2.
Wieso muss es nur so schrecklich heiß sein? Und wieso sagt uns Mrs. Clover nicht einfach, dass wir nach Hause gehen können? Bei dieser Hitze kann sich doch sowieso keiner konzentrieren. Es ist Mitte Mai und es fühlt sich an, als hätten wir Hochsommer. Wie wird es erst im Juli und August sein, wenn mir schon jetzt quälende 27 Grad das Leben in diesem Klassenraum zur Hölle machen?
»Mrs. Clover? Kann ich vielleicht kurz auf die Toilette?«, frage ich einfach, ohne dabei den Finger zu heben und warte ungeduldig auf ihre Antwort.
»Die letzten Minuten hältst du ja wohl noch durch, Hunter. Und beim nächsten Zwischenruf bekommst du eine Verwarnung. Haben wir uns verstanden?«
Ich zucke mit den Schultern. »Weiß nicht. Haben wir? Ich kann mich sehr schlecht konzentrieren, wenn ich auf's Klo muss.«
Mrs. Clover verdreht nur ihre braunen Augen und kehrt mir und den anderen Schülern den Rücken zu, um etwas an die Tafel zu schreiben. Ich habe die ganze Zeit nicht richtig zugehört, weshalb ich auch nicht weiß, worüber sie in diesem Augenblick redet. Ich habe sowieso keine Lust, bei diesen Temperaturen zu lernen. Ich werde ohnehin vergessen, was heute in der Schule passiert ist und die Hälfte von dem Stoff, den wir seit ein paar Wochen durchnehmen, werde ich sowieso nicht mehr in meinem Leben brauchen. Was kümmert es mich also, in welchem Jahr der erste Mensch auf dem Mond war? Und was für einen Durchmesser die Sonne hat? Wir leben auf dem Planeten Erde, in Doomstown, Georgia, Amerika, und die Sonne kann mich heute mal dezent am Arsch lecken. Das ist alles, was ich für den heutigen Tag wissen muss. Der Rest ist pure Zeitverschwendung.
»Der Durchmesser der Sonne beträgt 1.392.000 Kilometer, Mrs. Clover.«, antwortet Caleb, der neben mir an seinem Tisch sitzt und an dem Radiergummi seines Bleistifts kaut. »Die Sonne übertrifft 700-fach die Gesamtmasse aller acht Planeten des Sonnensystems. Das ist wirklich erstaunlich, nicht wahr?«
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Du bist so ein Streber«, flüstere ich ihm zu, als Mrs. Clover sich einem anderen Schüler widmet.
»Ach, halt doch die Klappe. Einer von uns muss ja mitschreiben. Wenn du mich nicht hättest .«, antwortet er schmunzelnd.
»Was dann, hm?«, will ich wissen und hebe eine meiner Augenbrauen an.
Ich lehne mich auf diesem unbequemen Plastikstuhl zurück und verschränke meine Arme , während ich Caleb genau mustere. »Denkst du, dass ich ohne dich aufgeschmissen wäre? Versteh das nicht falsch, klar? Aber ich würde die Highschool auch ohne dich rocken, Kumpel. Du bist zwar nett und sehr sozial und all das, was man sich nur wünschen kann, aber genau das könnte ich auch!«
»Mit Sicherheit könntest du das allein hinkriegen. Du willst es nur nicht«, fällt mir mein bester Freund ins Wort und zwinkert mir zu.
»Du kennst mich zu gut, Caleb. Zu gut.« Ich schenke ihm noch ein Lächeln, als ich auf die Uhr über der blauen Tür schaue und feststelle, dass ich noch zwanzig Minuten aushalten muss. Zwanzig Minuten mit einer vollen Blase. Unmöglich für mich, besonders wenn man in der Pause zwei Flaschen Mountain Dew getrunken hat.
Diesmal hebe ich meinen Finger und warte auf Mrs. Clover, doch diese dreht sich nicht um und faselt etwas davon, dass, wenn die Sonne die Größe eines Gymnastikballes hätte, die Erde daneben nur so groß wie eine Kirsche wäre.
»Mrs. Clover? Ich melde mich, aber Sie haben anscheinend keine Augen auf dem Rücken«, platzt es dann irgendwann aus mir raus, als sich die schlanke Frau zu mir umdreht und ihre schwarze Brille mit den breiten Bügeln gerade rückt.
»Ich habe keine Frage gestellt, also brauchst du dich auch nicht zu melden.«
Bevor sie sich wieder umdrehen kann, stehe ich auf und deute auf die Tür. »Ich muss auf's Klo, ob Sie das wollen oder nicht.«
Ich sehe in ihrem angestrengten Blick, dass sie etwas sagen will, aber nichts verlässt ihre Lippen. Stattdessen seufzt sie einfach nur und winkt in die Richtung der Tür. »Dann geh. Komm aber sofort zurück, ja?« Erschöpft streicht sie eine ihrer blonden Haarsträhnen hinters Ohr. Sie wäre eine hübsche Frau, wenn sie nicht immer so aggressiv aussehen würde.
Die Toiletten sind am Ende des Ganges und bevor ich den am meisten gefürchteten Raum der Quarter High betreten will, stoppe ich vor dem Klassenraum meiner Freundin Cara.
Cara ist für ihre großen, dunklen, glänzenden Augen bekannt und auch ihr voller Mund und das braune Haar lassen sie außergewöhnlich schön aussehen. In der Schule trägt sie selten Make-Up. Manchmal schminkt sie ihre Augen etwas dunkler, mehr aber auch nicht. Da Cara mexikanische Wurzeln hat, sieht ihre Haut immer sanft gebräunt aus.
