1. KAPITEL
In dem Moment, in dem sie Charlotte zum ersten Mal seit vielen Monaten wiedersah, konnte Sophie erkennen, wie glücklich ihre Schwester war. Mit einem Strahlen kam sie auf das Taxi zugestürzt, das Sophie und ihre Eltern vom Fährhafen zu der luxuriösen Ferienanlage gefahren hatte, in der die Gäste für die Hochzeit von Charlotte und Alexis untergebracht waren.
"Sophie! Mum! Dad!" Charlotte fiel ihnen der Reihe nach um den Hals und sah sich dann um. "Wo ist denn Clifford, Sophie?"
Sophie biss sich auf die Lippen. Es war genau diese Frage, die ihre Laune deutlich trübte. "Er lässt sich entschuldigen, Charlie. Ihm ist in letzter Minute etwas dazwischengekommen."
"Du meine Güte", entfuhr es Charlotte. "Was kann denn für einen Mitarbeiter der Stadtverwaltung so Weltbewegendes passieren, dass er eine Hochzeit auf einer griechischen Insel verpasst?"
Ihre Mutter Margaret schüttelte missbilligend den Kopf. "Das versteht keiner von uns, Charlotte. Er hat sich auch erst gestern Abend gemeldet und sein Flugticket einfach verfallen lassen."
"Aber es klang schon ziemlich wichtig", fügte Sophie eilig hinzu. Sie war selbst total enttäuscht, dass ihr Freund so kurzfristig abgesagt hatte. Aber bestimmt würde er sie heute Abend wie versprochen anrufen und ihr mehr darüber erzählen. Vielleicht hatte es mit der Beförderung zu tun, die ihm der Bürgermeister von Little Beresford, ihrem Heimatort, für den Herbst angekündigt hatte? Auf jeden Fall würde er ihr einen guten Grund nennen müssen, weshalb er sie allein zur Hochzeit ihrer Schwester reisen ließ (einem Event, der für die ganze Familie so wichtig war) und erst zu dem danach geplanten Familienurlaub auf Mallorca dazustieß. Was würde er denn sagen, wenn sein Schwager Alexis nicht zu seiner Hochzeit mit Sophie kommen würde?
Insgeheim hoffte Sophie nämlich, dass Clifford ihr endlich einen Heiratsantrag machen würde, und was wäre eine bessere Gelegenheit als die Hochzeit ihrer Schwester auf einer romantischen griechischen Insel? Sie waren seit Jahren zusammen, hatten beide sichere Jobs in derselben kleinen Stadt (sie als Bibliothekarin, er als Mitarbeiter des Bauamts), und neulich hatte ihr Vater sie beim gemeinsamen Sonntagsdinner darauf hingewiesen, dass die alte Miss Roth ihr hübsches Häuschen hinter der Bücherei verkaufen und in eine Seniorenresidenz ziehen wollte. Seitdem träumte Sophie davon, mit Clifford dort zu wohnen und Miss Roths Rosengarten sorgsam weiter zu pflegen. Sie könnten sich einen Hund anschaffen, bevor sie sich entschlossen, Kinder zu haben, und .
"Sophie?" Charlotte lachte, als ihre Schwester sichtbar aus ihren Tagträumen aufschreckte, und hakte sich bei ihr unter. "Komm mit, ich will euch eure Zimmer zeigen!"
"Aber unser Gepäck ."
"Das bringt euch gleich der Page", unterbrach Charlotte sie. "Mum und Dad, euch habe ich hier direkt in der Nähe der Lobby untergebracht - mit direktem Zugang zum Garten!" Sie öffnete eine Zimmertür und führte ihre Familie in eine großzügig geschnittene Suite. "Bedient euch an der Minibar, wenn ihr mögt. Wenn ihr euch etwas frischgemacht habt, kommt doch einfach an den Pool und trinkt einen Kaffee mit uns."
Charlottes Vater Derek trat zum Fenster und schaute interessiert nach draußen. "Eine interessante Bauweise, dieses Hotel!" Auch wenn er privat unterwegs war, sprach der Architekt aus ihm.
"Alexis führt dich sicher gern ein wenig herum", versprach seine ältere Tochter, während sie ihre Schwester wieder aus dem Raum steuerte. "Sophie, dich habe ich drüben im Westflügel einquartiert mit Blick aufs Meer."
"Moment mal!", widersprach Margaret. "Jetzt, wo Clifford nicht mitgekommen ist, wäre es doch sicher besser, wenn Sophie bei uns in der Nähe wohnt, meine ich."
"Mum!", sagte Sophie kopfschüttelnd. "Ich bin fünfundzwanzig und nicht mehr fünf. Ich komme schon in einem anderen Flur zurecht, glaub mir."
"Ich würde es dir zutrauen!", rief Charlotte vergnügt aus. "Also, Mum, lass deinem Nesthäkchen etwas Freiheit. Sie soll sich doch hier amüsieren."
Margaret runzelte die Stirn. "Also wirklich, Charlotte, was meinst du denn damit?"
"Dass ich für meine Hochzeit nur fröhliche Menschen um mich haben möchte", erwiderte Charlotte und zog ihre Schwester mit sich aus dem Zimmer. Sie tauschte einen verschwörerischen Blick mit ihr. "So, und jetzt sag, dass du mir dankbar bist, dass ich dir kein Zimmer direkt neben Mum gegeben habe."
Sophie lächelte etwas hilflos. "Sie meint es nur gut, Charlie, das weißt du doch."
