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Heute
11. Mai 1942 Ocracoke Island, North Carolina
Das erste Licht des Sonnenaufgangs verwandelte das Wasser des Pamlico-Sunds in Gold, die Wolken in rosa Watte und die Dunkelheit in einen Morgen, der Evie Farrow versprach, dass der heutige Tag genauso werden würde wie der gestrige. Und wie der morgige. Genau wie jeder andere Tag auf der winzigen Insel in den Outer Banks von North Carolina. Sie konnte dagegen ankämpfen oder es einfach akzeptieren.
Aber es wurde schon genügend gekämpft auf der Welt und Evie hatte immer friedliche Lösungen bevorzugt. Also atmete sie tief ihren Lieblingsduft ein - Hefe, Zucker und Zimt - und legte die noch leicht warmen süßen Brötchen in ihren Korb. Einen Moment lang blieb sie stehen und starrte zum Küchenfenster hinaus, von dem aus man die Meerenge sehen konnte - ein Anblick, der sie immer wieder beruhigte. Später würde sie am Ufer entlanggehen. Vielleicht sogar die Bucht einmal umrunden bis zu der Stelle, an der sich der Atlantik mit stärkeren Wellen und Strömungen zu seiner zahmeren Schwester gesellte. Sie würde den üblichen Weg nehmen. Sie würde Muscheln und Strandglas sammeln. Und sie würde für alle beten, die sie besonders liebte.
Zu viele von ihnen waren jetzt auf der anderen Seite des Ozeans. Zu viele von ihnen waren in den Krieg verwickelt, der das Meer zu einem Überbringer von Feinden anstatt von Freunden machte. Andererseits war dieses Gewässer immer launisch gewesen. Es nahm so oft, wie es gab. Aber Evie liebte es trotzdem.
Eine Hand berührte leicht ihren Arm. Evie fuhr herum und lächelte Grandma Si an, die ihr einen Becher mit dampfendem Kaffee entgegenstreckte. Evie berührte mit den Fingerspitzen ihr Kinn und bewegte ihre Hand dann von sich fort - dies war das zweite Zeichen der Gebärdensprache, das sie damals gelernt hatte. Danke. Dann schob sie die Finger in den vertrauten Henkel, hob den Becher an und nahm einen Schluck, um sich zu stärken.
Grandma Si lächelte ebenfalls und wedelte mir ihrer Hand. Es war ihr üblicher Morgengruß: Zeit, mit der Sonne um die Wette zu laufen.
Evie lachte und beugte sich vor, um einen Kuss auf die vertraute federweiche Wange zu drücken. "Ich gehe ja schon." Diese Worte brauchte sie nicht in Gebärdensprache auszudrücken - obwohl Grandma Si sie nicht hörte, konnte sie das Gesagte an Evies Lippen ablesen, und außerdem erwartete sie auch genau diese Reaktion. Es war ihr tägliches Skript.
Evie hängte sich den Korb über den Arm und trat in den Frühlingsmorgen hinaus. Genauso wie sie es gestern getan hatte und genauso wie sie es morgen tun würde. Sie ging den vertrauten Weg zur Station der Küstenwache hinunter, so wie sie es jeden Morgen in den letzten sechs Jahren getan hatte. Und wie sie es wahrscheinlich weitere sechs, weitere zehn Jahre tun würde.
Bis in alle Ewigkeit.
Evie holte tief Luft und rief sich, wieder einmal, ins Gedächtnis, dass dies ihre eigene Entscheidung gewesen war. Sie hatte sich entschieden, auf der Insel Ocracoke nicht nur halb, sondern ganz zu Hause zu sein. Sie hatte sich dazu entschieden, ihre anderen Beziehungen auf Besuche und Urlaube zu beschränken.
Warum also hatte sie dann in letzter Zeit das Gefühl, so viel zu vermissen?
Was für eine dumme Frage! Wie sollte es anders sein? Der größte Teil ihres Herzens war einen Ozean weit entfernt.
"Guten Morgen, Miss Evie." Evie ließ den Blick weiter schweifen, bis hin zu der Stelle, an der ihre nächste Nachbarin auf ihrer Veranda stand, selbst einen Becher Kaffee in der Hand. Evie runzelte die Stirn. So früh war Miss Marge sonst nicht draußen. "Morgen, Miss Marge. Wie haben Sie geschlafen? Macht der Rücken Ihnen noch zu schaffen?"
Schon bei der Erwähnung rieb sich die alte Frau den unteren Rücken und stieß einen Seufzer aus, den vermutlich selbst die Tauben auf den neu gezogenen Stromleitungen hörten. "Ach, ich habe aufgegeben - mit mir ist nicht mehr viel los. Ich dachte, ich setze mich ein bisschen hier auf die Veranda und lege mich dann aufs Sofa. Haben Sie den Lärm letzte Nacht gehört?"
