13. Ein Seltsamer Besuch
Lydia, die Zofe, stand ratlos vor dem großen Schrank der Gräfin.
»Ich bitte um Verzeihung. Ist gnädige Frau sich wirklich sicher? Sollen es tatsächlich alle Kostüme und Kleider sein?«
Maria stand abwesend am Fenster und blickte hinauf zu den Bergen. Sie drehte ihren Kopf halb zur Seite, ohne Lydia anzusehen.
»Ja, alle, welche sich im Schrank befinden.«
Lydia schüttelte den Kopf und fügte an: »Es ist so schade um das herrliche Tuch. Dabei kann ich nicht einmal garantieren, dass der Schneider auch Verwendung dafür findet. Aber da Frau Gräfin mich danach gefragt hatte .«
Maria wandte sich vom Fenster ab, schritt auf Lydia zu und nahm ihre Hände in die ihrigen.
»Gute Lydia, sei versichert, es ist besser so. Zu Panzo und Tomasi kann ich die Robe nicht wieder zurückschicken. Und wenn sie der örtliche Schneider nicht annimmt, dann biete sie auf dem Markt feil. Es ist nicht maßgeblich, dass sie verkauft werden. Ich möchte nur nicht, dass meine Kleider nutzlos im Schrank hängen, ohne von jemandem getragen zu werden.« Maria blickte voller Trauer in den Magnolienhain hinaus und fügte mit bebender Stimme an:
»Ich werde mein Leben lang nur mehr schwarz tragen. Und zudem werden mir diese Kleider in Kürze auch nicht mehr passen.«
In ihrem verklärten Blick trafen sich Trauer und Hoffnung, als sie sich liebevoll über den Bauch fuhr.
»Was hat sich eigentlich in diesem Mordfall getan? Haben Herr Inspektor den Mörder überführen können?« Rattei und der Inspektor waren sich zufällig beim Markt über den Weg gelaufen und ins Gespräch gekommen. Der Inspektor zuckte mit den Achseln und schmunzelte über die Neugier Ratteis.
»Er hat ein gutes Gedächtnis! Das ist immerhin schon eine Weile her.«
»Man merkt sich nicht viel im Geschäft mit dem Tod, ich würde sonst ja trübsinnig werden. Aber dieser Abend, nein, der geht mir nicht aus dem Kopf. Insbesondere wie dieser merkwürdige General auftauchte .«
Der Inspektor blies amüsiert den Atem durch die Nase.
»Visarelli? Ich habe mir in der Tat lange überlegt, in diese Richtung zu ermitteln. Heute kann ich mir selbst danken, es nicht getan zu haben. Dieser Mann ist ein Volksheld, ein gefeierter Volksheld. Hätte ich damals auch nur den geringsten Verdachtsmoment gegen ihn vorgebracht, stünde ich heute trotz meines Alters wohl an der Front wie viele meiner Kollegen.«
Rattei lächelte selbstgefällig und hob den Zeigefinger: »Manchmal ist es eben gut, auf den alten Rattei zu hören.«
Der Inspektor lächelte nur, sagte nichts darauf und schlenderte weiter. Plötzlich aber blieb er wie angewurzelt vor einem Marktstand stehen. Seine Gesichtszüge wurden mit einem Mal hart. Er zog sein Monokel aus der Tasche und beugte sich forschend über die ungewöhnliche Auslage des Standes. Rattei blickte ihn nachdenklich von der Seite an.
»Ispettore? Ist alles in Ordnung?«
Der Inspektor winkte ab und sah der erschrockenen Marktfrau durchdringend in die Augen.
»Woher hat Sie diese Kleider?«
»Ich habe mir nichts zu Schulden kommen lassen, Herr Inspektor«, stammelte die Marktfrau ängstlich. »Die Lydia vom Schloss . Sie hat sie mir gegeben, dass ich sie verkaufen solle! Ihre Herrin wollte sie nicht mehr tragen, nachdem ihr Herr Gatte gefallen sei.«
Der Inspektor zückte sein Blöckchen und fing an, sich ein paar Notizen zu machen.
Rattei hatte längst bemerkt, dass der Inspektor nicht aus privatem Interesse Frage um Frage stellte. Der beflissene Kriminalbeamte wirkte ungemein konzentriert. Seine Gelassenheit schien verflogen, als sei er in einem ganz bestimmten Fall auf eine glühend heiße Spur gestoßen.
Rattei kam sich überflüssig vor und zog den Hut.
»Dann werde ich Herrn Inspektor nicht länger stören. Einen schönen Tag darf ich .«
»Nein, Rattei!«, unterbrach ihn der Inspektor, ohne ihn anzusehen.
»Bleiben Sie hier. Ich brauche Sie noch.«
Rattei brachte ein verhaltenes »Selbstverständlich« hervor und nahm Haltung an.
Der Inspektor zog seine Brieftasche hervor, entnahm ihr einen großen Schein und stellte mit sachlichem Ton fest: »Das wird wohl ausreichend sein.«
Die Marktfrau knickste und fragte verunsichert nach: »Herr Inspektor nehmen alle Kleider?«
»Alle«, entgegnete er knapp. Dann wandte er sich zu Rattei.
