Schweitzer Fachinformationen
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Eins
NEW YORK CITY
JUNI 1944
Kate
Der Regen, der auf die verdunkelte Glaskuppel über meinem Kopf trommelte, wirkte so hypnotisierend wie das Ticken einer Uhr, und weder die harte Marmortreppe, auf der ich saß, noch die fein gearbeitete Spindel des Treppengeländers, die sich gegen meine Stirn presste, konnten etwas gegen das einlullende Schlaflied der Regentropfen ausrichten. Ich versuchte, mich auf das kunstvolle Treppengeländer der alten Stadtvilla zu konzentrieren und die herausragenden architektonischen Details auf mich wirken zu lassen, die nicht einmal die Umwandlung in ein Krankenhaus übertünchen konnte.
Ich dachte zurück an die Spaziergänge, die ich als Kind mit meiner Mutter entlang der Neunundsechzigsten Straße unternommen hatte. Wir waren dabei nicht unserem üblichen Weg gefolgt, doch am Ende schien es trotzdem jedes Mal so, als wären wir nicht bloß aus reinem Zufall an unser Ziel gelangt. Wir überquerten die Straße und verharrten auf dem Bürgersteig, während wir zu der siebenstöckigen Villa mit den hohen Fenstern hochsahen, die blicklos auf uns herunterstarrten und scheinbar genauso begierig darauf waren wie ich, den Grund meiner Anwesenheit zu erfahren. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass sie früher eine kurze Zeit in diesem Haus gewohnt hatte, als es noch als Pensionat für ehrenwerte Damen gedient hatte. Sie hatte jedoch nie erwähnt, warum es sie immer wieder an diesen Platz auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurückzog, und vor drei Jahren war sie schließlich gestorben. Es war mir beinahe wie eine glückliche Fügung erschienen, als ich nach meiner ärztlichen Ausbildung eine Stelle im Stornaway Hospital bekommen hatte. Beinahe so, als hätte es meine Mutter die ganze Zeit über geplant.
Mein Blick blieb an dem Flachrelief an der gegenüberliegenden Wand hängen, das den heiligen Georg zeigte, der gerade auf einen Drachen einstach. Es war ein Motiv, das ich immer wieder im ganzen Haus gesehen hatte, seit ich vor beinahe einem Jahr hier angefangen hatte zu arbeiten. Als mir einen Moment lang die Augen zufielen, sah ich vor mir, wie der Heilige und der Drache von der Wand stiegen und sich in ihrem immerwährenden Kampf auf dem gefliesten Boden krümmten.
Mühsam öffnete ich die Augen, wenn auch nur, um mich zu vergewissern, dass die steinernen Gegner sich nicht vom Fleck bewegt hatten. Dann zog ich mich am Treppengeländer hoch. Ich war so furchtbar müde. Es war meine zweite Doppelschicht in Folge, und ich bezweifelte, dass es die letzte sein würde. Das Krankenhaus wurde nach der kürzlich erfolgten Invasion Frankreichs von einer Welle verwundeter Soldaten überrollt. Da sich mittlerweile immer mehr Ärzte zum Dienst in der Armee verpflichtet hatten und nach Übersee unterwegs waren, gab es ohnehin nicht mehr viele von uns, und die, die übriggeblieben waren, arbeiteten so viel, wie es seit der Ausbildung kaum noch notwendig gewesen war.
Beim Heulen einer herannahenden Sirene riss ich mich rasch zusammen, bevor mich eine der Schwestern in diesem Zustand psychischer Verwirrung ertappte. Als einzige Ärztin im Krankenhaus war es schon schwierig genug, vor den männlichen Kollegen das Bild einer Frau ohne Gefühle und persönliche Bedürfnisse aufrechtzuerhalten. Vor den Schwestern war es hingegen beinahe unmöglich. Hätten sie mich gefragt, warum ich Ärztin geworden war, hätte ich es ihnen gesagt. Doch sie fragten nicht. Ihrer Meinung nach war ich Ärztin geworden, weil ich mir zu schade war, um Krankenschwester zu sein.
Einige wenige brachten mir Respekt entgegen, obwohl ich eine Frau war, doch die meisten waren zu traditionsbewusst und hatten zu hart geschuftet, um sich als Krankenschwester eine höhere Stellung zu erarbeiten. Für sie war ich nichts weiter als ein Emporkömmling.
Bei dem Gedanken daran musste ich beinahe lachen, denn mir fielen sofort wieder die zahllosen Bettpfannen ein, die ich leeren musste, und die Nähte, die ich zu setzen gehabt hatte, weil es zu wenig Pflegepersonal gab. Das Lachen blieb mir jedoch im Hals stecken, als mir klar wurde, dass die Sirene immer lauter wurde. Gerade so, als käme sie direkt auf mich zu. Innerlich verfluchte ich die Verdunkelungsvorhänge und die bemalten Fenster, die jeglichen Blick aus dem Krankenhaus genauso effektiv unterbanden, wie sie die Skyline der Stadt vor potenziellen Angreifern verbargen.
Mittlerweile war ich hellwach und lief die Wendeltreppe hinunter. Ich kam an einigen herrschaftlichen Zimmern vorbei, die zu Operationssälen umgerüstet worden waren, an einem Labor und an einem Krankenzimmer, das bis auf den letzten Platz belegt war. Mein weißer Kittel schlug mir gegen die nackten Beine. Es war Jahre her, seit ich zuletzt ein gutes Paar Strümpfe besessen hatte, doch ich hatte viel zu viel vom Krieg miterlebt, um deswegen betrübt zu sein.
