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Svenja hatte ihn gedrängt, das Klassentreffen zuzusagen. Von sich aus wäre er nicht gegangen, hätte die Erinnerung nicht angerührt, sondern einfach weitergemacht wie bisher. Es war also nicht seine Schuld. Trotzdem lag Jan die ganze Nacht wach.
Um halb sieben dann huschte Tilli zu ihren Eltern ins Bett, wühlte sich in der leeren Mitte unter beide Decken und flüsterte abwechselnd in die Rücken: »Wann fahren wir endlich los?«
»Gleich, mein Schatz, lass uns erst einmal Kaffee machen. Du kannst ja schon anfangen, deine Sachen in den Rucksack zu packen.«
Svenja schob sich ihr Kissen unter den Kopf und blinzelte zum Fenster. Früher war's im Frühling heller, dachte sie, früher lag sie morgens in Jans Arm. Umschlungen schliefen sie ein und wachten verschmolzen auf. Die Kinder mussten sich morgens zwischen die warmen Körper drängen und mit ihren kleinen Ellenbogen den Platz erkämpfen, der sich jetzt, obwohl Tilli schon acht war, nur noch mit weit gespreizten Armen ausfüllen ließ, wenn sie Mama und Papa gleichzeitig berühren wollte.
»Wo hast du meinen Rucksack denn hingetan? Ich hab geguckt und gesucht, aber er ist nicht da.«
»Ich hab ihn nirgends hingetan, mein Schatz. Hast du unten im Schrank geschaut, oder vielleicht hattest du ihn mit bei Gina?«
»Bestimmt hat ihn Linus wieder genommen .«
Svenja richtete sich auf, wuschelte durch ihre Haare und gähnte. »Das glaub ich nicht.«
Tilli stampfte aus dem Zimmer. »Wer denn sonst.«
Jan sprang auf. »Ich such ihn, Tilline.«
Er schob einige Bügel im Kinderschrank beiseite, presste die Gästebettdecke nach oben gegen das Regalbrett, durchtastete alle darunterliegenden Laken. Vorbei an den Tennisschlägern entdeckte er den Beutel am Ende des untersten Faches. Was auch immer verloren ging, Jan fand es.
Und wie jedes Mal erzählte er Tilli, wie er, vielleicht drei oder vier Jahre alt, den Stecker vom Ohrring seiner Oma, also ihrer Ur-Oma, auf den Waschbetonsteinen vor der Garage entdeckt hatte.
Das winzige, goldene Halteteil des rubinroten Ohrrings fehlte seit Tagen, als Janni »Omi, Omi« rufend mit dem Stecker in der Hand die Treppe hochhastete. Er hatte mit einem Stöckchen eine Ameise durch die Fugen zwischen den Kieseln verfolgt, als der verschollene Stift einfach vor ihm lag und Janni sich so als »der beste Sachenfinder der Familie« für alle Zeit ins Gedächtnis brannte.
Tilli quittierte die legendäre Geschichte mit einem Schmunzeln, nahm den Rucksack und begann zu packen. Behutsam verstaute sie den Kuschelhund, zwei Bücher und das Kästchen mit dem Nagellack. Jan lehnte im Türrahmen, beobachtete sie, und es kribbelte in seinem Bauch. Ein unwillkürliches Ziehen, das sich um den Magen herum ausbreitete, durch seinen ganzen Körper wanderte und nichts anderes war als pure Liebe. So wie Adrenalin alle Glieder in einer Schrecksekunde erst heiß, dann kalt durchflutete, brauchte er bloß eines seiner Kinder zu sehen, und es kribbelte vor lauter Glück, einander zu haben.
Sein Beruf, die Fotografie, bedeutete ihm zwar viel, doch sollte er eines Tages diese Welt verlassen, dann in dem Wissen, für seine Kinder alles gegeben und ihnen den Weg ins Leben bereitet zu haben. Nicht, dass er sich, seiner Frau oder anderen etwas beweisen wollte, Jan war einfach so, hatte es sich nicht ausgesucht, so zu sein, und wurde manches Mal von Freunden, die eigentlich nur Kumpels waren, belächelt, wenn er nicht mit auf irgendeine Männerreise kam, Skifahren oder Ostsee, mal ohne Frauen und Kinder und bloß feiern. Es fiel ihm schwer, die Kinder zu verlassen, überhaupt waren Abschiede nicht sein Ding, und so wühlte er sich lieber durch den Sack mit Legosteinen, während die Kumpels die Tage ohne jede Verantwortung genossen. Und doch stand er jetzt da und sah sich selbst, wie aus dem eigenen Körper herausgetreten, von oben herabschauend, wie er seine Tochter beim Packen beobachtete -, und er wusste, dass morgen alles anders sein würde. Nicht, weil er es wollte, ganz im Gegenteil, er hatte alles daran gesetzt durchzuhalten, nichts in Frage zu stellen und seine verdrängte Sehnsucht im Verborgenen auszuhungern. Vergebens. Und als Jan nun so dastand, so kurz vor dem Aufbruch, war er sich selbst fremd.
Seine jugendliche Schlaksigkeit war geblieben, aber die blauen Augen waren kleiner geworden. Das Haar noch voll, doch langsam grau. Er beugte sich näher an den Badezimmerspiegel. Mit Lesebrille schrumpelte auf den von weitem sichtbaren Falten eine zweite Schicht kleinerer Fältchen vor sich hin. Am Hals mutierte die straffe Epidermis zur Altershaut. Angeblich hatte Audrey Hepburn deswegen Rollkragenpullover getragen.
Wo war die Zeit geblieben?
