Polen, Ukraine
Von Erfurt in Richtung Polen nehme ich die Autobahn. Im Abstand von einem Kilometer stehen jeweils zwei Polizisten am Straßenrand. Die Szenerie erinnert mich an Nordkorea1. Irgendwann kommt mir ein Castor-Transport entgegen, mit hundert Polizeiwagen Eskorte. Das erklärt das hohe Sicherheitsaufkommen. Hinter Dresden geht es dann für mich wieder ohne Überwachung weiter. Um sechs Uhr abends überquere ich die Grenze zu Polen. Die Sehnsucht nach der Ferne treibt mich voran. Aber nach Sonnenuntergang suche ich mir doch einen Campingplatz und frage im nächsten Dorf einen Passanten. Er winkt eine Fahrradfahrerin heran: »Mein Mann kann besser Deutsch«, sagt sie zu mir und bedeutet mir, ihr zu folgen. Als sie hinter einem zwei Meter hohen Gartentor verschwindet, sagt mir meine bisherige Reiseerfahrung: Ich schlafe nicht im Zelt.
Tatsächlich lädt mich der fünfundsiebzig Jahre alte Paul ein, bei ihnen zu übernachten. Wir setzen uns im Erdgeschoss in eine karge Küche, seine Frau Hilde geht in den ersten Stock und holt Kaffee. Kurze Zeit später serviert sie Tee und Brote, und Paul erzählt mir von seinem Leben. »Die Polen haben die meisten Deutschen ausgewiesen«, sagt er: »Aber nur die Großkopferten.« Leute wie er selbst mussten bleiben, sie wurden zum Arbeiten gebraucht, sagt er.
Mit ihren Kindern durften Paul und Hilde zwar nicht deutsch sprechen. Dennoch sind inzwischen drei von den fünf Sprösslingen nach Deutschland ausgewandert. Paul selbst will nicht weg aus Polen. Jetzt nicht mehr, nachdem er sich den Hof aufgebaut hat. »Der Tod ist so dürr, weil er sich nicht bestechen lässt«, sagt er mir noch, mit einem herzlichen Lachen, in dem viel Lebenserfahrung steckt.
Ich schlafe im Wohnzimmer auf einer großen, bequemen Couch mit vier riesigen Kissen. Nach dem Frühstück verabschiede ich mich. Hilde hat morgen ihren sechsundsechzigsten Geburtstag und lädt mich ein. Aber ich lehne dankend ab, denn in vier Wochen muss ich bereits an der mongolisch-chinesischen Grenze sein. Schade, eigentlich.
Am späten Nachmittag erreiche ich die Grenze zur Ukraine. Mit der Nelkenrevolution im November 2004 hat sich das Land dem Westen zugewandt, und der neue Staatschef Viktor Juscscenko setzte nach seiner Ernennung gleich ein für Reisende nützliches Zeichen: EU-Bürger können visumfrei einreisen. »Willkommen in der Ukraine«, begrüßt mich die junge Frau an der Grenze in beinahe akzentfreiem Deutsch, und gibt mir einige Stempel später meinen Reisepass wieder zurück: »Gute Reise!« Endloser Wald, ein teures Grenzetablissement, Schlaglöcher - genau so habe ich es mir vorgestellt. Die Stadt L'viv liegt nur siebzig Kilometer hinter der polnisch-ukrainischen Grenze, aber auch diese kurze Distanz schaffe ich nicht mehr bei Tageslicht.
Da ich ungern in Grenznähe zelte, halte ich in der kleinen Stadt Javonv. Dort gibt es ein Hotel, erfahre ich an der Tankstelle, aber keinen bewachten Parkplatz für mein Motorrad. Ein Polizist empfiehlt mir, nicht in der Nacht zu fahren. »Das Motorrad stellen wir in den Verkaufsraum«, bietet mir der Tankwart an: »Dort ist es sicher, weil ich die Tür zusperre und nur der Nachtschalter geöffnet ist.« Für meine persönliche Sicherheit scheint das kleine Zelt völlig auszureichen. Auch der Polizist ist zufrieden. Klar, was bin ich schon, im Vergleich zu meinem Motorrad?
Die Stadt L'viv habe ich vor acht Jahren schon einmal besucht. Inzwischen hat der Straßenverkehr stark zugenommen. Aber das holprige Kopfsteinpflaster ist eine Herausforderung geblieben, und an manchen Stellen ragen die Straßenbahnschienen so weit heraus, dass sie im spitzen Winkel gar nicht überfahren werden können. Das Zentrum ist völlig zugeparkt. Nur mit Mühe finde ich eine Lücke auf einem bewachten Parkplatz, wechsle in einer Bank nebenan Geld und spaziere dann den Boulevard hinunter zum Theater, an einem kleinen Markt vorbei und in eine Kirche hinein. Dort lässt mich strenge Gotik strammstehen.
Die Fassaden der Häuser im Stadtzentrum gefallen mir besser. Farbenfrohe Renaissance-Elemente, schwungvolle Barock-Verzierungen, verspielte Rokoko-Schnörkel, geradlinige Neoklassik - und die Sonne setzt alles effektvoll in Szene. Freilich, manches Kleinod wird inzwischen von Reklameschildern überdeckt. Zum Ausgleich hat die Marktfreiheit den meisten Häusern einen frischen Anstrich spendiert. Ich erinnere mich noch gut an den alten Friedhof von L'viv: Prunkvolle Grabmäler, gefühlvolle Skulpturen und knorrige alte Bäume. Ein Spaziergang durch das Leben, voller Freude und Leid. Aber dafür habe ich diese Mal keine Zeit. Dies ist nur eine Stippvisite, am Nachmittag schnüre ich bereits wieder mein Ränzel und ziehe weiter.
