Schweitzer Fachinformationen
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- Die Witwe -
Kate Keddie stand in der Flughafentoilette und probte ihr Lächeln im Spiegel. Sie konnte ihren Mund nicht ausstehen, weil er mehrere Zähne zu breit für ihren Kopf war und sie wie eine Geisteskranke aussah, wenn sie lachte. Sie versuchte es mit einem vorsichtigen Heben der Mundwinkel. Wohldosierte Zurückhaltung, das war das Ziel. Stattdessen bekam sie Shelley Duvall auf Crystal Meth.
»Was machst du mit deinem Gesicht?«, fragte Kates zehnjährige Tochter Mia, die aus einer der Kabinen neben sie getreten war, um sich die Hände zu waschen. Mia hatte sich die Schnur eines herzförmigen »Willkommen zu Hause«-Luftballons ums Handgelenk gebunden, der nun wie eine Boje über ihrem Kopf schwebte.
»Gar nichts«, antwortete Kate.
»Wie lange dauert es noch, bis Daddy wieder da ist?«
»Zehn Minuten bis zur Landung, dann rollt die Maschine in Parkposition, danach muss er sein Gepäck holen, durch den Zoll . alles in allem müssen wir mit etwa sechzehn Stunden rechnen.«
»Du machst mich fertig, Mum.« Mia stampfte frustriert mit den Füßen auf. Sie war noch nie so lange von ihrem Vater getrennt gewesen und deshalb so hibbelig wie sonst nur am Weihnachtsmorgen.
John hatte die vergangenen zwei Wochen bei einem Kongress für Palliativmedizin in London verbracht; unterdessen hatte Kate mit dickem rotem Filzstift die Tage abgehakt und es kaum erwarten können, dass er endlich nach Hause kam. Sie hoffte, dass das Klischee, eine Trennung schüre die Sehnsucht, auch auf John zutraf. Gleichzeitig fürchtete die Pessimistin in ihr, es könnte gerade umgekehrt funktionieren. Irgendwo hatte sie gelesen, dass zwei Wochen genügten, um mit einer Gewohnheit zu brechen, und eine Ehe war schließlich der Inbegriff der Gewohnheit.
Kate nahm Mia bei der Hand und machte sich auf den Weg zum Terminal. Im Ankunftsbereich des Melbourne International Airport wimmelte es von Menschen. Familien warteten mit handgeschriebenen Transparenten, ohne die gefrosteten Glastüren aus den Augen zu lassen, hinter ihnen Chauffeure in schwarzen Anzügen mit kleinen Täfelchen, auf denen die Namen ihrer Fahrgäste gekritzelt standen. Von den Wartenden ging eine kollektive Energie aus, die sie eher wie ein homogener Organismus statt eine Ansammlung aus mehreren Hundert Individuen wirken ließ. Alle bewegten sich auf eine vorsichtige, nervös aufeinander abgestimmte Weise, wie das Kettenband einer Planierraupe.
Jeden Moment musste John mit seinem kleinen blauen American-Tourister-Trolley im Schlepptau herauskommen, mit blutunterlaufenen Augen und müdem Gesicht von dem langen Flug, aber dann würde er sie in der Menge ausmachen und verblüfft strahlen, weil er nicht mit ihnen gerechnet hatte. Er hatte darauf bestanden, ein Taxi zu nehmen, und Kate hatte eingewilligt, obwohl sie die ganze Zeit gewusst hatte, dass sie und Mia ihn am Flughafen überraschen würden.
Sie konnte es kaum erwarten, ihren Ehemann wiederzusehen; noch größer war allerdings ihr Bedürfnis, ihm die Zügel wieder in die Hand zu geben. Obwohl sie überzeugt war, eine gute Mutter zu sein, machte sie all das nervös. Ihr war es nie leichtgefallen, mit dieser Mühelosigkeit in die Mutterrolle zu schlüpfen, wie andere Frauen es zu können schienen - ihre Freundinnen aus der Müttergruppe oder die patenten, geschäftigen Mamis in ihren SUVs vor dem Schultor. Mit Johns Unterstützung im Rücken fühlte sie sich hingegen gleich viel wohler.
»Ob Dad an meine Pfund denkt, was glaubst du?«, fragte Mia und sah zu der Kurstafel im Fenster einer Wechselstube hinüber. Neuerdings sammelte sie mit Begeisterung ausländische Währungen.
»Klar. Du hast ihn doch bestimmt zweitausend Mal daran erinnert«, antwortete Kate. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich traut, ohne das Geld nach Hause zu kommen.«
»Wie lange dauert's noch?«, fragte Mia.
»Fünf Minuten. Da drüben ist die Anzeigetafel. Siehst du es?«
Der Qantas-Flug aus Heathrow über Singapur und Sydney war pünktlich und ohne Probleme gelandet. Die Stille, die gerade noch unter den Wartenden geherrscht hatte, wich Rufen, Tränen und Gelächter, als die ersten Passagiere in die Ankunftshalle traten. Einige sanken in die Arme ihrer Angehörigen, andere schoben sich durch die Menge zu ihren Fahrern oder zum Taxistand dahinter.
Eine hübsche Frau mit einem weizenblonden Pferdeschwanz warf sich in die Arme ihres wartenden Mannes, schien für einen kurzen Moment alles um sich herum zu vergessen und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Ein älteres asiatisches Paar winkte hektisch, als ein junger Mann mit einem Kinderwagen auf sie zusteuerte, in dem zwei Zwillingsjungen friedlich schlummerten. Kate sah den Leuten zu, wartete darauf, als Nächste dran zu sein.
