Das Davor
Es war ein verregneter Tag, als ich einsam über das Hochplateau ging. Zwischen den mächtigen Felstrümmern, welche vor Urzeiten mit ohrenbetäubendem Krachen von den hohen Gipfeln herabgepoltert sein mussten, lag ein grauer Dunstschleier. Schon vor Stunden hatte der Regen eingesetzt und verlieh den Bergen ein bedrohliches, abweisendes Antlitz. Alles troff vor Nässe; die Nordostwand der Croda, die spärlichen Lärchen und Zirben, das harte Gras und nicht zuletzt ich selbst.
Dort, wo ich ging, gab es keinen Weg, um an irgendeiner Hütte anzukommen und sich in der warmen Gaststube aufzuwärmen. Das aber stand von vornherein auch nicht in meiner Absicht. Ich war allein, zeitlos und wollte es auch sein.
Die Gegend kannte ich nur aus der Wanderkarte, zumindest bis zu diesem Morgen. Angesichts des miserablen Wetters stellte ich mir mehrmals die Frage, weshalb ich mich für jene Reise in die Dolomiten entschieden hatte und nicht stattdessen ans Meer gefahren war. Warum wählte ich gerade dieses enge Tal? Aus welchem Grund stolperte ich heute so gedankenversunken über diese unwirkliche Ebene?
Es gab keine Antwort auf meine Fragen. Und heute, nach all der Zeit, weiß ich nicht einmal mehr genau, wann mich jenes seltsame, unheimliche Gefühl zu beschleichen begann, schon einmal hier gewesen zu sein. Für meine fehlende Ortskenntnis in diesem Gelände wohnte meinem Gang zu viel Zielstrebigkeit inne. Es gab manches auf der unbekannten Hochfläche, was mir seltsam vertraut vorkam. Anfangs tat ich es noch als eine zufällige Ähnlichkeit des Geländes ab und suchte nach dem passenden Gegenstück in den heimischen Bergen, das ich irgendwann, vielleicht vor Jahren schon, bewandert und wieder vergessen hatte. Doch so sehr ich auch in meinen Erinnerungen stöberte, ein passendes Pendant wollte sich nicht finden lassen. Ich wurde stutzig und fing an, mich über mich selbst zu wundern. Es war nicht mehr zu leugnen. Ohne eigenes Zutun manifestierten sich in meinem Gehirn vage Denkanstöße zu beinahe konkreten Erinnerungen. Jeder Felsen, an dem ich vorüberging, jeder Ausblick, den der Hochnebel freigab, lösten in mir kurze, beängstigende Déjà-vus aus. Fast schien es mir, als drängte sich eine unerklärliche Ahnung mit jedem Schritt, den ich tat, stärker in meinen Geist, um sich, mit dem Ziel, aus Visionen unumstößliches Wissen zu formen, Raum in meinem Denken zu verschaffen. Obwohl ich wusste, dass niemand in der Nähe sein konnte, ging ich etwas schneller und drehte mich, wie ein gehetztes Tier, nach allen Seiten um. Mir war, als begleitete mich jemand still und unsichtbar. Ich versuchte es zu verdrängen und zwang mich mit aller Kraft dazu, an etwas anderes zu denken. Es gelang mir jedoch nur kurz. Nach einer Weile verlangsamte ich meinen Schritt und blieb keuchend stehen, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Was um Himmels willen hatte mich nur überkommen? Woher stammten diese Erinnerungen? Ein versteckter Hinweis, ein kleiner Fingerzeig, wenn er auch noch so unscheinbar gewesen wäre, hätte mir genügt. Wer aber sollte ihn mir hier oben in dieser grenzenlosen Stille geben, wenn ich selbst schon die Einsamkeit suchte?
Vielleicht hatte es etwas mit diesem Traum, oder besser mit den unzähligen Träumen zu tun, die mich seit Jahren verfolgten. Böse Träume, fürchterliche Szenerien, die sich jedes Mal länger und intensiver aneinanderreihten um, so deutete ich es in meiner Unwissenheit, irgendwann ein Ganzes zu geben. Bis zu diesem Tag auf der Hochfläche verdrängte ich die Gedanken an das Wirrwarr, das die Träume an so vielen Morgen in mir hinterlassen hatten, ohne auch nur zu ahnen, was mir bald widerfahren sollte. Dabei stand ich so dicht vor jenem Ort, an dem für mich alles beginnen und enden würde.
Mein Puls hatte sich beruhigt. Ich verweilte ein paar Augenblicke, stieß den Atem in langen Stößen kondensierend in den Nebel und wartete ab, was geschah. Für einen Moment war es ganz still um mich. Keine Böe wehte um meinen Kopf und zerrte an meiner Kapuze, kein Vogel zwitscherte.
Jetzt wird es wohl vorüber sein, suggerierte ich mir ein. Und in der Tat vermittelte mir die Ruhe, die sich um mich legte, einen Hauch von Geborgenheit. Die eben noch so tief sitzende Angst, auf etwas zu stoßen, das mein Leben verändern könnte, verflüchtigte sich langsam und verließ mich ebenso wie der Nebel, der sich allmählich vom Hochplateau löste und nach oben zog. Ich blickte um mich. Dominant stieg vor mir die Südwand der Croda in den Himmel und verlor sich im Weiß des Nebels, der sich langsam mit den Wolken vereinte. Ich legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Es hatte endlich aufgehört zu regnen. Ich nahm die Kapuze ab und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Außer dem noch immer nicht vollständig freigegebenen Ausblick auf die Nordwände hatte jener Ort offenbar nichts Besonderes an sich. Zumindest nicht bis zu jenem Moment, als meine Augen auf einem Stück Metall haften blieben.
