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Als ich vierzehn oder fünfzehn war, Mitte der Fünfzigerjahre, sagte ich meiner Mutter, dass ich homosexuell bin: Das war das Wort, das man damals gebrauchte, homosexuell, in all seiner teuflischen Majestät, von Ätherdämpfen umweht, eine Mischung aus Krankheit und dem Bösen schlechthin.
Gelernt hatte ich das Wort natürlich von ihr. Sie war Psychologin. Als ich noch klein war, hatte sie ein Teilzeitstudium in Kinderpsychologie absolviert und mit der Masterprüfung abgeschlossen. Und da ich nicht nur ihr Sohn war, sondern auch ihr bester Freund, vertraute sie mir alles an, was sie im Studium über mich, ihr persönliches Versuchskaninchen, erfuhr. So wurde ich zum Beispiel in einem «experimentellen» Kindergarten angemeldet, den Dr. Arlett leitete, die Mentorin meiner Mutter an der Abteilung für Kinderpsychologie der Universität von Cincinnati. Doch schon nach einem halben Jahr war Dr. Arlett der Auffassung, ich sei «zu altruistisch» für ihre Einrichtung. Ich wurde entlassen. Allerdings vermute ich, in Wirklichkeit irritierte sie meine merkwürdige Art, die Stimmungen der Praktikantinnen aufzugreifen, denen ich ein verlogenes, süßliches Interesse entgegenbrachte, wie ich es im Umgang mit meiner Mutter gelernt hatte. Ohne Zweifel war sie überzeugt, ich habe dadurch einen schlechten Einfluss auf die anderen Kinder. Doch meine Mutter, die allen offensichtlichen Indizien zum Trotz meine Laster als Tugenden und meine Niederlagen als Siege auslegte, befand, Dr. Arlett wolle in Wirklichkeit sagen, dass ich geistig viel zu fortgeschritten, mit anderen Worten, viel zu reif sei, um noch länger in den Niederungen meiner Altersgenossen zu versauern.
Zur Belohnung kehrte ich in die Einsamkeit zurück. Wir wohnten in einem kleinen, gemieteten Tudor-Haus am Ende einer Straße. Meine ältere Schwester, die mich nicht leiden konnte, besuchte Miss Daughertys Töchterschule. Manchmal brachte sie Freundinnen mit nach Hause, aber sie durften nicht mit mir spielen. Ich spielte allein - oder redete mit meiner Mutter, wenn sie nicht in der Uni war oder lernte.
Meine Mutter war ausgesprochen spirituell veranlagt, zumindest sprach sie oft von ihrem geistigen Leben und meinte, sie würde beten, auch wenn ich sie nie beten gesehen habe. Sie war in Texas als Baptistin erzogen worden, später jedoch zur Christian Science konvertiert, anfangs, um meinem Vater eine Freude zu machen, doch später aus wirklicher Verwandtschaft mit der Denkweise von Mary Baker Eddy. Wie Mrs. Eddy leugnete meine Mutter die Existenz des Bösen (außer in Gestalt der Geliebten meines Vaters) und dachte unglaublich positive Gedanken. Sie hing der pantheistischen, nahezu hinduistischen Überzeugung an, jedes Lebewesen sei heilig, und Gott sei eine Welle, die aus dem universellen Geist aufstieg und wieder dorthin zurückkehrte. Wenn meine Mutter verzweifelt war, was täglich vorkam, fand sie Trost in Bourbon und Mrs. Eddys Wissenschaft und Gesundheit und ihrem Schlüssel zur Heiligen Schrift. Mrs. Eddys feindliche Einstellung zur Medizin lehnte sie jedoch ab, als ein Ideal, das beim gegenwärtigen Stand unserer Unvollkommenheit ganz einfach unerreichbar war.
In mir entdeckte sie Anzeichen einer großen Seele und einer sehr weit entwickelten Spiritualität.
Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich sieben war. Es war gut, dass Mom einen Abschluss in Psychologie gemacht hatte, denn sie musste sich nun, im Alter von fünfundvierzig Jahren, eine Arbeit suchen, um die dürftigen Alimente aufzustocken. Sie arbeitete viele Stunden für wenig Geld als Psychologin im Öffentlichen Dienst von Illinois, dann in Texas, und schließlich wieder in Illinois; ihre Aufgabe war es, bei hunderten von Grundschülern Intelligenztests durchzuführen, und außerdem projektive Tests (Rorschach, Haus-Baum-Person) an Kindern, die im Verdacht standen, «verhaltensgestört» zu sein.
Meinem Status als Versuchskaninchen entsprechend, wurde auch ich häufig diesen Tests unterzogen. Obwohl sie sonst zu Hause oft überreizt war, Wutanfälle und Weinkrämpfe bekam, wurde sie sofort ruhig und professionell, wenn sie einen Test durchführte. Ihre Hände führten besänftigende Gesten aus, als ob der Tisch zwischen uns ein Ozean des Geistes wäre, der beruhigt und dem Universum zurückgegeben werden müsste. Sie sprach mit gedämpfter Stimme und dem liebenswürdigen Tonfall einer Märchenerzählerin - «Also, Eddie, erzähl mir bitte, welche Bilder du in diesem Tintenfleck erkennen kannst.» Auch mich veränderte die Testsituation, sie verängstigte mich, denn ein psychologischer Test konnte wie eine Röntgenaufnahme oder Blutabnahme eine geheime Krankheit offenbaren: Feindseligkeit, Perversion, Wahnsinn oder, und das war das Schlimmste, niedrige Intelligenz.
