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Es heißt, dass ein Sportler eine Bewegung 10 000-mal ausführen muss, um sie perfekt zu beherrschen. Nachdem Olivier seiner Fußballleidenschaft frönend die dritte Vase in unserer Wohnung kaputt geschossen hatte, beschlossen meine Frau und ich, dass es keinen Sinn macht, Geld in 9997 weitere Vasen zu investieren. Olivier musste transferiert werden. Aus unserer Wohnung auf den Bolzplatz des Spielplatzes in der Nähe. Also ging ich mit meinem Sohn dorthin zum Kicken. Wann immer es das Wetter erlaubte. Oder besser gesagt, wann immer Oliviers Mutter es erlaubte. Sie entschied, ob ein plötzlich einsetzender Nieselregen oder Temperaturen unterhalb von 20 Grad Celsius gerade noch ungefährlich oder doch bereits schädlich für Oliviers Gesundheit waren.
Auf dem Bolzplatz, der sich auf einer Wiese unseres Spielplatzes befand, lernte Olivier den Fußball von seiner archaischen Seite kennen. Er war roh, ungezügelt und ungelenk. Die Regeln des Spiels wurden von den Kindern jeden Tag aufs Neue verhandelt. Mal kickte man auf nur ein Tor, mal auf zwei oder drei. Mal ließ man das lästige Rennen, mit dem das Fußballspielen ja zwangsläufig verbunden ist, lieber weg, und veranstaltete stattdessen ein zweistündiges Elfmeterschießen.
Was für eine geniale Idee: Fußball, ohne zu schwitzen.
So hätte Fußball sogar mir Spaß gemacht. Ich bewundere Kinder sehr oft für ihren Pragmatismus. Kinder können ja auch eine Kugel Eis, die ihnen in den Sandkasten gefallen ist, wieder sauber machen und weiteressen. Oder eine befleckte Unterhose für zwei weitere Tage tragbar machen, indem sie sie einfach auf links drehen. Kinder finden selbst für große Probleme immer eine einfache Lösung. Nicht die richtige Lösung, aber eine einfache. Da können wir Erwachsene viel von lernen.
Es dauerte nicht lange, bis mein Sohn sich auch mit dem Bolzplatz-Kodex vertraut gemacht hatte. Jenem machtvollen Regelwerk, dem sich alle Fußballkinder auf dem Spielplatz trotz mancher Meinungsverschiedenheit und Diskussion unterwerfen mussten. Die Regeln dieses Bolzplatz-Kodex lauten:
Die Wahl einer Fußballmannschaft auf dem Bolzplatz ist ein faszinierendes Ritual, eine der ersten harten Lektionen, was einem die Zukunft bringen wird. Manche Menschen sagen, dass es für einen kleinen Jungen keinerlei Hoffnung mehr im Leben gibt, wenn er bei der Wahl zweier Fußballmannschaften als Letzter ausgesucht wird. Ich sehe das nicht so. Ich zum Beispiel lernte während meiner glanzlosen Karriere als Torpfosten, die Zeit mit mir selbst zu genießen, mich allein nicht zu langweilen. Eine Fähigkeit, die mir noch heute ungemein hilft, acht bis zehn Stunden vor einem PC zu verharren und Texte zu schreiben, die keiner lesen will. Dafür bin ich dankbar. Ebenso wie für die Tatsache, dass in der Zeit, in der ich am Schreibtisch hocke, niemand auf die Idee kommt, mir einen Ball in den Unterleib zu schießen. Als Pfosten passierte mir das andauernd.