"Ja, aber gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht", meinte ihre Schwester. "Und du möchtest doch nicht, dass sie dir hier täglich erklärt, was du anziehen sollst, oder?"
Jetzt musste Sophie kichern. "Keine Sorge, das tut sie schon lange nicht mehr. Aber sag mal, wie es dir geht? Bist du aufgeregt?"
"Ein bisschen schon", gestand Charlotte. "Aber Alexis und seine Familie haben sich wirklich viel Mühe gegeben, damit die Hochzeit so wird, wie wir es möchten. Ein Riesenfest mit rotem Teppich und Sektempfang in einem Athener Fünf-Sterne-Hotel ist einfach nicht mein Stil. Hier kann alles ganz zwanglos vonstattengehen."
"Zwanglos", murmelte Sophie, während sie ihrer Schwester durch das Hotel folgte. Für sie drückte jedes Detail einen Luxus aus, der ihr fremd war und sie deswegen ein wenig verunsicherte. Aber sie freute sich für ihre Schwester, dass sie an diesem Wochenende ihren Traummann heiraten würde, und sie würde gern alles mitmachen, um die Feier so schön wie möglich werden zu lassen. Natürlich würde ihre eigene Hochzeit ganz anders werden, wenn sie erst mal mit Clifford .
Wieder riss Charlotte sie aus ihren Gedanken. "So, da vorn ist deine Suite. Alexis und ich wohnen gleich nebenan, da hast du es nicht weit, wenn ich mich für die Trauung fertig mache. Ich rechne fest mit deiner Unterstützung!"
"Natürlich helfe ich dir!", versicherte Sophie. "Wie sieht denn dein Kleid ." Erschrocken wich sie im letzten Moment aus, als direkt vor ihr eine Tür aufgestoßen wurde und ein Mann in den Flur trat.
"Oh, Verzeihung, da war ich wohl etwas zu schwungvoll!", entschuldigte er sich in perfektem Englisch.
"Das trifft sich ja gut!", sagte Charlotte. "Da kann ich euch direkt bekannt machen! Sophie, das ist Nikos Katsounis, der Cousin von Alexis und sein Trauzeuge. Nikos, meine Schwester Sophie. Sie wird mich vor den Altar begleiten."
"Freut mich sehr!" Nikos streckte Sophie seine Hand entgegen. "Noch eine bildschöne Engländerin - ich bin begeistert! Ich bin sicher, wir werden eine tolles Fest miteinander feiern. Ich wollte gerade an den Pool - kommst du mit?"
Sophie fühlte sich ein wenig überrumpelt von seinen Schmeicheleien. Auch wenn sich nicht abstreiten ließ, dass Charlotte eine sehr attraktive Frau war, sich selbst hielt sie nicht für bildschön mit ihren blonden Haaren, die sich ständig gegen ihren Willen zu wilden Locken kräuselten, und der blassen Haut. Nach der Fahrt in dem nicht klimatisierten Taxi war sie ein wenig verschwitzt und ihre weiße Bluse arg zerknittert. Da konnte sie die Worte dieses Mannes wirklich nicht ernst nehmen, der seinerseits so aussah, wie sie sich griechische Götter vorstellte: groß, wohlproportioniert, mit rabenschwarzem Haar und ebenmäßigen Gesichtszügen. Perfekte weiße Zähne kontrastierten vorteilhaft mit seiner gebräunten Haut, und ja, an seinem Hals schimmerte ein sehr dezentes Goldkettchen.
Ungläubig musterte sie ihn, während er mit festem Griff ihre Hand schüttelte. Solche Typen gab es wirklich? Bei genauerem Hinsehen erkannte sie die Familienähnlichkeit mit Alexis, der ja auch ein gut aussehender Mann war, aber Nikos schlug ihn noch um Längen. Sie spürte, wie sich ihre Stimmung besserte. Cliffords Absage hatte sie doch ein bisschen niedergedrückt. Aber wenn sie die Hochzeit mit diesem Adonis verbrachte, könnte sie ihre Freundinnen daheim zumindest mit einigen neiderweckenden Fotos beeindrucken.
"Nun lass Sophie erst mal ankommen", nahm Charlotte ihr die Antwort lachend ab. "Später ist noch genug Zeit, um euch näher kennenzulernen."
"Das will ich doch hoffen!", meinte er und zwinkerte Sophie zu. "Ich freue mich schon darauf!"
Charlotte schob ihre Schwester in den Wohnraum der Suite, die sie gerade aufgeschlossen hatte. "Ein Charmeur, wie er im Buche steht, unser Nikos", erklärte sie. "Aber im Grunde einer der nettesten Menschen, die ich kenne. Mit ihm kann man immer viel Spaß haben."
"Das bezweifle ich nicht", murmelte Sophie, immer noch nicht ganz sicher, was sie von dieser Begegnung halten sollte. "Was macht dieser Schönling denn beruflich? Wenn er überhaupt was macht?"
"Du wirst dich wundern", erwiderte ihre Schwester. "Er ist Unternehmensberater, und zwar ein sehr erfolgreicher. Seine Kunden halten große Stücke auf ihn. Dieses ganze Playboy-Gehabe ist nur eine Masche, weißt du. Beruflich ist er ganz anders."
"Ah", machte Sophie ein wenig unkonzentriert, weil sie ans Fenster getreten war und den Ausblick entdeckt hatte. Königsblau schimmerte die Ägäis hinter der sorgsam gepflegten Parklandschaft des Hotelgartens, wo zwischen schattenspendenden Bäumen auch der türkisfarbene Pool...