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Tut mir leid. Meine Mutter hat es nicht böse gemeint.« Philip klang zerknirscht am Telefon. »Aber da du ja jetzt in Stockmill bist, hat sie einfach nicht daran gedacht, dass du am Wochenende zu dem Jagdausflug mitkommen möchtest. Du hast dir nie viel daraus gemacht.«
»Das Vergessen geht schnell, wie ich merke. Ich bin gerade mal vier Tage aus London fort. Außerdem geht es mir nicht ums Jagen, sondern um unsere Töchter, die ich gern sehen würde.« Melody schluckte die nächste bissige Bemerkung hinunter, die ihr bereits auf der Zunge lag. Sie setzte sich an den Küchentisch und griff mit der freien Hand nach dem heißen Tee. »Was soll's! Dann wünsche ich euch viel Spaß.«
»Jetzt bist du sauer«, stellte Philip fest.
Melody seufzte. Sie beobachtete die Rauchschwaden, die aus ihrem Becher in die kalte Luft der zugigen Küche stiegen. Es brachte nichts, beleidigt zu sein, und außerdem hatte er ja recht. Melody hatte sich für ihre Karriere entschieden, obwohl sie wusste, dass sie dafür zwischen London und Stockmill pendeln musste und unter der Woche vom Familienleben ausgeschlossen sein würde. Doch an den Wochenenden wollte sie bei ihnen sein. Auch wenn ihre Töchter, die jetzt schon vierzehn Jahre alt waren, immer weniger Zeit zu Hause verbrachten und sie oft gar nicht mehr brauchten. Melody hatte sich die Entscheidung nicht leicht gemacht. Aber hätte sie die Beförderung zur Oberstaatsanwältin abgelehnt, dann hätte sie es sicher bereut. Jetzt litt sie ihrer Familie gegenüber unter Schuldgefühlen.
»Du weißt, dass meine Eltern es nicht gut finden, dass du die Stelle angenommen hast und nicht bei den Kindern bist«, sagte Philip mit ernstem Ton in der Stimme. »Und ich bin auch nicht gerade begeistert.«
»Fang nicht wieder damit an. Es muss doch möglich sein, Karriere und Familie zu vereinbaren. Als wir uns damals für die Kinder entschieden haben, stand fest, dass wir trotzdem im Job etwas erreichen wollen. In London gibt es unzählige Bewerber, da sind die Chancen gering, ausgewählt zu werden. Stockmill ist eine gute Alternative. Wenn ich zwei oder drei Jahre als Oberstaatsanwältin hier gearbeitet habe, kann ich mich nach London versetzen lassen.« Melody strich sich über die Stirn. »Außerdem ist das eine gute Gelegenheit, Abigail's Place endlich für einen Verkauf vorzubereiten.«
»Das hättest du schon längst von London aus regeln können. Du hast das Haus vor vier Jahren geerbt und bisher noch nichts unternommen.«
Melody atmete tief durch. »Es ist ein Stück Familiengeschichte. Ich kann das Haus doch nicht einfach verkaufen, ohne mich noch einmal in Ruhe hier umgesehen zu haben.« Sie ließ ihren Blick durch die alte Küche schweifen. »Abigail's Place hat zwar hundertachtzig Jahre lang leer gestanden, aber es war meinen Vorfahren anscheinend so wichtig, dass es nie verkauft wurde. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich es einfach achtlos an jemand anderen weitergeben würde. Und dass ausgerechnet eine Oberstaatsanwältin hier in Stockmill gebraucht wurde, ist Schicksal.«
»Melody«, sie konnte das Augenrollen ihres Mannes durch die Telefonleitung förmlich sehen, »wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Die Fabrik, zu der das Haus einmal gehörte, besteht nicht mehr. Du musst lernen, es loszulassen und deinen Pflichten als Mutter nachzukommen. Und die sind nun einmal hier in London.«
Melody spürte, dass Wut in ihr aufstieg. Seit Tagen drehten sie sich mit ihren Diskussionen um Melodys neue Stelle im Kreis. Warum brachte Philip nicht einen Funken Verständnis dafür auf, dass es für sie noch mehr gab, als nur ihre Töchter großzuziehen? Dass es noch mehr geben musste! Denn was sollte aus ihr werden, wenn die Mädchen ihre eigenen Wege gingen? Sollte Melody dann zu Hause hocken und dem Echo ihrer Kinder lauschen? Sie bemühte sich, nicht genervt zu klingen, als sie sagte: »Deine Kanzlei ist eine der größten des Landes. Es gibt sogar in Stockmill eine Niederlassung. Wieso ziehst du nicht mit Mia und Miranda hierher?«
»Weil ich kein Hündchen bin, das seinem Herrn auf Schritt und Tritt folgt. Was kann ich dafür, dass du zur Oberstaatsanwältin befördert worden bist?« Philips Stimme klang verächtlich.
Melody biss sich auf die Unterlippe. Ihrem Mann hatte es nie gefallen, dass sie als Frau berufstätig war und Karriere machte. Und dass sie dabei auch noch erfolgreicher war als er, machte die Sache nicht besser. Philip kam aus einer alten Familie mit Geld und Traditionsbewusstsein.
Melody sprach schnell weiter, bevor es zum Streit kommen konnte. »Gib mir doch bitte mal die Mädchen.«
»Oh, tut mir leid«, Philip machte eine kurze Pause, »meine Mutter ist mit ihnen auf Shopping-Tour gegangen. Sie brauchen für den Ausflug noch Tweedjacken, die alten passen ihnen nicht mehr.«
»Nur für dieses eine Wochenende? Ist das nicht etwas übertrieben?« Melody hasste das Konsumverhalten ihrer Schwiegermutter, die mit Sicherheit wieder Hunderte von Pfund für diese Jacken ausgeben würde, die nach dem Wochenende nur im Schrank hängen würden, da die Mädchen genügend andere besaßen.
