Prolog
Matt Matt verlangsamte seine Schritte und ließ den Blick schweifen: Die Aussicht auf die Bucht von San Francisco mit der Bay Bridge im morgendlichen Sonnenschein und der gleichmäßige Laufrhythmus hatten wie immer eine entspannende Wirkung auf ihn. Diese Morgenrunden gaben ihm den Schwung, den er brauchte, um in einen neuen Arbeitstag zu starten.
Wenn er seine abschließenden Dehnübungen hinter sich gebracht hatte, würde er in sein Apartment in Haight-Ashbury fahren und den Anblick der farbenprächtigen viktorianischen Häuserfassaden genießen. Er würde sich in das quirlige Treiben in den Straßen einreihen, in denen noch immer der Geist der Studentenbewegung wehte. Ein wenig Hippietum, viel Kreativität und lässige Zwanglosigkeit.
Er würde sich schnell einen Green Tea Latte holen und sich, bevor er ins Büro fuhr, kurz frisch machen. Gegen 10 Uhr würde er zur Besprechung mit dem Küchenbauer auf der Baustelle erscheinen. Die Planungen für die Einrichtung des Apartments, das er für den Geschäftsführer eines Start-ups ausbaute und gestaltete, liefen auf Hochtouren und nahmen Form an.
Am Abend würde er Belinda treffen, vielleicht auch Ellen, und mit einer der beiden in der angesagten Rooftop-Bar östlich des Golden Gate Parks einkehren - ein Laden mit einem beeindruckenden Blick auf einen der größten innerstädtischen Parks der Welt.
So begann und endete für ihn ein perfekter Tag: an der frischen Luft, am Wasser, umgeben von viel Grün. Ein wenig Landkind steckte immer noch in ihm, das konnte er nicht leugnen. Wenn er zurückdachte, meinte er, seine Kindheit hauptsächlich draußen verbracht zu haben. Er hatte mit Freunden in den Weinbergen gespielt, und er hatte, zumindest war er davon überzeugt gewesen, jeden Waschbären, Biber und Falken der Umgebung gekannt. Seine Freunde und er waren auf Bäume geklettert, hatten Höhlen gebaut und immer das Abenteuer gesucht.
Und genau deshalb war San Francisco eine Stadt nach seinem Geschmack - alles hier war heute noch von der positiven und kraftvollen Energie und Abenteuerlust jener Menschen geprägt, die damals an die Westküste gekommen waren, um Gold zu schürfen . Das war genau seine Haltung: nicht aufgeben, niemals.
Das Handy klingelte. Kurz überlegte Matt, ob er das Gespräch annehmen sollte, es war schließlich erst kurz nach 8 Uhr. Da die Nummer aber eindeutig aus Los Angeles stammte, siegte seine Neugier. Schließlich saßen dort viele potenzielle zahlungskräftige Kundinnen und Kunden sowie zahlreiche Filmproduktionsfirmen und Fernsehsender.
»Guten Morgen, spreche ich mit Matt Jameson?«
»Ja, wer ist da bitte?«
»Hier ist Olivia Peters von Home for You-Media. Störe ich Sie?«
Matt hielt inne. Perfekt, dachte er. Home for You-Media war der Platzhirsch unter den Fernseh-Produktionsfirmen, die für die bekanntesten Interior-Sender Formate entwickelten und umsetzten. Er hatte schon für unterschiedliche Sender und einmal für einen Streaming-Anbieter in verschiedenen Fernsehformaten Lofts und Apartments aufgemöbelt oder gleich Häuser komplett saniert und umgekrempelt. Doch HFY-Media hatte ihn bislang noch nie beehrt. Kurz riss er die Siegerfaust empor und bemerkte die Blicke zweier Frauen, die an ihm vorbeijoggten. Er grinste nur, denn ihm war klar, dass er sich in seinem Sportoutfit sehen lassen konnte - 32 Jahre, kein Gramm Fett zu viel. Vielleicht hatten sie ihn sogar erkannt? Er machte das Victory-Zeichen, die beiden lächelten und hoben die Daumen.
»Ja, hier ist Matt Jameson, Sie stören nicht«, antwortete er und versuchte in Gedanken bereits, die kommenden Monate zu überblicken, denn Fernsehprojekte banden viel Zeit, brachten aber auch enorme öffentliche Aufmerksamkeit. Diese kam dann seinem Interior-Design-Büro zugute, und häufig wurden diese Engagements auch üppig bezahlt. Sie waren zudem mit Reisen verbunden und ihm stets eine willkommene Abwechslung. Sein Büro in San Francisco wurde in solchen Fällen von seiner Assistentin geführt, auf die er sich voll und ganz verlassen konnte.
»Freut mich, wenn es gerade passt. Ich bin Producerin eines Sendungsformates«, setzte Peters an, »das wir neu entwickelt haben, und wir sind fest davon überzeugt, dass Sie genau der Richtige dafür wären. Wir möchten verschiedene Berühmtheiten der Interior- und Houseflipping-Branche, also bekannte Innenarchitekten, Architekten oder Makler, in Kleinstädte schicken, damit sie ihnen neuen Schwung verleihen.«
Matt runzelte die Stirn. Dieses Konzept war nicht gerade innovativ, auch wenn er noch an keinem dieser Art teilgenommen hatte, kannte er einige Sendungen, die Ähnliches lieferten. »Mir kommt das Konzept vertraut vor«, sagte er möglichst neutral. »Wo ist der Unique Selling Point, das Besondere, das Ihr Format bietet und die Zuschauer zum Einschalten bewegt?«
»Nun, wir schicken die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zurück in ihre jeweilige Heimatstadt.«
Tatsächlich war der Aspekt neu, das klang schon erheblich interessanter. »Und was versprechen Sie sich davon?«, fragte er.
