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Im Vorhof
"Denn wir sind von gestern her . . ."
Aber was sollte das Hiob-Wort mir vor mehr als vierzig Jahren bedeuten, als ich an jenem Frühlingsabend unter der breiten Schirmkiefer am Waldrande stand und der Frau nachsah, die ich liebte? Sie hatte mir nichts versprochen und hat mir ihr Leben lang nichts anderes erwiesen als eine stille Zuneigung durch allen Wechsel der Jahre und Schicksale. Heute weiss ich, dass das viel ist. Damals aber, als ich unter den nassen und dunklen Wipfeln heimging, war mir, als sei die Welt so gross und wunderbar vor mir aufgetan wie vor Gösta Berling, und als würde ich das alles gewinnen, das wie eine goldene Stadt im Abendrot vor mir aufgeleuchtet hatte, wenn ich auf den Waldbergen gestanden war: Lorbeer des Dichters und Liebe der Frauen, Ruhm eines grossen Amtes und die Hand, mit der man die Herzen der Menschen bewegt oder das Wasser des Lebens findet.
Es mag wohl die Gnade aller Jugend sein, dass der dunkle Wald des Lebens, so voller Grauen und Gefahr, ihr unbedenklich erscheint, wenn man nur ein tapferes Herz in die dunklen Schatten trägt, und dass sie sich dazu ausersehen meint, zu besiegen, was niemand besiegt, und zu erringen, was niemand errungen hat. Denn sie glaubt von ihren Kräften, dass sie unendlich, und von den bösen Mächten, dass sie endlich seien. Und wenn sie nach dreissig oder vierzig Jahren erfahren hat, dass gerade die bösen Mächte unendlich und ihre eigenen Kräfte, ach, so endlich sind, vermag sie doch nicht ohne Rührung auf jene Gestalt des Anfangs zurückzublicken, so schmal, so töricht, so heldenhaft, wie sie, mit einer Blume in der Linken und einer Hirtenschleuder in der Rechten, sich lächelnd in das Unwegsame stürzt, um die Riegel des Zauberschlosses zu sprengen.
Für mich war es nun also beschlossen, dass ich durch die Tore der Universität eintreten sollte in das Heiligtum des Geistes. So schien es mir damals, als müsste es dort zu finden sein, ja, als müsste es alle Säle und Korridore des grauen, nüchternen Baues erfüllen und durchdringen, dass man es schon einatmen würde, wenn man nur eine der grossen eichenen Türen öffnete. Wohl war ich nicht mehr das Kind, an dessen Herzen ein junger Kranich schlief und das zauberbefangen zu Tante Veronikas Füssen sass. Man hatte mich "nach Aegypten verkauft", ehe ich dessen gewahr geworden war. Ich trug nicht mehr Eisen unter den Absätzen, und sieben Jahre in der grossen Stadt hatten den Blütenstaub von der Stirn gestreift, der als ein unvergängliches Erbteil des Paradieses jede Kinderstirn bedeckt.
Aber die Ehrfurcht vor dem Geist war bewahrt geblieben in mir, und in allen Menschen meiner Landschaft lebte sie als ein unverbrüchliches Gesetz. Noch hatte niemand bei uns die grossen Ordnungen angetastet, die der Religion oder des Staates oder der Erde, und die "hohen Schulen" der Wissenschaft waren in der Vorstellung der Waldleute noch immer von einer unsichtbaren Krone geschmückt.
Ich weiss nicht, wie viele schlaflose Nächte meine Eltern gehabt haben mögen, wenn sie an das Geld dachten, das für mich aufzuwenden war. Sicherlich lebte auch in ihnen der Ehrgeiz der Armen, der die Lebensbahn ihres Kindes aus dem Mühseligen und so Begrenzten ihres Tagwerkes sich aufheben sah wie eine Sternenbahn. Aber darüber hinaus war es doch wohl die Liebe, die reine Liebe, die unter unsäglichen Opfern nicht das Ihrige sucht, sondern nur das Glück des andern. Es lag wohl im schon leise Entartenden jener Zeit, dass man das Glück in der "Karriere" sah und der Meinung war, es sei vom Geiste her zu erringen.
Und da meinem Bruder die ersehnte Entscheidung im Burenkrieg versagt geblieben war und er nun bei einem Regiment der Feldartillerie in der Hauptstadt den bescheidenen Weg eines Soldaten zu gehen begann, eines einfachen Kanoniers und nicht einmal den eines "Einjährig-Freiwilligen", so war es wohl zu verstehen, dass alle Liebe und Hoffnung meiner Eltern sich auf mich warfen als auf den einzigen Auserwählten, der Namen und Geschlecht zu unerhörtem Glanze tragen sollte.
Ich wusste wohl nicht viel davon, als ich an einem Frühlingsmorgen am Fenster der Eisenbahn stand und meinen Vater in dem kleinen Wagen wieder über die Felder zurückfahren sah. Einen einsamen, stillen Mann, der wieder zu seinen Wäldern heimkehrte, um zu pflanzen und zu pflegen, indes ich immer weiter und weiter fortging, um die Hand nach dem Kranze auszustrecken.
