte Wasser, derart unvorbereitet in den Krieg geschickt zu werden, schließlich war er erst vor wenigen Tagen mit dem Zug nach Setnesmoen gefahren, um sich als Soldat zu melden. Jetzt war er ein Stück Fleisch mit einer Waffe, an den Ort verfrachtet, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Die Kontrolle über sein eigenes Handeln war ihm genommen worden, was sich für ihn unnatürlich anfühlte. Es schien niemand auch nur die leiseste Ahnung zu haben, wie sie weiter vorgehen sollten.
Die Situation war so frustrierend wie ungewohnt, obwohl er den Großteil seines erwachsenen Lebens damit verbracht hatte, Regieanweisungen umzusetzen und vorgeschriebene Rollen zu spielen. Aber vielleicht wartete er ja genau deshalb auf Anweisungen oder den Befehl, vorzurücken, während immer mehr deutsche Soldaten an dem Waldrand vor der Bergflanke landeten. Sollte er selbst die Regie übernehmen? Ein verlockender Gedanke, denn ihre Aufgabe wurde umso schwerer, je länger sie warteten.
Martin hatte sich Kriegshandlungen immer schnell und voller Elan vorgestellt. Jetzt sah er enttäuscht ein, dass das Gegenteil der Fall war. Ein Krieg bestand aus qualvoll in die Länge gezogenen Augenblicken. Es war wie bei einer Filmaufnahme, wenn man ungeduldig darauf wartete, dass der Regisseur endlich "Action" rief.
Aus einem Anflug von Langeweile feuerte er eine Salve auf die Fallschirmjäger, die ihm am nächsten waren. Schüsse ins Blaue, die nichts erreichten. Martin hatte hinter einer abgeschossenen Junker 52 Deckung gesucht. Das Flugzeug war mit der Schnauze im Dickicht vergraben, während das Heck mit dem Hakenkreuz nach oben ragte.
"Worauf warten wir?"
"Auf die hohen Herrschaften", lautete die Antwort. Sergeant Eilertsen, ein untersetzter Kraftprotz, spuckte braunen Tabaksaft in den Schnee, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, schüttelte sich und legte die Hand wieder an das Maschinengewehr. "In Åndalsnes werden Regierungsvertreter erwartet, vorher sollen wir nicht vorrücken."
Mit jeder Sekunde, die wir warten, verlieren wir Terrain, dachte Martin.
Flugzeug auf Flugzeug spuckte neue Fallschirmjäger über Dombås aus. Die acht abgeschossenen Maschinen änderten nichts daran, dass immer mehr Soldaten ins Land kamen. Einige wurden sofort gefangen genommen. Zwölf waren in einem Güterwagen aus den Bergen nach Dombås transportiert worden, aber diese kleinen Erfolge täuschten niemanden.
Allem Anschein nach hatte General Falkenhorst den Einsatzbefehl gegeben, weil Gerüchte von der möglichen Landung alliierter Kräfte in Åndalsnes kursierten. Martin war in aller Eile von Setnesmoen hierher kommandiert worden, hatte bislang aber nicht einen einzigen Engländer gesehen.
Hin und wieder huschten Signallichter über den tief hängenden grauen Himmel. Der Regen machte den Schnee nass und schwer, sodass man kaum über die meterhohen Wehen kam. Flammen und Regen, dachte Martin. Seit seiner Kindheit verfolgten sie ihn. Der Regen an der Scheibe zu Hause in Valldal. Das Feuer in Bergen, das ihn gezwungen hatte, am dortigen Theater aufzuhören. Flammen und Regen.
Eine Bewegung rechts von ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Angeführt von einem Kapitän näherte sich eine Gruppe Soldaten und war bereit, weiter vorzurücken. Der Kapitän zeigte auf den Gipfel der bewaldeten Anhöhe. Martin sah zu dem Sergeant, der ein leises "Okay" flüsterte.
Er klopfte dreimal mit den Fingerknöcheln auf das Holz des Gewehrkolbens und rannte los, innerlich auf einen Kugelhagel eingestellt, sobald sie aus der Deckung kamen. Aber das Glück war auf dem Weg über die Ebene mit ihnen. Sie hatten den Waldrand fast erreicht, als zwei Granaten auf sie zuflogen. Eine bohrte sich tief in den nassen Schnee neben ihm. Wegrennen war keine Option. Er ließ das Gewehr fallen, warf sich auf den Boden und schob die Hand in das Loch, in dem die Granate verschwunden war. Er spürte das kalte Metall an den Fingern, bereute sein Vorgehen und glaubte, dass jetzt alles zu Ende war, doch schließlich gelang es ihm, sie aus dem Schnee zu ziehen und wegzuwerfen. Sie explodierte noch in der Luft, aber wenigstens ein Stück entfernt. Eilertsen brüllte, drehte sich auf die Seite, zog sich einen Splitter aus dem Schenkel und rappelte sich wieder auf, als wäre nichts geschehen. Der Kerl war wirklich ein zäher Hund. Gleich darauf knallte es erneut und zwei Männer an ihrer linken Flanke wurden in Stücke gerissen.