Die Straße führt unspektakulär geradeaus über das flache Land und bringt mich in Kiew schnurstracks zu einem sauberen, schattigen Campingplatz im Westen der Stadt. Dort treffe ich mein persönliches Highlight der ukrainischen Hauptstadt: Yuki, eine Japanerin, die seit drei Jahren allein mit ihrem Motorrad unterwegs ist. Es ist bereits ihre zweite Weltreise. Wir starten gemeinsam in Richtung Innenstadt, aber ich komme nicht weit. Erst höre ich etwas klappern, dann hupt mich ein Autofahrer an und deutet hinter mich: Mein rechter Alukoffer ist offen. Mist! Bei der nächsten Gelegenheit mache ich eine Kehrtwendung, fahre auf der anderen Straßenseite zurück und sehe von dort aus den Aludeckel am Mittelstreifen der sechsspurigen Straße.
Ich parke das Motorrad und würde am liebsten sofort losrennen. Nur wenige Meter trennen mich von dem verlorenen Teil. Aber der Verkehr ist mörderisch. Ungeduldig warte ich, bis sich eine Lücke auftut. Dann sprinte ich zum Mittelstreifen, beuge mich über die Absperrung, angle mir den Deckel und drehe mich wieder zu meinem Motorrad um. Inzwischen strömt die Blechlawine wieder dreispurig zwischen uns hindurch. Noch einmal sind es quälende Minuten - oder nur Sekunden? - bis sich wieder eine Lücke auftut.
Endlich kann ich mir den Schaden in Ruhe besehen. Ganz offensichtlich ist ein Lastwagen über das Blech gerumpelt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich vergessen habe, den Deckel zu schließen. Hoffentlich hat kein anderes Fahrzeug Schaden genommen. Der Deckel ist jedenfalls fürchterlich verbogen. Mit einem Stein lässt sich das nicht ohne weiteres wieder gerade klopfen. Ich verkeile den Deckel in der offenen Kiste und mache mich auf den Weg zurück zum Campingplatz, dort ist ein Citroên-Service.
Allzu viel Gas geben will ich nicht, da sich der Fahrtwind im offenen Koffer fangen und mir den Deckel wieder entreißen könnte. Aber ich muss mit dem Verkehr mitschwimmen, um die drei Spuren zu kreuzen. An der dafür vorgesehenen Stelle mache ich wiederum eine Kehrtwendung und benutze auf der anderen Straßenseite den Fußweg. Langsam vor mich hin rollend komme ich zu einer kleinen Autowerkstatt und präsentiere dem Mechaniker mit einer verzweifelten Geste in Richtung Koffer mein verbogenes Aluteil. Mit einer gelungenen Mischung aus besorgtem Kopfschütteln und beruhigendem Lächeln fordert er mich auf, zu warten.
Als ich an der Reihe bin, stellt sich heraus, dass Andrej, der Mechaniker, Deutsch spricht. Er war drei Jahre lang Schwarzarbeiter in Köln und würde gerne wieder nach Deutschland zurück. Das Visum koste nur vierzig Euro, erzählt er mir. Aber die Mafia verlangt zusätzlich zwei bis drei Tausend Euro. Andrej schwärmt vom sozialen Sicherungssystem in Deutschland und ich weiß nicht recht, wie ich ihm klar machen soll, dass er selbst mit seiner Schwarzarbeit dieses schöne System kaputt macht.
Immerhin richtet er meinen Aludeckel so gut, dass er wieder auf die Box passt. Beim Preis bitte ich ihn, eine faire, ukrainische Summe zu sagen, weil ich mir meine Reise sonst nicht leisten kann. Das versteht er, wünscht mir alles Gute und ermahnt mich zum Abschied, ich solle in Zukunft besser aufpassen. Am Campingplatz dichte ich den Deckel mit Silikon ab und hänge ihn zum Trocknen auf. Inzwischen kommt Yuki zurück und wir essen und ratschen und der Abend vergeht wie im Flug. Als ich am nächsten Morgen ein Foto von uns beiden machen will, stelle ich fest, dass der Gewindebolzen an meinem Stativ fehlt. Seltsamerweise liegt er weder im Gepäcksack noch sonst irgendwo. Ich durchsuche alles, aber er bleibt verschwunden. Nun denn, ich wollte sowieso in die Stadt.
Die beiden Hauptsehenswürdigkeiten in Kiew sind wohl das Höhlenkloster im Süden der Stadt sowie die Kathedrale der Heiligen Sofia aus dem elften Jahrhundert. Außerdem gibt es noch zahlreiche weitere Kirchen, Museen und Ausstellungen, um die Geschichte, Kultur und Tradition des Landes zu entdecken. Ich aber mache Fotoladen-Sightseeing. Yuki empfiehlt mir den unterirdischen Markt am Moskauer Platz. Dort wird mein Einkaufsbummel durch einen Stromausfall zum Spaziergang in der Geisterbahn. Im Halbdunkel taste ich mich von einem Fotoladen zum nächsten. Hilfloses Kopfschütteln schickt mich weiter. Zuletzt bekomme ich eine Adresse in der Stadt. Wenn sie mir dort nicht weiterhelfen können, dann kann es keiner, wird mir bedeutet.
Inzwischen bin ich verschwitzt und frustriert, froh wieder ans Tageslicht zu kommen und gleichzeitig ungeduldig und genervt vom dichten Stadtverkehr. Aber die Passanten, die ich nach dem Weg frage, können nichts dafür. Also setze ich ein freundliches Lächeln auf und bekomme zum Lohn ein Lächeln zurück. Meine Laune hebt sich ein bisschen, wird aber im Fotoladen sofort wieder...