Ich gelangte als Erste ins Foyer, schnappte mir eine Taschenlampe vom Tisch und schaltete sie ein. Die inneren Türen, die in den Windfang führten, waren vorübergehend an der Wand festgehakt worden, sodass nur ein zügiger Druck gegen die Außentüren notwendig war, um nach draußen zu gelangen. Sofort prasselte der Regen auf mich ein und durchnässte mich bis auf die Haut, sodass Kittel und Kleid an meinem Körper klebten.
Ich lief die rutschigen Steinstufen hinunter auf den Krankenwagen zu, der gerade an den Randstein fuhr. Die Frontscheinwerfer waren zur Hälfte schwarz bemalt, das Blaulicht ausgeschaltet. Der Fahrer stieg aus dem Wagen. Er war ein großer Mann und blickte mit traurigen Augen unter der Krempe seines tropfnassen Hutes hervor.
»Warten Sie«, sagte ich und stellte mich ihm in den Weg. Ich musste schreien, um mich über den Regen hinweg verständlich zu machen, der auf den Krankenwagen und die Straße prasselte. »Wir haben keinen Platz mehr. Selbst im Speisesaal stehen überall Pritschen mit Patienten. Wir sind vollkommen überfüllt.«
»Ich folge nur meinen Befehlen, Ma'am. Wir haben hier einen Offizier. Er kommt direkt vom Schiff und ist in ziemlich schlechter Verfassung. Ich habe den Auftrag erhalten, ihn hierher zu bringen.«
»Aber .«
Der Kerl schob sich an mir vorbei, als wäre ich nichts weiter als ein kläffender kleiner Hund, gerade als Dr. Howard Greeley mit einem Regenschirm in der Hand gemächlich hinter den Krankenwagen trat. Seine Glubschaugen wanderten über meinen durchnässten Körper und die Kleider, die mir am Leib klebten. Er bot mir keinen Platz unter seinem Schirm an.
Stattdessen schüttelte er bloß kurz und missbilligend den Kopf und wandte sich an den Fahrer. »Was haben wir hier?«
»Einen Offizier, Sir. Er ist in schlechtem Zustand.«
»Wir finden sicher einen Platz für ihn.« Dr. Greeley warf mir einen vernichtenden Blick zu.
Die beiden Männer ignorierten mich weiterhin, während ein Krankenwärter die Türen des Krankenwagens öffnete, sodass wir einen Blick auf die unter einer Decke zusammengekauerte Gestalt im Inneren werfen konnten. Trotz der Junihitze zitterte der Patient am ganzen Körper.
Während die Krankenwärter ihn für die Verlegung vorbereiteten, reichte jemand Dr. Greeley eine Mappe, die vermutlich die Krankengeschichte des Patienten enthielt. Ich hatte keine Lust mehr, ignoriert zu werden, weshalb ich mir einfach die Unterlagen schnappte und unter Dr. Greeleys Schirm trat. Ich ignorierte seinen bösen Blick und meinte: »Hervorragende Idee. Sie halten den Schirm, während ich mir das hier ansehe.«
Sorgsam darauf bedacht, dass der Regen nicht auf die Seiten tropfte, blätterte ich die Akte durch und erstattete Dr. Greeley Bericht: »Man hat dem Patienten während der Schlacht um Cherbourg ins Bein geschossen - dabei wurde der Knochen verletzt. Der Feldarzt wollte das Bein amputieren, aber .«, mein Blick wanderte an den oberen Rand des Blattes, wo der Name des Patienten vermerkt war, ». Captain Ravenel hielt ihn davon ab. Stattdessen entfernten sie das geschädigte Gewebe und behandelten die Wunde mit Sulfanilamid, doch durch den Zeitdruck war eine verzögerte primäre Wundheilung nicht möglich.« Ich verzog das Gesicht, denn mittlerweile war mir klar, wie sich die Wunde infiziert hatte. »Das Sulfanilamid wirkte offensichtlich, und die Ärzte gelangten schließlich zu dem Schluss, dass er stabil genug war, um ihn zusammenzunähen und mit dem Schiff nach Hause zu schicken, da sein Bein - auch wenn es wieder vollständig verheilen sollte - für einen Infanteristen wohl nicht mehr zu gebrauchen sein wird.«
Ich hielt die Taschenlampe ein wenig höher, um auch noch den letzten Absatz zu lesen, der in einer anderen Handschrift verfasst worden war und vermutlich vom Schiffsarzt stammte. »Offensichtlich befindet sich noch ein Stück Knochen oder ein Fremdkörper im Bein und verursacht eine Infektion, doch aufgrund der Penizillinknappheit an Bord entschied der Schiffsarzt, mit der Operation bis nach der Überstellung in ein örtliches Krankenhaus zu warten.« Ich schloss die Mappe. Dieser Narr, dachte ich, wenn auch mit gewisser Bewunderung. »Sie sind ein wahrer Held, Captain Ravenel«, erklärte ich leise.
Als die Krankenwärter die Bahre aus dem Krankenwagen hoben, stöhnte der Patient auf. Jener Teil der Decke, auf den der Regen prasselte, wurde sofort schmutzig braun, doch anstatt Dr. Greeley den Schirm zu entreißen, drückte ich ihm Akte und Taschenlampe in die Hand, zog meinen weißen Mantel aus und hielt ihn schützend über die Bahre.
Die Krankenwärter trugen die Bahre die Treppe hinauf zur Eingangstür, und ich gab mein Bestes, um den starken Regen abzuwehren, was mir aufgrund meines ohnehin bereits vollkommen durchnässten Mantels jedoch nur teilweise gelang. Auch wenn...
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