"Verteilt euch und rückt weiter vor!" Die Stimme des Kapitäns schnitt durch einen Moment der Stille, bevor die Hölle losbrach.
Die Schüsse kamen vom Waldrand, um sie herum spritzte der Schnee auf, aber sie robbten weiter auf die Bäume zu. Das trockene Knattern der Gewehre und die flüchtigen Mündungsfeuer zeugten davon, wie die Männer sich langsam den Hügel empor kämpften. Die zwei toten Kameraden blieben im Schnee liegen. Es war zu gefährlich, sie zu bergen.
Die Lungen brannten, die Muskeln in den Beinen krampften. Mit seinen 45 Jahren war es eine harte Prüfung, durch den nassen Schnee zu robben. Der Rest der improvisierten Einheit war bereits ein Stück vor ihm. Eilertsens gekrümmter Rücken verschwand rechts von ihm zwischen den Bäumen und er versuchte, dem kräftigen Mann im selben Tempo zu folgen. Er wollte nicht der Letzte sein.
Es war mittlerweile so dunkel, dass er kaum noch etwas sah. Hin und wieder waren die Stimmen von Deutschen zu hören, die überrascht wurden. "Bitte, nein! Nicht schießen!"
Trugen sie letzten Endes doch den Sieg davon?
Im Wald waren die Norweger in ihrem Element. Da schlugen plötzlich Kugeln in den Baum vor ihm ein. Martin ging in die Hocke und feuerte auf die Stelle, an der er die Mündungsflammen zu sehen geglaubt hatte. Jemand schrie auf, er sah den Rücken eines fliehenden Deutschen. "Stehenbleiben!", schrie er und schoss noch einmal. Der Deutsche kniete sich hin und reckte die Arme über den Kopf. "Bitte, bitte!"
Der Soldat war entweder ein Nachzügler oder Teil einer Einheit, die ihnen von hinten folgen sollte, um sie ins Kreuzfeuer zu nehmen. Plötzlich brach der Mond durch die Wolkendecke und warf fahles Licht auf die Szenerie. Martins Sinne waren geschärft.
"Umdrehen!"
Der Fallschirmjäger drehte sich um, die Hände noch immer über dem Kopf. Das Gewehr lag vor ihm im Schnee und aus seinem Gürtel ragte eine Luger. Das Gesicht war glatt, die Züge weich wie bei einem Kind. Wie alt mochte er sein? 20?
"Bitte, nicht schießen, bitte!"
Verdammt! Er war bereits abgehängt und hätte sich beeilen müssen, um die anderen zu unterstützen. Weiter oben hörte er einen heftigen Schusswechsel. Jetzt auch noch einen Gefangenen zu machen, hielte ihn nur auf, außerdem gab es diesbezüglich keinerlei Instruktionen. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke.
"Langsam aufstehen, die Hände über dem Kopf ", kommandierte Martin, während er im Kopf seine Möglichkeiten durchging. Sollte er ihn an einen Baum fesseln? Erschießen? Mitnehmen?
Der Deutsche beugte sich ruhig vor und stemmte die Hände auf den Boden vor sich. "Hände hoch, habe ich gesagt. Verdammt!"
Blitzschnell griff der Deutsche nach seiner Pistole. Martin glaubte erst nicht, was sich vor seinen Augen abspielte, und zögerte eine Sekunde. Es war nicht leicht, so dicht vor einem Menschen zu stehen, den man töten sollte. Das Licht in den Augen des jungen Mannes, der Atem aus seinem Mund. Ein Leben das ausgelöscht werden würde. Der Soldat hatte die Luger gezückt, ihre Schüsse fielen beinahe gleichzeitig. Martins Schädel dröhnte, und er war sich sicher, getroffen zu sein, als der Junge vor ihm zusammensackte und den Mund öffnete. "Ich wollte nur .", begann er und starrte auf seine Pistole.
"Was?", fauchte Martin. "Was wolltest du?"
Die Waffe rutschte aus den Händen des Deutschen, dann kippte er nach hinten und starrte mit gebrochenem Blick zum Himmel.
Er hatte ein Leben genommen, und auch wenn er darauf vorbereitet gewesen war, war die Erkenntnis ein Schock. Er suchte nach einem Gefühl, nach etwas, das ihm erklären konnte, was in ihm vor sich ging, fand aber weder Reue noch Genugtuung. Tief in sich spürte er nur nackte Kälte, die langsam Herz und Hirn einfror.
Über ihm dröhnte und knallte es, und er riss sich zusammen, um weiter vorzurücken. Der Kugelhagel nahm kein Ende. Kaum hatte er das gedacht, verstummte das Feuer, und kurz darauf kam eine...
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