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Aller Anfang sei schwer, sagt das Sprichwort, so fing ich am nächsten Abend meine zweite Vorlesung an, und wie viele andere Sprichwörter zementiert auch dieses ein Vorurteil. In der Regel ist der Anfang leicht. Beispiele sind: die englische Sprache, die Liebe, das Leben, das Germanistikstudium und auch das Schreiben. Am Anfang sieht der Weg unendlich weit aus, schön und verführerisch, und erregt beginnt man ihn zu gehen. Kümmert sich noch nicht sehr darum, wie man die Wegstrecke bewältigen will und wird, wenn die neue Bewegung nur so heftig ist, daß man zügig vorwärtskommt. Später dann beginnt man zu ahnen, daß jeder Weg, auch dieser, ein Ende hat. Jeder schreibt einmal ein letztes Wort. Das Ende ist schwer. Jeder, der dahin kommt, kann es bestätigen. In der englischen Sprache, in der Liebe, im Leben, im Germanistikstudium und auch beim Schreiben. Und so will ich nun zuerst von meinen leichten Anfängen sprechen. Ich war schon früh einer, der einen Bleistift in der Hand hatte und Wörter aufschrieb. Konnte schon als Kind in gereimten Vierzeilern reden und kann das immer noch. Immerhin hatte mein Vater, der mich offenbar durch diese Vorlesungsreihe begleiten soll, alle Kalauer gemacht, die es jemals gegeben hat und die es je geben wird. Nicht erst seit jetzt, wo man ungestraft die Stadt Calau aufsuchen darf - sie liegt in der Niederlausitz -, träume ich davon, mich dort in eine Gaststätte zu setzen und den Calauern zuzuhören, ihren Kalauern, und irgendwann würde ich mich mit denen meines Vaters einmischen. Statt »Perserteppich« sagte er »Perverserteppich« - auf dem Niveau spielte sich alles ab. - Vielleicht rührt aus jener Zeit schon meine Liebe zu den Wörtern ohne Niveau her, den sogenannt unanständigen Wörtern, kurz, den Verachteten unter den Wörtern, den Proletariern sozusagen. Denen, die keine bürgerliche Geltung haben. Darum vielleicht liebe ich Bücher wie Artmanns Nachrichten aus Nord und Süd, eine wahre Kalauerorgie, oder Wolfgang Hildesheimers Brief an Max so besonders, die von andern als leichtgewichtig beiseite geschoben werden, während sie für mich einen Bereich der Sprache betreten, in dem die Anarchie zu herrschen beginnt und die bürgerliche Ordnung ihre Macht verloren hat. - Wie alle Schriftsteller bin ich ein Erinnerungselefant. Alle Schriftsteller sind das, durchaus unfreiwillig. »Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können«, sagt Jean Paul in einem berühmten, eigentlich stets zustimmend zitierten Satz. Vermutlich hat er ihn nicht so plakativ positiv gemeint. Denn zum einen ist die Erinnerung nur in den seltensten Fällen ein Paradies, viel häufiger eine Hölle und in der Regel das eine und das andere, zum andern können wir sehr wohl aus diesem Höllenparadies vertrieben werden. Schreiben ist Erinnern, und Erinnern ist eine Arbeit, die ganz nie geleistet werden kann.
Als ich jung war, so in Ihrem Alter, früher eigentlich, sagte mir ein deutliches Gefühl, daß ich schreiben wollte. Ein Trieb, der mich zur Schreibmaschine eilen ließ. Aber dann saß ich vor ihr und vor der großen Frage, die mich mit drei Buchstaben drohend anschaute: WAS. Was? Was sollte ich schreiben? Auch meine Jugend brachte, wie alle Jugenden, einen bemerkenswerten Mangel an aufschreibensreifer Erfahrung mit sich. Alles war immer noch ewige Gegenwart. Viel Trieb, wenig Inhalt. Also beschäftigte ich mich um so heftiger mit der Form, und bald einmal merkte ich, daß ich da nicht der einzige war. Ich war, ohne es explizit sein zu wollen, eine Art Avantgardist geworden. Ich glich ein Defizit an Erfahrung durch heftigen Formwillen aus. Ich sage nicht, daß dies die Avantgarde als Ganzes definiert, o nein!, denn die besten Avantgardisten, die wahren, wählen ihre unvertraute Form natürlich, weil die bisher gewohnte für das, was sie sagen wollen, nicht genügt. Man wählt neue Formen nur - wenn man kein Angeber ist -, um komplexer gewordene Wirklichkeiten präziser zu fassen. Es geht keinem Avantgardisten darum, weniger Wirklichkeit zu erfassen. So gesehen waren auch Hugo Ball oder Konrad Bayer Realisten, denn auch sie wollten mit ihren verstörend-neuen Formen mehr Wirklichkeit einfangen. Jedenfalls: ich liebe Avantgarden und werde nur rabiat, wenn das Vorherrschen der Form verbergen soll, daß der Inhalt der allerkonventionellste ist. Zudem stört mich an dem Begriff ein bißchen, daß er die Literatur als eine Art Wettlauf zu sehen scheint, bei dem der eine vor dem andern läuft. Gerhard Rühm sieben Meter vor Ernst Jandl oder umgekehrt. Dabei gibt es wohl eher verschiedene Wege zum Ziel, und das Ziel ist der Weg. Waren die jungen Romantiker weiter vorn als der gleichzeitige Goethe? Die Frage kann so nur falsch gestellt sein. Kleist nervte Goethe mit seiner Penthesilea