Schweitzer Fachinformationen
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Der Nebel liegt wie ein Leichentuch in den Straßen der verdunkelten Stadt. In den Kellern der geschundenen Häuser ist es still nach der ersten Angriffswelle. Totenstill. Die Bewohner der Ruinen sitzen dicht aneinandergedrängt. Stumm teilen sie ihre Angst, spenden sich Schulter an Schulter Hoffnung. Mit jedem Staubkorn, das von den maroden Ziegelgewölben rieselt, wächst der Hass in ihnen. Wut schreit aus den traumatisierten Gesichtern derer, die sich nach der Entwarnung scheu auf die brennenden Straßen retten. Etwa so, wie am betonierten Luftschutzkeller gegenüber dem hohen Amtsgebäude, das wie zum Hohn noch nie einen Treffer abbekommen hat - mitten in Stuttgart.
Gramers Blick flieht gehetzt auf das emaillierte Zifferblatt der Wanduhr. Federnd springt der Minutenzeiger einen Balken weiter. Unzählige Ordner und Mappen türmen sich um ihn herum. Aufgerissen, als würden sie nach ihm geifern, erzählen sie von panischem Beseitigungszwang.
In den von offenen Feuern beleuchteten Räumen des Amtsgebäudes herrscht Hektik. Unsichtbar wabert die Furcht durch die kahlen Gänge, mischt sich mit dem säuerlichen Schweiß der Linientreuen. Sie kennen das Gefühl nicht, das sie noch vor wenigen Tagen selbstbewusst unter die Bevölkerung gestreut haben. Nun nimmt sie die Panik ein, wie eine zurückschlagende Woge, die sie selbst ausgelöst haben.
Und so leistet auch Bartholomäus Gramer dem System einen letzten, treuen Dienst. Sterbehilfe, Schadensbegrenzung oder wie man es auch nennen will. Er weiß, dass dieser Akt nichts anderes ist als das Eingeständnis kollektiven Versagens. Aber Gramer gehorcht, spielt beharrlich seine Rolle zu Ende. Wenn auch mit einer veränderten Intension, die nicht nach außen dringt. Er folgt nicht länger der großen Order aus Berlin. Er ist nur noch darauf bedacht, alles Verdächtige auszulöschen. Alles, was seinen Namen, seine Handschrift trägt. Und in seiner Vernichtungswut ist er gründlich. Gramer funktioniert. So, wie er es immer getan hat.
Niemand im Amt schätzt den jungen Emporkömmling mit dem unbewegten Gesichtsausdruck. Keiner sieht hinter seine makellose Fassade. Wann immer er darauf angesprochen wird, macht Gramer einen strikten Hehl aus seinen Verbindungen nach ganz oben. Selbst dann noch, als die Adern des Systems schon amputiert sind; als er ganz auf sich selbst gestellt ist. Gramer genießt die Einsamkeit hinter seiner Maske aus steifem, aalglattem Nazigehabe. Sie ist Garant für ein Leben über der Masse; dem Pöbel, den er abfällig als Speichellecker bezeichnet. Ein ungewöhnlich hoher Rang droht von seinen schwarzen Schulterklappen. Nur, wie lange noch? Einen Tag, ein paar Stunden?
Irgendwann hält Gramer gedankenversunken inne. Er wischt sich mit dem Uniformärmel den Schweiß von der Stirn. Wohltuende Erinnerungen drängen sich zwischen seine fliehenden Gedanken. Er lässt sie zu, träumt sich für einen Moment nach Berlin zurück. Er sei der perfekte Mann, hatte der Führer gesagt. Er wäre wie geschaffen für diesen koordinativen Posten außerhalb der Politik, nahe der Wehrmacht und mitten in der lukrativen Kriegswirtschaft.
Als er aus seinem Wachtraum erwacht, scheint ihm die Gegenwart schal und grau. Eine Gänsehaut überläuft seinen Körper. Wie hatte sich all das Heroische, das Überragende so schnell abnutzen können? Wo war die Vorstellung von Ehre, der Glaube an das tausendjährige Reich hingegangen? Versank all das unaufhaltsam im Dunkel einer ungewissen Zukunft? Gramer gesteht sich den Untergang seiner Ideologie ein. Widerwillig, trotzig. Dabei hatte er schon vor Monaten begriffen, dass er sterben muss, um zu leben. Zumindest auf dem Papier. Es wird rasch gehen, denkt er vor sich hin und flüchtet sich für ein paar Sekunden hinüber in die rettende Fantasie des Endsieges. Für einen Moment hofft er auf die viel gepriesenen Wunderwaffen. Er weiß, dass es sie gibt. Gramer muss es wissen, gerade er.
Der nächste Alarm schwillt an. Gramers Bewegungen stocken. Das lodernde Feuer im Kamin lässt dunkle Schatten auf seinem glänzenden Gesicht tanzen. Für einen Moment sieht er auf die beiden eleganten Lederkoffer neben seinem Schreibtisch. Dann nickt er sich selbst zu, als würde er sich soeben von jemandem verabschieden. Der SS-Standartenführer Gramer sagt sich im blutleeren Augenblick des Untergangs von allem los. Von seiner ideologischen Überzeugung, von den Erinnerungen an das, was geschehen war, ja, selbst von dem, was noch in Begriff ist zu geschehen. Zum ersten Mal seit Jahren kreisen seine kanalisierten Gedanken nicht mehr um den Krieg. Sie greifen nach dem Frieden, der weder zu seinem Geist noch zu seiner ganzen Erscheinung passen will. Sie wechseln verräterisch die Seite, ringen um seine neue Identität, die beruhigend in den schwarzen Koffern ruht.