Ich war wohl ungefähr acht Jahre alt, als meine Mutter das erste Mal den Rorschach-Test an mir durchführte, denn es war im letzten Sommer, den wir in unserem großen, weitläufigen Ferienhaus am Mullet Lake in Michigan verbrachten. In die Armut zurückgeworfen, verkaufte sie das Haus für den enttäuschenden Betrag von vierzehntausend Dollar. Ich glaube, sie wollte mich, oder sich selbst, damit beeindrucken, dass sie mitten im emotionalen Durcheinander unseres alltäglichen Lebens die wissenschaftliche Genauigkeit aufbrachte, die die professionelle Durchführung des Tests verlangte.
Sie notierte alles, was ich in den verschiedenen Tafeln erkannte, und wo genau in einem Tintenfleck ich ein Grabmal oder einen Diamanten entdeckte. Danach zog sie sich für einige Stunden zurück, um ihr dickes, dunkelblau eingebundenes Deutungshandbuch mit dem tiefroten Etikett zu Rate zu ziehen. Ich hatte Angst vor den Resultaten, die ebenso absolut und unumstößlich in ihrer Objektivität wie geheimnisvoll in ihrer Codierung waren.
Meine Mutter war geradezu begeistert, als sie herausfand, dass ich eine «Borderline-Störung» mit «starken schizophrenen Tendenzen» habe. Meine Unfähigkeit, in den Tintenklecksen irgendwelche menschlichen Formen zu sehen, war anscheinend der aussagekräftigste Hinweis auf meine Geisteskrankheit. Ich sah immer nur Juwelen und Grabsteine.
Unklar blieb dabei jedoch, ob ich unausweichlich über die Grenze zur ausgewachsenen Psychose hinübergleiten würde, oder ob dieser Prozess umkehrbar war. Offenbarte der Rorschach-Test mein Wesen oder meine Zukunft? Würde es bergauf oder bergab mit mir gehen?
Wie geisteskrank ich auch immer gewesen sein mag, ich bekam in der vierten Klasse weiterhin in allen Fächern gute Noten, mit Ausnahme der Mathematik. Wir waren zu oft umgezogen, als dass ich genügend zusammenhängende Mathestunden hätte besuchen können. Das einzige erkennbare Zeichen meiner Verrücktheit mag vielleicht meine Begeisterung dafür gewesen sein, im Theater den König zu spielen. In der dritten Klasse in Dallas spielte ich die Hauptrolle im Theaterstück Der Paradiesvogel, das ich selbst geschrieben, dessen Plot jedoch bei Maeterlinck geklaut hatte - mein erstes literarisches Werk war ein Plagiat. Meine Mutter besorgte mir aus einem Kostümverleih eine goldene, juwelengeschmückte Krone, ein blaues Samtwams und weiße Kniehosen.
Als ich elf Jahre alt war, lebten wir ein Jahr lang im Faust Hotel in Rockford, Illinois, einer finsteren Industriestadt, in der meine Mutter als Psychologin im Öffentlichen Dienst arbeitete. Aus irgendeinem Grund kam sie zu dem Schluss, dass die staatliche Schule vor Ort für meine Schwester gut genug war, aber nicht für mich, eine Entscheidung, die ihr meine Schwester bitter übelnahm. Ich kam auf die Keith County Schule, die kleine Klassen hatte - nicht mehr als vierzehn Schüler. Einer meiner Freunde war Arnold Rheingold, vielleicht der erste Jude, den ich kennengelernt habe. Sein Vater war Psychiater. Wenn ich bei Arnold zum Abendessen war, beeindruckte mich der Respekt, den die Eltern ihrem Sohn entgegenbrachten, nur deshalb, weil er ein Junge war. Und ich war eingeschüchtert von Arnolds Vater, dem ersten Mann, den ich traf, der Bücher las und nach neuen Ideen suchte, statt immer nur die altbekannten zu predigen. Dass er Migräne bekam und sich dann nach dem Essen in sein verdunkeltes Arbeitszimmer zurückzog, schien mir der glamouröse Preis zu sein, den er für ein geistiges Leben zu zahlen hatte.
Wenig später schrieb ich ein weiteres Theaterstück, Hektors Tod, in dem ich selbst als der tragische Held auftrat. Mein bester Freund, eine hübsche Sportskanone, spielte die fast stumme Rolle des sadistischen Achilles, der mich tötete und danach, in radikaler Abwendung von der klassischen Tradition, mit lautem, wortlosem Jammern meinen Tod betrauerte, bevor er, wenig plausibel, meine Leiche entweihte, indem er sie hinter seinem Streitwagen um die Stadtmauern von Troja schleifte, was hinter der Bühne geschah und als Fensterschau von einem schwerfälligen, talentlosen Chor vorgetragen wurde, einem übergewichtigen Mädchen, mit dem ich befreundet war. Mein blonder Achill mit den leeren Augen, der mich im wirklichen Leben stets nur verständnislos und etwas dümmlich angaffte, hatte ein recht ordentliches Spektrum großer Gefühle zu bewältigen. Ich brachte ihn dazu, errötend seinen schönen blonden Kopf zu senken.
Wenn ich in Texas mit meinen zwei Cousinen Theater spielte, oder später mit Freunden in Ohio oder Illinois, hatte ich immer nur eine Konstellation im Kopf: König und Sklave. Wie schon Jean Genets überkandidelten Dienerinnen in Die Zofen war es mir ziemlich egal, welche Rolle ich spielte, solange dabei das Drama von Herrschaft und Unterwerfung aufgeführt wurde. Wenn meine Cousinen Sue und Jean anfingen zu kichern und nicht mehr bei der Sache waren, machte ich sie kurzerhand zu Königinnen und ließ sie ihren feierlichen Einzug halten. Ich verbeugte mich...
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