so, daß der sie in den Kamin warf. Natürlich war das ungerecht, und natürlich fühlte sich Goethe bedroht von dieser jungen neuen wilden Generation, die ihn heftig an seine suizidalgroßartigen Anfänge erinnerte. Dennoch. Das Gesetz, das sagt, daß die Söhne die Väter auffressen und ihre abgenagten Knochen auf den großen Haufen der Geschichte werfen, macht, meine ich, immer neue wütende Jünglinge und heftige Damen nötig, mir ähnlich damals, wo ich vermeintlichen Langweilern wie Max Frisch oder Heinrich Böll, den Vätern eben, kein Wort abgenommen hätte. Natürlich ist in einer solchen Haltung ein gewaltiges Stück Irrtum verborgen, Blindheit aus Selbstschutz, notwendig und sinnvoll dennoch, weil kein Künstler mit mildem, großzügigem Verständnis für all die vielen andern, die schon längst ihre Meisterwerke geschrieben haben, zu seiner Schöpfungsreise aufbrechen kann. Wir sind auch Raubtiere, müssen es sein. Zu Beginn hat man, glaube ich, kaum eine andere Wahl, als - völlig realitätswidrig - so zu tun, als sei man der erste. Der erste, der schreibt. Man erfindet das Rad nochmals und stiehlt den Göttern das Feuer ein zweites Mal. Heute allerdings, wo ich selber ein Vater geworden bin, irritiert mich eher, daß durchaus wenige Söhne und Töchter uns Vätern an den Kragen wollen. So sind wir immer noch jung. Das ist ja ganz schön, aber andrerseits bin ich nicht Atlas und will diese Erde nicht ewig allein tragen.
Ein ganzes Jahrzehnt jedoch, bis ins Jahr 1968, schrieb ich und schrieb, mehrere Romane und ein paar Theaterstücke, und wußte immer, das war es nicht. In dem unendlichen Wörtermeer, in dem ich schwamm, fand ich nie meine Wörter. Alle kamen mir gleichwertig vor, und dadurch gleichgültig. Solange ich dieses Wort wählen konnte oder jenes, als spiele das keine Rolle, wollte ich überhaupt keines haben. Ich wollte gewählt werden, von etwas unwiderruflich Notwendigem, von Wörtern, die mich anfielen und denen ich nicht hintendreinrennen mußte, und hielt mich bereit dafür, indem ich an der Schreibmaschine saß und die Finger über die Tasten hielt und wohl auch hie und da etwas schrieb. Ich wollte meinem Schicksal wenigstens die Chance geben, zur Tür hereinkommen zu können. Es sollte nur eine Geschichte geben, die zu schreiben war, einen Text, mit den Wörtern, die sich dann notwendig einstellten. Wie ein Gesetz. Aber leider kann man seinen Hoffnungen keine Befehle erteilen, das heißt, man kann schon, aber wie die Katzen hören sie nicht zu. Lange kam also der notwendige Text nicht, nur Roman um Roman, und es mag Momente gegeben haben, wo mich der Gedanke durchflog, vielleicht kommt er nie. - Das Problem der »eigenen Sprache« wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß ein theoretischer Instinkt mir sagte, daß es sie gar nicht gebe. Nicht geben könne. Denn unser Problem ist ja vorerst nicht, eine eigene Sprache zu finden, sondern im Gegenteil langsam die Sprache aller zu lernen. Eine Anpassungsleistung, keine der Individuation. Wie stolz und wie zu Recht stolz ist das kleine Kind, wenn es endlich Alle meine Entlein singen kann. So geht das dann weiter, immer weiter, so daß die Sprache bald einmal nichts anderes als ein riesiger Zitathaufen zu sein scheint. Jedes Wort schon tausendmal gesagt. Nichts Eigenes, aber auch gar nichts. Wir haben allenfalls das letzte Wort, aber nie das erste. Die Bibel mit ihren gesetzstiftenden Wörtern ist schon geschrieben, aber es war damals, als Gott sich an die Arbeit machte, auch einfacher als heute, eine Bibel zu schreiben. Gott, unser erster Kollege, hatte eben das erste Wort. Das war seine Chance, und er nutzte sie. Alle zeitgenössische Literatur baut denn auch auf der Erkenntnis auf, daß die eigene Sprache nicht die eigene ist, auch wenn sie die verschiedensten Schlüsse daraus zieht. Beckett andere als Jandl, aber das Gefühl, eine Art Duchlaufgefäß für den Wörtermüll unserer Gesellschaft zu sein, haben beide. Nur, warum schreibt ein Jandl dann doch anders als ein Beckett, und warum erkennen wir auf Anhieb einen Text von Artmann oder Achternbusch? Auf einer zweiten Ebene - über der Erkenntnis, daß es aus mit dem individuellen Schreiben sei, mit dem »Stil« - stellt sich dann just dieses verlorengeglaubte individuelle Schreiben wieder ein. Der Stil. Die scheinbar unmöglich gewordene Autonomie, die jetzt eine Art Autonomie zweiten Grades geworden ist. Jeder hat dann wieder seine eigene Sprache, das, was nur er ist und kann, und zwar umso mehr, als ihm oder ihr die damit verbundenen Probleme bewußt sind. Eigene zu werden, das mißlingt denen, die naiv an das Eigene glauben und volle Pulle blindlings auf den einzigartigen Satz und das herrliche Adjektiv losbrausen. Wenn das Eigene aber gelingt, ist es etwas Wunderbares,...
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