Jan nahm die Brille ab, schloss die Augen und wischte sich durchs Gesicht. Unvorstellbar. Heute war der Tag, er fühlte sich wie damals. Es gab keine Worte, um zu denken, was er die ersten zehn Jahre nach der Schule geträumt, dann aber zwanzig Jahre für unmöglich gehalten hatte. Und plötzlich war der Geruch da. Shalimar.
Svenja schnappte ihr Handy vom Nachttisch, kontrollierte, ob es auf lautlos gestellt war, und schaltete es ein. Sie überflog eine Nachricht, antwortete und wartete das zweite blaue Häkchen ab. Dann stand sie auf, ließ das Gerät in die am Boden liegende Reisetasche gleiten und schlängelte sich an Jan vorbei zu ihrem Waschbecken. In Sekunden flutschte sie die Kontaktlinsen rein, badete das verschlafene Gesicht in den Händen, fuhr in groben Zügen durch ihre Locken, friemelte einzelne Haare aus dem Kamm zu einem Knäuel und quetschte dieses halb unter den Deckel in den silbernen Eimer neben dem Schrank. Dann steckte sie das gekringelte Kabel vom Lockenstab in die Dose und war aus dem Bad, bevor Jans Zahnbürste das vierte Mal brummte. Die linke Linse saß verkehrt, sie nahm das hauchdünne Ding zwischen die Finger, wendete es, lutschte die unsichtbare Sehhilfe ab und setzte sie wieder ein, stockte, ging zurück an die Tasche, warf noch einen Blick auf das Handy, legte es neben sich auf das Fensterbrett und zog die Kleidertasche mit den vielen Reißverschlüssen aus dem Regal.
»Die kann ich nehmen, richtig?«, rief sie.
»Durch die Wand kann ich nicht sehen, welche.«
»Die Anzugtasche, zum Umhängen!«
»Kannst du. Aber ihr fahrt doch zu deinen Eltern?«
Svenja hängte das Sommerkleid mit dem schönen Ausschnitt von einem breiten Holzbügel auf einen dünnen Drahtbügel aus der Wäscherei. »Ja.«
»Und wer braucht da einen Anzug?«
Ihr Handy vibrierte und meldete so den Eingang einer Nachricht, sie schaltete auf Flugmodus und steckte das Gerät in die Hosentasche, als Jan plötzlich hinter ihr stand.
»Was ist?« Ertappt, sah sie ihn an.
»Ich zieh mich an.«
»Ja, wir müssen uns beeilen.«
»Was habt ihr denn gesagt, wann ihr da seid?«
»Na, so gegen elf.«
Sie ging mit zwei vollgestopften Taschen ins Bad, kringelte einige Strähnen um den heißen Stab, zog die Strippe aus der Dose und marschierte Richtung Küche.
»Linus, Tilli wir wollen frühstücken.«
Flaum und Pickel waren ungerecht verteilt, Linus haderte mit seinem Schicksal. Während Klassenkameraden sich über die nervige Rasiererei beschwerten, sehnte er im engen Kinderbad raue, möglichst dunkle Stoppeln herbei. Dass er noch nicht im Stimmbruch war, so wie alle anderen Dreizehnjährigen aus seiner Klasse, ärgerte ihn besonders.
»Für mich bitte Rührei!«
»Das hättest du dir selbst machen können«, sagte Svenja, »einfach mal früher aufstehen, dann geht das alles!«
Erschrocken fischte Svenja den Ehering aus dem Wasser, drehte sich zum Tisch, trocknete das Obst und schob ihn zurück über das winzige, ewige Treue versprechende Tattoo.
Sie hatte lange nicht mehr daran gedacht. Es roch nach Poffertjes und Sirupwaffeln, als sie am Morgen nach der Hochzeit an bunt bepflanzten Hausbooten vorbei entlang der Grachten spazierten und den kleinen Laden betraten, um sich das Symbol ihrer Liebe auf die Innenseite der Ringfinger tätowieren zu lassen.
Heute schien die liegende Acht sinnentleert wie eine Minibrezel, die Unendlichkeit hatte sich heimlich davongeschlichen, während Jan und sie um die Kinder rotierten, ein Tag dem anderen glich, wie ihr Trott dem all der anderen, vermeintlich Glücklichen, die alles hatten, nur einander nicht mehr. Die Küchenuhr zeigte acht. Svenja nahm die Butter aus dem Kühlschrank.
»Ist doch Wochenende«, quälte sich der lange Junge mit hängenden Schultern durch den Flur.
»Ist Wochenende, mein Schatz, aber wir wollen alle los, und ihr hättet ja auch helfen können, das ist ja keine neue Idee.«
Sie schnippelte Äpfel und Möhren.
»Nehmt ihr die ganze Klasse mit, oder für wen ist der Obstberg?« Schon während er sprach, ärgerte Jan sich über seine reflexartige Stichelei. Erwartungsgemäß verzog Svenja die Mundwinkel und schüttelte verständnislos den Kopf.
»Für uns, sonst niemanden.« Sie versuchte, einen als leichtes Stöhnen zu deutenden Ausatmer zu unterdrücken.
»Lass doch Mami«, sagte Linus, »vielleicht hat sie ja recht, und wir bleiben wirklich mal im Stau stehen.«
»Ihr fahrt mit der Bahn mein Schatz.« Jan dachte an den letzten Urlaub auf Kreta, als sie noch aufgeweichte Käseschnitten aus der Brotbox aßen, während die anderen Gäste sich an landestypischen Leckereien wie Saganaki und Okra-Schoten labten. Auch Linus' Hinweis, man könne in jedem Bahnhof, an Flughäfen und sogar Tankstellen geschmierte Brote, Schnitzel oder sonstwas kaufen, konterte seine Frau mit dem Argument der modernen...
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