Ein verrostetes Gedenkkreuz lag verbogen, halb vom Geröll verschluckt, ebenso einsam und verloren in der Weite dieser bizarren Landschaft, wie ich selbst in diesem Moment dort stand. Die Gedanken, welche mir urplötzlich durch den Kopf schossen, jagten mir eine Gänsehaut über den Rücken. Sollte dies das Kreuz sein, welches ich schon so oft im Traum vor Augen gehabt hatte? Lag dort vor mir wirklich das letzte Zeugnis jenes armen Menschen, der mich, ausgerechnet mich, auf sein Schicksal aufmerksam machen wollte, welches bereits mehr als achtzig Jahre zurücklag? War ich tatsächlich am Ziel? Hatte es sich hier ereignet? Oder bildete ich mir nur schon eine erlösende Geschichte um ein verwittertes altes Kreuz ein, die es nicht gab, vielleicht nie gegeben hatte? Ich ging näher heran, bekreuzigte mich und strich über den rauen, nassen Rost. Es fühlte sich kalt an. Die Millionen kleiner Felsstückchen, die Jahr für Jahr die Wand herabgestürzt und über das Metall gerieselt waren, hatten von der Inschrift auf der zerbeulten Blechtafel nichts übrig gelassen. Nur die Vertiefungen der offenbar mit einfachsten Mitteln ausgeführten Stanzarbeit konnte man noch erkennen. Andächtig ließ ich meine Finger darüber gleiten und versank abermals in einem Stück erträumter und seltsam vertrauter Vergangenheit, während ich die wenigen Worte auf der Tafel leise vor mich hin sagte:
»Brugger Josef«, ein Kreuz, ein Datum und der Beginn eines Verses:
»Flieg, mein roter Adler .«
Unbehagen überkam mich. Was soeben mit mir passierte, wurde mir mehr und mehr unheimlich. Selbst die unleserlichen Buchstaben dieses Verses deckten sich mit dem, was ich aus meinen nächtlichen, trivialen Ausflügen in die Zeit um die Jahrhundertwende her kannte.
Ich wandte mich von dem Kruzifix ab und setzte mich ein paar Meter entfernt auf einen Stein. Die Nässe drang kalt auf meine Haut, doch ich spürte sie nicht. Mein Puls raste und meine Lunge schrie förmlich nach mehr Luft, als hätte ich eben einen Spurt über die Hochfläche hinter mich gebracht. Ich bückte mich zu einem kleinen Rinnsal hinunter, schöpfte mit der hohlen Hand ein wenig Wasser daraus und benetzte mir das glühende Gesicht. Respektvoll, als hätte ich Angst vor einer weiteren Erkenntnis, blickte ich zur Wand des Berges auf. Da stand sie, die mächtige, in unzählige Schluchten und Rinnen zerklüftete Wand der Croda. Der Nebel hatte sie für ein paar Minuten freigegeben und ganz oben, da thronte in fast dreitausend Metern Höhe der Gipfel. Jene einsame Spitze, von der dieses Kreuz herabgefallen sein musste; jener Ort, von dem auch meine Träume zu entspringen schienen.
Seit ich einigermaßen erwachsen denken konnte, wähnte ich mich, Realist zu sein, glaubte nur an das, was ich mit meinen einfachen menschlichen Sinnen wahrnehmen konnte, und fühlte mich als Teil dieser realen Welt, in der alles, ja selbst das kleinste Fragezeichen logisch erklärt werden konnte. Diese Welt gab mir jene trügerische Sicherheit, die mich bislang unbeschwert durchs Leben gehen ließ. Und eben jene Welt, mit all ihren so sicher geglaubten Grundfesten und Wertigkeiten brach in der Sekunde, in welcher ich die Inschrift auf dem Kreuz entziffert hatte, für immer in sich zusammen.
Ich kannte diesen Namen. Und ich wusste nur zu genau, was sich dort oben inmitten des Krieges ereignet hatte. Neben den vielen anderen Episoden, welche sich langsam zu einer Geschichte fügten, hatte ich es des Nachts in immer wiederkehrenden, erschreckend realen Träumen vor Augen gehabt. Wie aber konnte das möglich sein, hatte ich doch nie in meinem Leben auch nur einen Fuß in dieses Tal gesetzt? Gleichzeitig aber fand ich hier etwas vor, das versuchte, eine vage geträumte Vergangenheit mit der Gegenwart zu verknüpfen. Und jenes Puzzleteil, das ich hier zufällig, oder gerade eben nicht zufällig, gefunden hatte, fügte sich so perfekt in die anderen, dass es keinen Platz für den Zweifel an einer Schicksalsfügung ließ. Das erträumte Leben dieses Menschen musste mir fremd sein, und doch war es mir so vertraut wie mein eigenes, in das sich diese Geschichte soeben einzufügen begann. Trotzdem versuchte ich, mit aller Kraft zu verdrängen, was sich in den letzten Sekunden unabänderlich und brachial als Brücke in die Kluft zwischen meiner vermeintlichen Fantasie und der gelebten Realität zwängte. Obwohl ich wusste, dass ich eines Tages genau diese Brücke überschreiten würde, stand ich auf und ging.
Eile fand in meinen Tritt. Ich begann zu laufen; glaubte in meiner inneren Aufruhr nahezu panisch vor mir selbst und meinem vorbestimmten Schicksal flüchten zu können. Aber wollte ich das überhaupt?
Mein Schritt verlangsamte sich erst, als ich an den ersten Bäumen anlangte....