Ahnung und Anfang
Als ich drei Jahre alt war, wurde uns noch ein Bruder geboren, und es scheint mir nach allen Erzählungen unserer Hausgenossen, als hätten wir in seltener Eintracht Hand in Hand die Eroberung unsrer Umwelt begonnen, in guten und bösen Werken, so treu und unzertrennlich, wie es mitunter in Märchen beschrieben ist.
Aber es war nicht etwa die Geburt meines jüngsten Bruders, bis zu der als zu einem ersten Licht in grauer Dämmerung meine Erinnerung zurückreicht. An der Schwelle meines Bewußtseins steht der Tod meines Großvaters in Cruttinnen. Ich sehe mich zur Nachtzeit in dem schmalen Schlafzimmer meiner Eltern. Eine Kerze brennt und ihr flackernder Schein fällt auf ein gelbliches Papier. Es ist ein Telegramm, das man aus dem Dorf gebracht hat, und meine Mutter ringt die Hände und weint. Dann wird das Haus geweckt, es wird angespannt, die Eltern und der Knecht fahren ab, und wir bleiben mit dem Mädchen allein.
Dann versinkt wieder alles, und ein paar Tage später erst taucht das Begräbnis aus der Erinnerung auf. Ich glaube, daß es ein schöner Herbsttag ist, sehr blau und warm. Ich sehe einen Saal - für Kinder gibt es ja viele »Säle« - mit vielen Menschen, und in der Mitte steht der Sarg mit dem Toten. Der Deckel ist nach damaliger Sitte noch nicht geschlossen, und ich kann das vertraute und so schrecklich erstarrte Gesicht lange betrachten. Ich begreife nichts. Ich sehe, daß die Menschen weinen, und sehe, daß das Gesicht sich nicht darum kümmert. Ich höre predigen und singen, aber alles dies geht in dem unter, das langsam und unwiderstehlich aus Kränzen, Tränen und Farben emporsteigt, das mich umhüllt und langsam zu erwürgen beginnt: in einem leisen, schrecklich fremden und schrecklich süßlichen Geruch, der aus dem Sarge aufsteigt und sich über mich stürzt. Und dann werde ich ohnmächtig und werde fortgetragen, und lange Zeit ist wieder alles im Dunklen.
Was sehe ich weiter? Wir müssen eine meilenlange Wagenfahrt gemacht haben, zu einer Stadt an einem großen See, und ich sehe über graublauem Wasser einen Vogel fliegen, eine Möwe wahrscheinlich, und das Bild schmaler Schwingen und des lautlos fallenden und steigenden Fluges, von einem zarten Spiegelbild wiederholt, erfüllt mich mit solcher Seligkeit, daß es haftengeblieben ist bis heute.
Ich sehe die Mutter meines Vaters und ein kleines Mädchen, ihr Enkelkind. Es verlangt, daß ich es auf meinen Schultern trage, und ich tue es, wobei das Gefühl der Schande und des Stolzes einander die Waage halten.
Aus diesen für immer im Dunklen verborgenen ersten Jahren hat man mir auch später nicht viel erzählt, und nur eines habe ich aufbewahrt, weil es nicht eine einzelne Betrachtung, sondern bereits die Summe vieler Erfahrungen enthielt. Danach muß ich ein sehr stilles Kind gewesen sein, immer in einem Winkel schweigsam mit mir beschäftigt, und auch wenn Besuch im Hause war, soll ich auf einer Fußbank in der entferntesten Ecke gesessen haben, den Kopf in die Hände gestützt, in Zusehen und Zuhören verloren. Auch die Anwesenheit vieler Kinder soll daran nichts geändert haben. Mitunter aber, ohne erkennbaren Anlaß, sei ich aufgestanden, auf die Fußbank gestiegen, und von dort aus hätte ich dann lange und glühende Reden an die teils verblüffte, teils begeisterte Versammlung gehalten, gleich einem kleinen Prediger, über den plötzlich der Geist Gottes gekommen sei.
Auch das Räumliche meiner Kinderwelt bleibt lange in Dunkel gehüllt, das Haus, der Garten, der Hof, der Wald. Und nur eines taucht am frühesten aus dem Verhüllten: das Feuer im Küchenherd und darüber der riesige »Mantel«. Das war eine Art von Rauchfang, der in der ganzen Größe des Herdes etwa meterhoch über diesem begann und sich langsam zu der Öffnung des Schornsteins verengte. Er war schwarz und glänzend von Ruß und Rauch, und wenn die Flamme einmal höher hinaufschlug, funkelten rote Lichter in seiner feuchten Schwärze, und einzelne Funken stoben hinauf und verschwanden im bereits Überweltlichen.
Dort habe ich wenn nicht die ersten so doch die eindringlichsten Märchen in mich aufgenommen. Immer war das Bild des ersterbenden Feuers etwas Zauberhaftes für mich, und der klagende und singende Laut verglühenden Holzes war mir vom ersten Bewußtsein an der »Gesang des Feuermannes«. Ging aber der Blick darüber hinaus, in den schwarzen Mantelschlund, in dem der Wind mit schauerlicher Klage stöhnte, so hatten die Teufel, Hexen und Zauberer einen kurzen Weg zu meiner zitternden Seele, und ich glaube, daß die Mächte der Unterwelt früh Besitz von mir ergriffen und an meiner Seele geformt haben.