Evie verlangsamte ihre Schritte nicht, aber sie änderte ihre Richtung und ging auf die Verandatreppe zu, während sie den Kaffee auf ihren bereits beladenen Arm verlagerte, um eine Hand frei zu haben. Seit Mr Mack letztes Jahr gestorben war, hörte Miss Marge immerzu Geräusche und sie weigerte sich zu glauben, dass sie allesamt von der Kolonie wilder Katzen in der Nähe stammten. "Nichts Ungewöhnliches." Evie griff in den Korb und zog eines der Zimtbrötchen heraus, bestrichen mit klebrigem Zuckerguss.
Dieser Zuckerguss an ihren Fingern war etwas, das sich tatsächlich ändern würde, und zwar schon bald. Im Radiobericht am Abend zuvor war verkündet worden, dass sie Zucker bald rationieren würden. Was sollte Evie den Jungs auf der Wache dann bringen? Sie würde sich etwas einfallen lassen müssen. Oder ihnen stattdessen etwas Herzhaftes backen. Von den Hühnern und Schweinen auf der Insel hatte sie reichlich Eier und Speck. Und in ihrem Garten würde sie bald Gemüse ernten können. Evies Mundwinkel zuckten, als sie sich vorstellte, was die Männer sagen würden, wenn sie mit einer herrlichen französischen Quiche erschien anstatt mit Kuchen.
"Hier, Miss Marge. Etwas, das Sie zu Ihrem Kaffee genießen können." Lächelnd übergab sie das süße Brötchen.
Miss Marges Augen leuchteten auf und Evie schalt sich, weil sie seit ihrem letzten, mit Gebäck beladenen Besuch drei Tage hatte verstreichen lassen. Die alte Dame war nicht mehr so gut zu Fuß, als dass sie lange in der Küche hätte stehen können. "Oh, vielen Dank, meine liebe Evie. Ihr Damen von der Pension seid die besten Bäckerinnen auf der Insel." Sie schloss die Augen und hielt sich das Brötchen unter die Nase, um den Duft tief einzuatmen. Dann schlug sie die Lider wieder auf und ihre trüben Augen waren voller Besorgnis. "Aber passen Sie auf sich auf, hier ganz allein auf dem Weg. Unter den Bäumen ist es noch nicht mal richtig hell und in diesen Wäldern gibt es Deutsche. Ein hübsches junges Ding wie Sie kann gar nicht vorsichtig genug sein."
Evie runzelte die Stirn und streckte die Hand aus, um eine fedrige graue Locke, die entwischt war, wieder unter das Kopftuch ihrer betagten Nachbarin zu schieben. Letzten Monat war angeblich ein entlaufener Rotluchs durch den Wald gestreift, der von . irgendwoher zur Insel geschwommen war, wie man vermutete.
Es hatte keinen Sinn, Miss Marge zu widersprechen - oder ihr zu erklären, dass es hier unmöglich Deutsche geben konnte. Es hatte keinen Sinn, sie daran zu erinnern, dass Ocracoke wahrscheinlich der sicherste Ort der Welt war - und dass Evie nun wirklich kein "junges Ding" mehr war. Auch wenn es noch drei Jahre dauerte, bis sie 30 wurde, hatte sie genug gelebt, um sich so uralt vorzukommen wie die Lebenseiche an der Ecke, die sich knorrig in den Himmel reckte.
Unsinnig, etwas von alldem zu sagen. Aber Evie würde ein zusätzliches Gebet für die liebe Marge sprechen, wenn sie weiterging. "Ich werde vorsichtig sein. Und später komme ich noch mal vorbei, ja? Versuchen Sie, nach dem Frühstück noch ein bisschen zu schlafen."
Miss Marge nickte ihr zu. Zufrieden stieg Evie von der Veranda und kehrte auf die Straße zurück, wo sie ihre Schritte jetzt beschleunigte, um den Umweg wiedergutzumachen. Sie versuchte immer, zum Schichtwechsel bei der Küstenwache einzutreffen, damit beide Mannschaften da waren.
Ein Summen stieg in ihrer Kehle auf, während sie lief: Sunrise Serenade schien eine passende musikalische Untermalung, jetzt, wo das Tageslicht etwas heller geworden war. Evie begrüßte noch ein paar andere Frühaufsteher mit ihrem Kaffeebecher, wobei die Grüße, die sie sonst immer später am Tag riefen, aus Rücksicht auf die Langschläfer um sie herum noch ausblieben. Ein paar Fischer, die spät dran waren, eilten zum Hafen, der Silver Lake umkränzte. Einige Hausfrauen streuten ihren Hühnern Futter hin. Aber im Großen und Ganzen konnte Evie ihren Spaziergang allein für sich genießen.
Die heutige To-do-Liste wollte sich in ihre Gedanken drängen - all die Dinge, die Evie für die Pension erledigen musste: die Reservierungen überprüfen, Erinnerungen verschicken, vielleicht ein paar Anzeigen in Zeitschriften auf dem Festland schalten, um mehr Gäste zu bekommen, so wie Stanley Wahab es für sein neues Hotel tat. Dann musste sie noch weitere Beutel mit Yaupon-Tee füllen, damit die beiden Gäste, die heute abreisten, sie mit nach Hause nehmen konnten. Anschließend noch die Mansarde für die Jägergruppe nächste Woche lüften - wenn sie denn kam. Hoffentlich würde es danach noch reichen, um etwas...
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