»Es ist ihr Geld, warum regst du dich auf?« Philips Stimme klang genervt. »Sei doch froh, dass sie sich um die Mädchen kümmert, jetzt wo du einhundertzwanzig Meilen entfernt in Stockmill sitzt.«
»Das hatten wir doch geklärt, die Mädchen freuen sich für mich. Es ist nur für zwei Jahre, und ihr könntet immer noch hierherkommen.« Melody unterdrückte einen Seufzer.
»Wir geben nicht unser Leben auf, nur damit du deiner fixen Idee nachjagen kannst«, sagte Philip wütend.
»Du nennst meine Karriere eine fixe Idee?« Melody ärgerte sich, dass sie sich doch wieder auf eine Diskussion eingelassen hatte. Es gab sowieso nur Vorwürfe und Gegenvorwürfe zwischen ihnen. »Schon gut. Also, macht euch eine schöne Zeit im Exmoor. Wir sehen uns dann übernächstes Wochenende.«
Sie legte auf und starrte einen Moment auf das Display. Elf Minuten hatte ihr Gespräch gedauert. Er hatte sich auffällig wenig nach ihrer Arbeit erkundigt. Dabei schwirrte ihr der Kopf vor lauter neuen Eindrücken, und sie hätte ihm gern mehr über ihre erste Woche als Oberstaatsanwältin erzählt, die fast schon vorbei war. Eigentlich hatte sie geplant, morgen nach der Arbeit direkt nach London zu fahren, um das Wochenende mit ihrer Familie zu verbringen. Sie lehnte sich nach vorn und betrachtete das Fliesenmuster des alten Küchenbodens. Aber Philip hatte ihr gerade eröffnet, dass seine Mutter mit ihm, Mia und Miranda zur Jagd nach Devon fahren wollte, wo ein Freund der Familie ein kleines Jagdhaus besaß.
Melody schüttelte den Kopf und legte das Telefon auf die unebene Tischplatte. Es war scheußlich kalt und zugig in Abigail's Place. Sie umfasste den Teebecher mit beiden Händen. Es ging auf Ende Oktober zu, und ihr graute vor dem Winter. Ihre Gedanken kehrten zu dem Gespräch mit Philip zurück. Aus irgendeinem Grund gab es kein freies Bett mehr in dem Jagdhaus, sodass sie übers Wochenende nicht mit ihrer Familie nach Devon fahren konnte. Melody hasste Jagdgesellschaften und war wirklich nicht traurig, dieses Ereignis zu verpassen, aber sie hätte ihre Töchter gern gesehen. Sie war zwar erst seit einer Woche von London fort, aber die Mädchen fehlten ihr sehr. Ihre Schwiegermutter Henrietta schien die Gelegenheit nur zu gern zu ergreifen, die Mädchen und Philip für sich zu haben. Melody und Henrietta waren nie besonders gut miteinander ausgekommen. Philips Mutter waren Traditionen und die Meinung anderer Menschen schon immer wichtiger gewesen als persönliches Glück und Erfüllung. Daher hatte sie von Beginn an an Melodys Berufstätigkeit herumgenörgelt.
Melody trank den letzten Schluck Tee und stand auf. Gut, dann würde sie das Wochenende eben hier verbringen. Warum sollte sie die Fahrt nach London auf sich nehmen, wenn die Mädchen und Philip sowieso nicht zu Hause waren? Es würde ihr guttun, sich ein paar Tage Ruhe zu gönnen. Vielleicht konnte sie endlich mit dem Aufräumen des alten Hauses beginnen. Bislang hatte sie so viel zu tun gehabt, dass sie noch nicht dazu gekommen war, Abigail's Place genauer zu untersuchen. Sie verdrängte ihre Schuldgefühle, die sie seit dem Telefonat wieder plagten, und drehte das Gaslicht höher. Trotzdem wurde es nicht richtig hell in der Küche. Während ihr Blick über den alten Herd, die massiven Küchenschränke, den großen Spülstein und den Küchentisch glitt, überlegte sie, was sie mit diesem Haus anstellen sollte. Einerseits widerstrebte es ihr, Abigail's Place zu verkaufen, andererseits würde der Renovierungsaufwand enorm werden.
Sie trat in den dunklen Flur hinaus. Ein Luftzug streifte sie, und sie schüttelte sich unwillkürlich. Das alte Holz der Wandvertäfelung knarrte. Es war inzwischen sechs Uhr abends und draußen schon fast dunkel geworden. Während sie nach der Gaslampe tastete, die an der Wand des Korridors angebracht war, lief ihr ein Schauer über den Rücken. Dieses Haus bräuchte dringend elektrische Leitungen! Mit den Gaslampen war es einfach nicht richtig zu beleuchten. Unvorstellbar, dass die Menschen jahrhundertelang mit Gaslicht, Kerzen und Öllampen ausgekommen waren.
Der Wind fegte ums Haus und einen Moment lang flackerten die Lichter. Ein Pfeifen ließ Melody zusammenzucken, bis ihr klar wurde, dass es nur der Sturm gewesen sein konnte, der durch die undichten Fenster wehte. Plötzlich kam sie sich einsam und hilflos vor. Sie stand mitten in der Eingangshalle, hoch über ihrem Kopf erstreckte sich das wunderschöne Glasdach, durch das tagsüber helles Sonnenlicht fiel, das die Halle...
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