Und noch ein Letztes muß ich aus jener ersten Dämmerung berichten, das seine Erklärung und Bedeutung zwar erst viele Jahre später gefunden hat, von dem ich aber weiß, daß es mich damals bereits mit dem dumpfen Gefühl eines Unrechts oder einer Gewalttat berührt hat. Es war natürlich, daß wir unsre Dienstmädchen sehr liebten. Für mich, der ich in einem ländlichen Leben aufwuchs, gab es ja weder »Angestellte« noch soziale Unterschiede, und das noch unberührte Herz umfaßte mit gleicher Liebe alle Lebewesen, die den Raum des Hauses erfüllten, Menschen und Tiere, Herren und Knechte.
Unter den Dienstmädchen jener Jahre nun ist mir eines in erster und besonderer Erinnerung geblieben, das Lotte hieß und sehr viele Jahre bei uns war. Und nun ist ein Tag im Herbst, und es ist Treibjagd in unsrem Schutzbezirk. Meine Mutter ist krank und in einer Königsberger Klinik - sie hat ihr halbes Leben in Kliniken zugebracht -, und am frühen Morgen versammeln sich Jäger, Hunde, Wagen und Pferde auf unsrem Hof. Da ist ein sehr beleibter und sehr freundlicher Forstaufseher, der ein Waldhorn über der Schulter trägt, und ich weiß, daß die Herrlichkeit dieses herrliches Tages in seinen Händen allein beschlossen ist. Und noch heute sehe ich die Jagdgesellschaft vom Hofe gehen und höre noch heute den unbeschreiblichen Klang des Waldhorns, mit dem das erste Treiben angeblasen wird. Später bricht die Sonne durch den Nebel, ich höre, immer weiter sich entfernend, Schüsse und Signale, und es müßte dieser Tag also als etwas Strahlendes in meiner Erinnerung bewahrt liegen.
Aber das ist nicht so, denn dieser Tag ist von einer dumpfen Unruhe und Ratlosigkeit beschwert. Ich glaube, daß Lotte krank ist, denn ich habe ein verzweifeltes Gesicht vor Augen und ein leises Jammern treppauf und treppab im Ohr. Die Jäger kommen wieder, um die Abendzeit, aber nichts ist fröhlich wie sonst. Sie fahren fort, in das Wirtshaus des nächsten Dorfes, auch das Waldhorn verschwindet, dieses sicherlich aus dem Himmel Stammende und golden Glänzende, und in einem dunklen, traurigen Nebel schließt die Erinnerung des Tages sich zu.
Aber dann kommt meine Mutter wieder, und es ist irgendein Unglück geschehen. Es gibt laute und harte Worte, Tränen und Verstörung, und plötzlich ist Lotte fort. Und auf eine unverständliche Weise geht die Tatsache in mein Bewußtsein über, daß Lotte an dem Abend jenes Tages zwei Kinder geboren hat. Ich kann mir nichts dabei denken, und ich verstehe nur, daß ein von mir geliebter Mensch plötzlich fort ist, unglücklich, verstoßen, ausgelöscht.
Ich könnte sagen, daß hier zum erstenmal die »soziale Frage«, wenn man in diesem Fall so sagen darf, in meinem Leben aufgetreten sei, und es scheint, daß der dumpfe Instinkt des Kindes sie bereits in der gleichen Weise beantwortet hat wie Verstand und Erfahrung späterer Jahre lang nachher; als ich bereits erkannte, worum es sich hier gehandelt hatte, hat dieses Ereignis wie ein Schatten über der Liebe zu meiner Mutter gelegen, weil ich nicht dulden wollte, daß auf den Glanz eine Trübung fiel, in dem ihre Gestalt mir erschien.
Und dieses konnte ich nicht verstehen und verzeihen. Ich dachte ja nicht daran, daß Arbeit und Alltag eine andre Lösung wahrscheinlich gar nicht zuließen. Ich hörte zum erstenmal das Wort »Schande« und sah zum erstenmal, daß die Schande alles auslöschte, was gewesen war, Arbeit und Treue, und daß sie den Betroffenen in Unglück und Elend stieß.
Ich habe Lottes Nachfolgerinnen ebenso liebgehabt wie diese, aber ich weiß, daß ich lange Zeit nachher jeden Abend gebetet habe, sie möchten doch keine Kinder bekommen und mir so wieder entrissen werden. Was dann wohl auch, wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, nicht mehr eingetreten zu sein scheint.
Erst mit dem Auftreten des »Geistes« beginnt in meiner Erinnerung die mattschimmernde Kette der Begebnisse sich Glied an Glied zusammenzuschließen, das heißt, der Tag, an dem wir mit unsrer ersten Erzieherin zum erstenmal am Schultisch in der Oberstube saßen, ist auch der Beginn meines eigentlich bewußten Lebens. Aber vorher glaube ich noch ein paar traumhafte Erinnerungen erwähnen zu müssen, weil in ihnen mehr als etwas zufällig Bewußtes enthalten ist: meine...