»So hilf Er mir beim Tragen. Zur Wache ist es ein gutes Stück zu gehen!«
Visarelli hielt seit Minuten Trost spendend Marias Hand. Seine Nähe zu ihr trieb ihm keine Schweißperlen mehr auf die Stirn. Selbst ihr gütiger Blick brachte ihn nicht mehr an den Rand des schieren Wahnsinns. Er hatte beinahe erreicht, wonach er all die Jahre strebte. Das, was für ihn zum inneren Zwang und Wahn geworden war, an dem er fast zerbrochen wäre. Visarelli fühlte sich wie von einer schweren Last befreit. Er spürte, wie für ihn die Zukunft anbrach und er kostete jede Minute davon aus. Eine Zeit ohne Schwermut, ohne dunkle, böse Gedanken. Der vollendete Plan, der ihn so weit gebracht hatte, war sang- und klanglos in der Vergangenheit versunken. Visarelli hatte ihn mutwillig verdrängt, ja vergessen. Es war vorüber. Manuell gehörte nun für alle Zeit der Vergangenheit an. Von jetzt an gab es nur ihn und Maria. Zumindest in den wenigen Tagen, die er sich erlauben konnte, seinen Posten zu verlassen. Irgendwann, so sagte er sich, würden sie zusammenwachsen. Vielleicht nicht sofort. Aber gewiss bald, davon war Visarelli felsenfest überzeugt.
»Es ist einsam geworden, Flavio. Das Schloss wirkt wie ein Gefängnis auf mich, in dem ich, wohin ich mich auch wende, überall an ihn erinnert werde.«
Visarelli senkte geschlagen den Kopf; er spielte den Mittrauernden.
»Ich wollte, ich könnte dir die Einsamkeit öfter verkürzen. Du musst wissen; damals, nach der schrecklichen Sitzung im Sommerpalais gab ich Manuell ein ehernes Versprechen. Ich schwor, mich um dich und Josef zu kümmern, falls Manuell .« Visarelli sprach den Satz nicht zu Ende. Er seufzte tief, während er sich erhob und auf den großen Wandteppich im Saal zustolzierte.
»Ich ahnte nicht in Ansätzen, wie schwierig dieses Wort, das ich ihm gab, zu erfüllen sein sollte! Josef hat sich von mir abgekehrt, beschreitet seinen eigenen Weg, von dem ihn nichts auf der Welt abbringen kann. Und dieser gottverdammte Krieg!« Visarelli drehte sich zu Maria um. Seine Mimik wechselte übergangslos von tiefer Wut zu perfekt gespieltem Leiden.
»Verzeih, Maria. Meine Pflicht erlaubt es mir nicht, öfter bei dir zu sein, um dir die einsamen Abende zu verkürzen. Alles, was ich tun kann, ist meinen maßgeblichen Teil dazu beizutragen, diesen mörderischen Krieg so rasch wie möglich zu beenden. Danach, Maria .«
Maria hatte sich ebenfalls erhoben und unterbrach Visarelli, der sogleich schwieg.
»Es ist gut zu wissen, von einer so treuen Seele, wie du es bist, umgeben zu sein, Flavio. Ich danke dir aus tiefstem Herzen und bitte dich zugleich, nicht müde zu werden, Josef vor Augen zu führen, dass ihn sein Hass ins Verderben führen wird. Du weißt, er ist jetzt alles, was mir verblieben ist. Ihm gilt meine ganze Liebe.«
Maria verstummte unter einem kaum merklichen Schluchzen. Sie war mit einem Mal blass geworden und legte ihre Hände auf ihren Bauch. Visarelli bemerkte ihre Schwäche und schritt sofort besorgt auf sie zu.
»Fühlst du dich nicht wohl? Soll ich meinen Arzt rufen?«
Maria hob abwehrend die Hand. »Es ist nichts, sei unbesorgt. Nur manchmal drängt sich eine seltsame Hoffnung in mein Bewusstsein, dass er irgendwann in der Tür steht. Ich weiß, es ist töricht, daran zu glauben, und wahrscheinlich entspringt dieses Gefühl nur dem innigsten meiner unerfüllbaren Wünsche. Und doch ist mir manchmal, als wolle irgendetwas in mir sagen, dass er lebt.«
»Völlig ausgeschlossen!«, brach es überzeugt und kalt aus Visarelli hervor. Maria blickte ihn lange an, ohne ein Wort zu sagen.
»Entschuldige bitte. Das war pietätlos von mir. Ich wollte .«
»Nein, Flavio«, unterbrach ihn Maria, »du hast ja Recht. Ich muss mich damit abfinden. Aber auch das wird niemals etwas daran ändern, dass ihm meine ganze Liebe gilt. Ich werde ihn für immer in meine Gebete einschließen.« Visarelli presste vor Wut seine Kiefer aufeinander und besänftigte sich mit Gedanken. Treue Seele, guter Freund . Das reicht mir nicht! Selbst über den Tod hinaus steht er mir noch im Wege. Aber die Zeit wird's richten. Früher oder später gehörst du mir, Maria.
»Gnädige Frau; ein Herr Ispettore Martinelli wünscht Sie zu sprechen.«
Ein Zimmermädchen war in den Saal gekommen und unterbrach die Unterhaltung. Visarelli stutzte.
»Ispettore Martinelli?«
Maria tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen und beschwichtigte:
»Sicher nur wegen Manuells Tod. In den letzten Wochen bezeugten mir Menschen ihr Beileid, die ich nie zuvor gesehen habe.«
Visarelli nickte wissend.
»Dann werde ich mich nun empfehlen. Die Zeit drängt; man erwartet mich heute im Stab zurück.« Er nahm Marias Hand, küsste sie und schritt forsch durch die Empfangshalle an den großen Ohrensesseln vorüber. Dem ihm abgewandten Inspektor schenkte er keinen Blick, nahm seinen Mantel und die Mütze von einem Diener entgegen und eilte hinaus.
Das Zimmermädchen machte einen kaum...