Ich sah ihn und sah die blaue Linie der Wälder am Horizont. Ich fuhr in die Freiheit und das, was mir als die kommende Grösse erschien. Aber wenn mein Vater mir aus der Ferne zugewinkt hätte, dass er sich besonnen habe und ich ein Förster werden dürfte wie er, so würde ich aus dem fahrenden Zuge gesprungen sein und würde Freiheit und Grösse hinter mir gelassen haben wie den Staub eines falschen Weges.
Aber er winkte mir nicht.
Ich fand ohne Mühe eine der tausend "Buden", die man in der Hauptstadt an Studenten vermietete. Sie hatte ein rotes Plüschsofa und zwei Sessel, einen Schreibtisch und ein Bett, und an der Wand einen der schrecklichen Oeldrucke, die den Kaiser oder eine Alpenlandschaft oder eine feenähnliche Frauengestalt in erstaunlichem Gesundheitszustand darzustellen versuchten. Es war die "gute Stube" kleiner Leute, der wichtigste Posten in ihrem Wirtschaftsplan, und Semester für Semester zog einer der tausend Studenten ein oder wieder aus, jung oder betagt, farbentragend oder ungeschmückt, still oder lärmend, fleissig oder betrunken und faul.
Mein Wirt war ein Schuhmacher, ein stiller, schwerer Mann, den ich setzten sah und von dem ich nur die leisen Hammerschläge vernahm, mit denen er wie ein verborgener und unterirdischer Erdgeist an seinem dunklen Schicksal pochte. Seine Frau war es wohl zufrieden mit ihrem stillen Mieter, ohne eine besondere Herzlichkeit an eine so ephemere Erscheinung, wie ein Student sie darstellte, zu wenden.
Und eines Tages öffnete dann auch ich eine der schweren Eichentüren und stand verwirrt auf den Steinfliesen des riesigen Treppenhauses und noch verwirrter vor den unabsehbaren Flächen der "Schwarzen Bretter", auf denen unverständliche Vorlesungen in unverständlicher Sprache angekündigt waren, Bekanntmachungen und Verfügungen, Wohnungsangebote und Mittagstische, eben die ganze vielfältige Welt eines kleinen Staates. Und ich sah Hunderte von jungen Menschen, verwirrt wie ich oder mit blasiertem Hochmut von einer der oberen Stufen dieses ganze Getriebe überblickend. Und auf der höchsten Stufe einen würdigen, gänzlich unnahbaren Mann, der wohl einer der Pedelle sein mochte, ein "Zivilversorgungsberechtigter", der zwölf Jahre lang Herr einer Schreibstube oder eines Kasernenhofes gewesen sein mochte und vor dessen kalten Augen wir alle nicht viel mehr als ein "Sauhaufen" waren, unwürdig einer Freiheit, die die Universität in unbegreiflicher Verblendung uns gewährte und der von keinem anderen in Zaum gehalten werden konnte als eben von ihm, der die Schule militärischer Zucht vom bitteren Anfang bis zum ehrenvollen Ende ohne Makel durchlaufen hatte.
Waren dieser und seine zwei Gefährten also veritable "Zwölfender", wie man heute zu sagen pflegt, so war der Leiter der Universitätskanzlei eine echte "deutsche Eiche". Ein grosser, schöner Mann mit dunklem Vollbart und strahlenden blauen Augen. Ein im Formalen des Betriebes Allwissender und damit unentbehrlich für Rektor, Dekane und Fakultäten, die in den reinen Sphären des Geistes lebten. Damit aber auch ein gefährdeter Mann, und ein paar Jahre später hiess es, dass er durch Bestechlichkeit sein Amt verloren und somit ein schimpfliches Ende seiner gottähnlichen Würde gefunden habe.
Von dem lauten und fröhlichen Amtszimmer dieses Mannes gelangte man in die eisige Sphäre der Quästur, wo kein Herz schlug, ausser dem der Armen, die wie ich die Höhe der Kolleggelder erfuhren, sondern nur Federn raschelten und Goldmünzen klirrten. Das trockene, leblose Gesicht des Quästors schien nicht aus dem Lehm der Erde, sondern aus Subtraktionen gebildet. Seine Stimme war die eines sich in die Ewigkeit drehenden Rades, und in seinen kalten Augen lag ein Widerschein allen Metalls, das tagaus tagein durch seine Finger glitt. Auch konnte ich später an ihm bemerken, dass Studenten, die wie ich eine Stundung ihrer Kolleggebühren erhielten, für ihn unsichere und zweitrangige Existenzen waren, die man scharf ansehen musste, damit sie nicht von vorneherein den Entschluss fassten, ihre Schulden nie zu bezahlen.
Waren dieses nur die Erdgeister des grossen Baues sozusagen, deren Handwerk noch menschliche Züge trug und in deren Praxis man wenigstens einen Blick tun konnte, so waren die Welten der grossen Lehrer mir vorläufig ganz und gar verschlossen, und nur ab und zu sah ich eine seltsame Gestalt die Treppen herunterkommen, vor der die Studenten höflich oder lächelnd auswichen. Ein Riesenhaupt unter einem Riesenhut etwa, den unordentlichen Mantel unordentlich über die Schultern geworfen, unsichtbare Augen hinter einfachen oder doppelten Brillen, und in Haltung, Gang oder Gebärde...