Gramer weiß um das doppelzüngige Spiel in den nächsten Tagen. Diesen zerrissenen Akt, in dem er seinem sterbenden Herrn noch treu die Hand hält. Ihm graut vor den Hyänen der Gestapo. Er kennt ihre Folterverhöre, mit denen sie alles zutage fördern könnten, was am Grunde seiner Seele begraben liegt. Am Ende steht für ihn eine mit erschreckender Einfachheit beseelte Einsicht: Er muss handeln. Jetzt. In diesem Augenblick.
Unzählige Bombermotoren pflügen sich in 3.000 Meter Höhe durch den schwäbischen Nachthimmel. Das Schummerlicht der Verdunklung zittert; erlischt schließlich ganz. Gramer ist allein. Ruckartig reißt er den Telefonhörer von der Gabel. Er weiß, dass die Leitungen während eines Angriffes kaum belegt sind, dass alle außer ihm im Schutzraum des großen Gebäudes sitzen. 20 Meter unter der Erde, gleich neben der Telefonzentrale. Gramers Stimme klingt militärisch bestimmt: »Ab heute sind wir in Verzug. Sind wir ausverkauft?«
Der Sturmscharführer am anderen Ende fasst sich entnervt an die Stirn. Mathes Krüb ist fahrig, vollkommen aufgelöst. Er weiß, dass Gramer seine Antwort nicht gefallen wird. »Wir haben noch Restposten«, dringt es nüchtern aus dem Hörer.
Gramer schlägt mit der flachen Hand auf den Schreibtisch und fingert nach dem Befehlsschreiben des Oberkommandos. »Wie kann das sein? Ich muss Vollzug melden!«
Krüb, der klein gewachsene, drahtige SS-Mann, wird ungehalten. »Wie das sein kann? Sieh aus dem Fenster, du Idiot! Es gibt keine Züge mehr, überall nur noch zerbombte Bahnstrecken. Die Lastwagen sind alle schon auf dem Weg zur Alpenfestung. Eine verdammte Scheiße ist das hier!«
Gramer zwingt sich zur Ruhe, lässt Krübs ungestüme Welle in einer langen Pause abebben. Er kennt seine aufbrausende Art seit der Volksschulzeit in Blaubeuren. »Wie viel ist es?«
180 Kilometer entfernt nimmt Krüb eine zerknitterte Liste auf und blättert umständlich auf die letzte der klammen Seiten. »Ladung für zwölf Achsen plus zwei für die Mannschaft.«
Gramer spürt, wie sein Puls gegen den engen Kragen hämmert. Er verzieht das kantige Gesicht, als habe er Schmerzen. »Es muss alles weg! Alles! Es darf in keiner Weise auch nur den geringsten Rückschluss geben. Kein Zettel Papier, kein Fetzen Stoff und schon gar keine . Die Operation muss .«
Er wird energisch unterbrochen. Krübs Stimme überschlägt sich: »Wie denn, verdammt noch mal? Bei mir liegt derselbe Befehl und noch ein weiterer dazu! Unternehmen Nero, Operation Zunft! Fällt euch da oben denn nichts Besseres ein? Natürlich! Jetzt, da der Amerikaner über den Rhein ist, pressiert es den hohen Herren! Und wir stehen hier allein, ohne Material, ohne Transport und sollen die Kartoffeln aus dem Feuer holen? Gestern ist der letzte Zug durchgekommen. Seither ist ab Karlsruhe alles dicht! Aber wem sage ich das!«
Gramer kann den aufgebrachten Atem Krübs deutlich hören. Er sinkt entmutigt auf seinen Sessel zurück und knöpft sich nervös die Uniformjacke auf. »Wir werden es zu Ende bringen! Ich melde mich wieder, sobald ich Max erreicht habe.«
Die Nacht hat Blaubeuren fest im Griff. Dunst zieht von der Blau in die steilen Wälder. Alles ist ruhig, beinahe schon friedlich. Doch man schläft nicht gut in dieser Nacht; obwohl es eine der wenigen ist, in der kein Alarm über die Hügelkette von der Stadt herüberschwappt. Wie ein Schatten schwebt die Ohnmacht des Untergangs über der unschuldig wirkenden Gemeinde, lässt diese Nacht noch schwärzer wirken als die vielen vor ihr. Schiere Angst schleicht sich in die Häuser; unsichtbar und unaufhaltsam. Blaubeuren stockt der kommunale Atem in der Stunde Null, die nun schon Tage andauert.
Der Hörer zittert viermal auf der Gabel. Es dauert eine Weile, ehe Maximilian Ströttner das aufdringliche Klingeln wahrnimmt. Scheppernd zieht es ihn aus seinem intensiven Traum. Als sich das finstere Bild der Realität vor seine Augen schiebt, jagen unliebsame Ahnungen durch sein Gehirn. Ströttner ist sofort klar, dass es um diese Zeit nur einer sein kann.
Zögerlich legt er seine Hand auf den Hörer, glaubt am penetranten Klingeln hören zu können, dass es Schwierigkeiten gegeben haben muss. Schließlich nimmt er ab. »Ja?«
Ströttner erkennt Gramers Stimme sofort. Er bleibt ruhig, hört ihm wortlos und konzentriert zu, bis nur noch Schweigen durch die Leitung knistert. Dann knarrt es aus seiner vom Schnarchen ausgetrockneten Kehle: »Ich soll euch den Kopf aus der Schlinge ziehen?«
Gramer stößt seinen Atem überheblich in den Hörer. »Lassen wir die Spielchen, Max. Du steckst genauso tief drin wie wir alle. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, fliegen wir auf! Du kannst dich jetzt nicht verweigern!«
»Ihr bekommt also Druck von oben?«
»Herrgott, Max. Es...
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