Allerdings muss ich gestehen, dass es ein seltsames Gefühl ist, wenn bei der Wahl zweier Fußballmannschaften Name um Name aufgerufen wird, und deiner oder der deines Sohnes ist nicht dabei. Es ist ja auch nicht so, dass der letzte Junge gewählt wird. Olivier blieb anfangs sehr oft einfach übrig. So, wie der schale Rest Bier in einem Glas, das zu lange in der Sonne gestanden hat und den nun keiner mehr trinken will. Ich habe auch nie erlebt, dass eine Mannschaft glücklich über den letzten Jungen war. Selbst dann nicht, wenn sie durch ihn einen Spieler mehr als der Gegner auf dem Feld und somit eigentlich einen Vorteil erlangt hatte. Der zuletzt gewählte Junge wurde stets so behandelt, als würde er an einer schlimmen Krankheit leiden, der Fußballpest oder so. Während des Spiels bekam er auch nie den Ball. Man könnte sich ja vielleicht bei ihm anstecken und fortan nur noch Fehlpässe spielen oder beim Dribbling ständig über den Ball stolpern. Olivier trug diese Last mit erstaunlicher Gelassenheit. Von dem Stigma des zuletzt Erwählten wurde er erst nach ein paar Monaten befreit. Nicht etwa, weil er nun so viel besser Fußball spielte, nein, er war in der Hierarchie aufgestiegen, weil ein neuer Schwung Kinder alt genug geworden war, um auf der Wiese zu kicken. Kinder, die kleiner und schmächtiger waren als er.
Ich fand den Gedanken sehr trostvoll, dass gesellschaftlicher Aufstieg nicht zwangsläufig mit Anstrengung verbunden sein muss, sondern dass es manchmal ausreicht, wenn man auf ein paar andere Menschen wartet, die einfach noch schlechter sind als man selbst. Wer weiß, wie weit es mein Sohn mit dieser Taktik im Leben noch bringen wird? Und vielleicht bestand ja sogar noch Hoffnung für mich?!
Wenn die Jungs auf dem Bolzplatz die Mannschaften gewählt hatten und loslegten, verwandelten sie sich. Innerhalb weniger Sekunden war keiner der Jungen mehr er selbst. Sie waren alle Messi. Müsste ein Sportreporter ein Spiel auf dem Bolzplatz kommentieren, würde es sich reichlich schizophren anhören:
»Messi spielt einen genialen Pass auf Messi. Der geht steil, verlädt Messi mit einer Finte an der Seitenlinie und dringt in den Strafraum ein. Doch dort wartet Messi. Messi legt den Ball an Messi vorbei. Der fährt das Bein aus. Messi fällt. Und alle stellen sich nun die bange Frage: Gibt es Elfmeter?«
In der Zeit auf dem Bolzplatz lernte ich sehr schnell, worum es beim Fußball wirklich geht. Schnell rennen? Tore schießen? Zweikämpfe gewinnen? Alles falsch. Wer einmal Kindern beim Kicken zugeschaut hat, lernt: Es geht beim Fußball vor allem um Gerechtigkeit. Kinder wissen das. Selbst wenn sie einen Ball noch keine zwei Meter weit schießen können und den Unterschied zwischen Anstoß und Abstoß nicht kennen. Sie diskutieren jede Spielszene untereinander. Damit es gerecht ist.
Das war Foul. Ich hab dich gar nicht berührt.
Der Ball war im Aus! Nie im Leben.
Das gibt Ecke, du warst noch dran! Nein, du hast den Ball als Letzter berührt.
Zum Glück gibt es beim Fußball auf der Wiese eine natürliche Zeitlupe, bei der man sich jede kritische Situation noch einmal ganz genau anschauen kann. Spätestens nach drei Minuten Diskussion nimmt ein Kind den Ball in die Hand und zeichnet damit die Spielsituation noch einmal nach.
Gaaaanz laaangsaaam.
In perfekter Slow Motion wird die strittige Szene nachgestellt. Die Kinder schauen sich diese Zeitlupe genau an und stellen fest: Okay, der Ball war wirklich noch nicht hinter der Torlinie. Kein Treffer! Ich weiß gar nicht, warum sich die deutsche Fußballliga so sehr gegen den Videobeweis bei den Profis sträubt. Bei den Kindern funktioniert er unheimlich gut.
Hochkomplex wurde das Spiel immer nur dann, wenn eines der Teams nach Diskussion und Videobeweis tatsächlich einen Freistoß zugesprochen bekam. In einem richtigen Fußballspiel pfeift der Schiedsrichter, verkündet seine Entscheidung, positioniert die Mauer neun Meter vom Schützen weg, der Ball wird am Tor vorbeigedroschen, weiter geht es. Nicht so auf der Fußballwiese. Dort kann die Ausführung eines Freistoßes bis zu einer Stunde in Anspruch nehmen, da er unheimlich oft wiederholt werden muss. Es gibt ein Dutzend Gründe für die rechtmäßige Wiederholung eines Freistoßes beim Wiesenkick:
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