»Wir gehen davon aus, der Arbeit einen persönlichen Anstrich zu verleihen und in die Geschichte des jeweiligen Teilnehmers eintauchen zu können.«
»Verstehe ich Sie richtig, dass Sie jetzt über meine Arbeit berichten möchten oder über meine Kindheit und Jugend?« Er sah seine Heimatstadt Willington mit ihren knapp 6000 Einwohnern vor sich, sie war einer dieser malerischen Orte am Rande des weltberühmten Napa Valleys, eingebettet in eine hügelige Landschaft, die mit Weinhängen überzogen war. Auch sein Vater hatte viele Jahre Wein angebaut, bis er sich zur Ruhe gesetzt und alles verkauft hatte. Jeder kannte jeden, man half einander und feierte zusammen. Genau genommen würde nichts dagegensprechen, aus seiner Vergangenheit zu erzählen: Highschool-Sonnyboy, Rückgrat des Footballteams und bekannt wie ein bunter Hund. Nichts hatte er anbrennen lassen - eine Band gegründet, auf jedem Straßenfest gespielt, die Herzen der Mädchen gebrochen - und war trotzdem »Everybody's Darling« der Nachbarschaft gewesen.
»Wir haben auf zweierlei geachtet«, riss ihn die Stimme der Producerin aus seinen Gedanken. »Einerseits möchten wir natürlich prominente Interior-Experten vorstellen, die nach Hause zurückkehren, andererseits haben wir nach Kleinstädten gesucht, in denen es derzeit schwierige Entwicklungen gibt, also auch ein tatsächlicher Unterstützungsbedarf existiert.«
»Wir reden beide von Willington in Nordkalifornien?« Matt schob die Sonnenbrille in die Haare und hielt das Gesicht in die wärmende Sonne.
»Wann waren Sie das letzte Mal in Willington?«, fragte die Producerin. Sie klang neugierig.
»Das ist einige Zeit her, ich habe in diesem Jahr einige Projekte in Europa umgesetzt und war viel unterwegs, auch innerhalb der USA. Aber warum fragen Sie? Die Stadt lebt seit Jahrzehnten vom Weinanbau und vom Tourismus, und daran wird sich nichts geändert haben.«
»Sicherlich ist der Tourismus eine wichtige Einnahmequelle, aber . vielleicht habe ich hier unvollständige Angaben. Wie auch immer: Wir legen Wert darauf, dass drei Renovierungen stattfinden: Erstens ein Objekt, an dem die Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt zusammenkommen können. Dann wird ein Privathaus einer Familie oder Person, die sich in der Kleinstadt besonders engagiert, auf Vordermann gebracht. Also Sympathieträger, die eine hohe Wertschätzung in der Gemeinschaft genießen. Zu guter Letzt soll sich um ein Sozialprojekt gekümmert werden, in dem Brennpunktarbeit geleistet wird. Wir möchten gern, dass das Sendungsformat langfristig und nachhaltig für die Stadt ist - sie soll nicht nur schöner, sondern wieder besser, lebenswerter, einfach sozialer werden.«
Auf Matt machte die Producerin einen strukturierten Eindruck, selbst am frühen Morgen. Aber was redete sie da über Brennpunktarbeit in seiner Heimatstadt? Das war der langweiligste aller verschlafenen Heile-Welt-Orte in Nordkalifornien, vermutlich sogar der gesamten Westküste. Da hatte wohl jemand seine Hausaufgaben nicht richtig gemacht. Er hätte ihr gern empfohlen, die Angaben noch einmal zu überprüfen, aber er wollte nicht als unangenehmer Klugscheißer auffallen, deshalb beließ er es dabei. Er hatte erst vor einigen Wochen mit Kenneth Hauwke telefoniert, einem ehemaligen Mitschüler, der inzwischen Bürgermeister in Willington war. Wenn es Schwierigkeiten geben würde, hätte er es erwähnt. Tatsächlich sah es so aus, als ob dieses Sendungsformat im wahrsten Sinne des Wortes ein Heimspiel werden könnte. Die Stadt war entzückend, und wenn er, als landesweit bekannte TV-Größe, nach Hause zurückkehren würde, um dort die Lebensqualität der Stadt zusätzlich zu erhöhen, würden alle mit anpacken. Es würde ein Fest werden, nach so langer Zeit wieder heimzukommen, da war er sicher. Zudem war es eine gute Gelegenheit, seine Mutter Gloria zu besuchen. Er hatte sie tatsächlich etwas vernachlässigt, aber er hatte wirklich gute Gründe gehabt und ihr immer Karten geschickt, aus Belgien sogar ein Paket mit feinster Schokolade. Bisher hatte sie sich nicht beschwert, sondern sich mit Telefonaten und dem einen oder anderen Videocall zufriedengegeben.
»Die Dreharbeiten beginnen in acht Wochen«, fuhr Peters fort, »ich weiß, das ist sehr, sehr kurzfristig, es ließ sich aber leider nicht anders planen.«
»Oh, das ist wirklich überraschend . Wer sind die anderen Teilnehmenden der Sendung? Und welchen Gewinn gibt es? Diese...