Das Mädchen meiner Träume, zumindest so lange auch sie mich toll findet. Ich bin ein misstrauischer Mensch und ich weiß, dass sich das Leben ganz schnell ändern kann, also genieße ich unsere Beziehung unter Vorbehalt. Ist das nicht total bescheuert? Und ob, aber ich betrachte unsere Liebe sicherheitshalber realistisch. Ich genieße die guten Momente, bereite mich aber auch auf weniger gute Tage vor. Immerhin gehen wir bald aufs College und wer weiß, ob wir dann überhaupt noch zusammen sein wollen. Lieber gehe ich vom Schlimmsten aus, als mich optimistisch, blind und naiv in unserer regenbogenfarbenen Fantasiewelt zu verlaufen. Ich hoffe einfach darauf, dass ich überrascht werde und Cara und ich für immer und ewig zusammenbleiben, bis wir alt, hässlich und faltig sind. Überraschungen sind gut. Jeder mag Überraschungen. Meine Einstellung ist also eine richtige Win-Win-Strategie. Ich bin in jedem Fall auf eine Enttäuschung, aber auch auf das Gegenteil vorbereitet. Ich bin ein Genie.
Die Zahlen an der Tafel sehen nach Mathematik aus. Auf Zehenspitzen stehe ich da und schaue durch das kleine Fenster in der Mitte der Tür. Noch so ein nervtötendes Fach, aber bei Mathe sehe ich ein, dass man zumindest das Addieren, Dividieren, Multiplizieren und Subtrahieren beherrschen sollte. Diese Dinge sind genauso wichtig wie das Lesen und Schreiben. Aber wieso muss ich wissen, wie man Parabeln berechnet, wie sie aussehen und so weiter? Im Unterricht gibt es einige Themen, bei denen man getrost auf's Klo gehen kann.
Wie ein Hampelmann versuche ich Caras Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Sie sitzt aber einfach nur da und notiert sich, was Mr. Kotter erzählt. Sie ist eine gute Schülerin, zumindest in den Kursen, die sie nicht mit mir teilt. Da sie in der fortgeschrittenen Klasse für Mathematik ist, braucht sie keine Angst haben, dass ich ihr in diesen Stunden auf die Pelle rücken werde. Auch wenn ich ziemlich gut in Mathe bin, Lust auf noch mehr Lernerei habe ich überhaupt nicht.
Plötzlich stößt Alison ihren Ellenbogen gegen Caras Schulter, die aber Alison dafür nur einen mahnenden Blick zuwirft. Oh ja, so ist meine Cara, richtig genervt, wenn man sie beim Lernen stört. Alison gibt aber nicht auf und flüstert Cara etwas zu. Da Lippenlesen leider noch nicht zu meinen Fähigkeiten gehört, warte ich einfach ab, was passiert. Und dann bekomme ich endlich das, wofür ich überhaupt hier bin, Caras Lächeln, als sie mich entdeckt.
Caras Lächeln ist besonders. Ich kann es aber nicht wirklich beschreiben. Wenn sie lacht, will ich auch lachen. Liegt wahrscheinlich daran, dass sie ein netter Mensch ist und eine tolle Ausstrahlung hat. Oder empfinde nur ich so, weil ich sie liebe? Müssen Caleb und Freddy auch lachen, wenn Cara lacht? Bei Gelegenheit werde ich mal darauf achten.
Mit vollem Körpereinsatz versuche ich ihr zu sagen, dass sie hinauskommen soll, aber alles, was ich von ihr zurückbekomme, ist ein Augenrollen.
»Ernsthaft? Wie kann man so besessen vom Unterricht sein?«, fragte ich leise, erwarte aber keine Antwort. Schließlich weiß ich, dass sie mich nicht hören kann. Es passiert aber hin und wieder, dass ich mit mir selbst rede, das ist nichts Ungewöhnliches für mich.
Nach ein paar weiteren Versuchen gebe ich auf. Im Unterricht ist Cara nicht abzulenken. Während sich andere Mädchen im Unterricht die Haare kämmen und ihre Augen schminken, sitzt Cara einfach nur da und beantwortet die gestellten Fragen mit einer Leichtigkeit, die ich sonst nur von Caleb kenne. Sie ist sehr ehrgeizig. Das ist lobenswert, manchmal aber auch echt anstrengend. Wenn ich zum Beispiel auf eine Party gehen will, bleibt sie lieber zu Hause, um in aller Ruhe zu lernen und sich auf den nächsten Tag vorzubereiten. Sie ist trotzdem keine Streberin, auch wenn ich sie gerade so beschreibe. Sie hat einfach Ziele im Leben, von denen sie sich nicht abbringen lassen will. Das ist doch gut, oder? Wenn nämlich eines ihrer Ziele ist, dass ich in ungefähr zwanzig Jahren der Vater ihrer Kinder sein werde, unterstützte ich ihre Besessenheit sehr gerne.
Ich gebe mich geschlagen und mache mich auf den Weg. Der am meisten gefürchtete Raum der Quarter High befindet sich direkt vor mir. Ich verstehe, warum niemand die Kloräume betreten will. Der Gestank ist bestialisch. Eine Mischung aus Fäkalien, Zigarettenrauch und Cannabis. Warum geht jemand ernsthaft in diesen Raum, um an einem Joint zu ziehen oder eine Zigarette zu rauchen? Was kann im Leben so falsch gelaufen sein , dass so süchtig nach etwas ist und dafür diesen abartigen Geruch in Kauf nimmt?
Mit einer größter Überwindung öffne ich die rote Tür mit dem schwarzen Männchen drauf. Natürlich hilft es nicht, dass ich mir die Hand vor den Mund halte. Und auch das Atemanhalten rettet mich nicht. Ich müsste die Hälfte meiner Sinnesorgane loswerden, um es ein paar Minuten länger in diesem...