Es wunderte sie ein wenig, dass John nicht gleich unter den ersten Passagieren war. Er flog grundsätzlich Businessclass, was mit Privilegien wie Expressschlangen und schnellerer Abfertigung einherging.
Mia stellte sich auf die Zehenspitzen. »Siehst du ihn?«, fragte sie.
»Nein, noch nicht, Äffchen«, antwortete Kate.
Die hohen Glastüren schlossen sich. Gingen ein weiteres Mal auf. Diesmal trat eine kleinere Gruppe heraus.
»Ich sehe ihn, ich sehe ihn!«, rief Mia, riss ihren Ballon nach unten und drehte ihn so, dass man den Willkommensgruß lesen konnte, doch dann ließ sie die Schultern sacken. »Nein. Ich habe mich geirrt. Das war er nicht.«
Der zweite Schwung Fluggäste verteilte sich. Immer noch weit und breit nichts von John zu sehen. Die Glastüren öffneten und schlossen sich ein weiteres Mal. Diesmal humpelte ein älterer Herr mit dem Gehstock in der Linken und einem verstaubten alten Samsonite in der Rechten heraus. Der Korridor hinter ihm war leer.
Kate sah noch einmal zur Anzeigetafel und vergewisserte sich, dass Zeitpunkt und Ort stimmten, dann noch einmal. In ihre gespannte Erregung mischte sich ein Anflug von Besorgnis.
»Mum?«, fragte Mia.
»Pass schön weiter auf, Äffchen. Wahrscheinlich hat er seinen Koffer noch nicht bekommen oder wurde von einem übereifrigen Zollbeamten aufgehalten. Nur Geduld.«
Sie warteten. Schließlich zog Kate ihr Handy heraus und wählte Johns Nummer, darauf bedacht, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen. Der Anruf ging geradewegs auf die Voicemail. Sie versuchte es ein zweites Mal, mit demselben Ergebnis. Er hatte wohl vergessen, nach der Landung den Flugmodus zu deaktivieren. Oder aber er hatte das Ladekabel in der Steckdose im Hotel stecken lassen, und jetzt war der Akku leer.
Mit jeder Sekunde wurde sie nervöser, begann an den Nägeln zu kauen.
Wieder glitten die Glastüren auf. Kate holte Luft. Drei weitere Passagiere erschienen: ein älteres Paar, das mitten in einem Streit zu sein schien, und ein junger Rucksacktourist mit Dreadlocks. Keiner erwartete sie. Die Türen gingen zu, gingen ein weiteres Mal auf. Diesmal kamen die Crewmitglieder heraus, die sich angeregt unterhielten, sichtlich erfreut über das Ende ihres Arbeitstages.
Wo steckst du, John?
Er hätte doch Bescheid gegeben, wenn er seinen Flug verpasst hätte, oder nicht? Selbst wenn er keine Ahnung gehabt hatte, dass sie ihn abholen kämen, hatte er gewusst, dass sie auf ihn wartete. Sie versuchte es noch einmal auf dem Handy. Wieder nichts. Verzweifelt sah sie sich in der Ankunftshalle um: Bis auf eine Handvoll Leute an den Ständen der Mietwagenfirmen und einen Mann in einem grauen Overall, der die Fußmatte am Eingang absaugte, war niemand mehr zu sehen.
»Wo ist er, Mum?«, fragte Mia.
»Ich weiß es auch nicht, Äffchen. Aber bestimmt kommt er bald. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«
Den Blick auf die Glastüren geheftet streckte Kate die Hand nach Mias aus, fand sie und hielt sie fest, ganz fest. Sie warteten. Fünf Minuten vergingen. Dann weitere fünfzehn.
Zuletzt hatten sie via Skype miteinander gesprochen, am Morgen vor Johns Abflug. Kate und Mia hatten sich zusammen in einen Sessel im Wohnzimmer gequetscht und über die Tastatur des MacBooks gebeugt, während John siebzehntausend Kilometer weit entfernt auf dem Bett seiner Londoner Hotelsuite saß, im Hintergrund die typisch dezent grüne Tapete, eine Minibar zu seiner Linken, die Zimmerservice-Speisekarte zu seiner Rechten. Reisepass, Brieftasche und Handy lagen säuberlich auf seinem Koffer neben ihm.
»Und? Bereit für den langen Flug?«, fragte Kate.
»Ich habe alle drei Sachen, die jeder Flugreisende bei sich haben sollte«, antwortete er. »Ohrstöpsel, Valium und Haruki Murakami.«
»Ist Valium eine Droge?«, wollte Mia wissen.
»Ja, Schatz, aber eine von den guten«, antwortete er lachend, doch die Verbindung war schlecht, so dass es leicht zeitverzögert ankam. Der Bildschirm fror abwechselnd ein und löste sich wieder, was das Lachen wie aus einem Fiebertraum klingen ließ.
John war drei Jahre älter als Kate, wirkte mit seinem jungenhaft dichten Haarschopf, seinen symmetrischen Gesichtszügen und seinem athletischen Körperbau jedoch, als wäre er fünf Jahre jünger. Sein Gesicht schien ein wenig gebräunter als sonst zu sein, andererseits war in London gerade Sommer.
Mia hockte sich auf die Knie und rutschte so weit vor, dass ihr Gesicht beinahe den Bildschirm berührte. »Du musst achtgeben, dass du im Flugzeug hinter dem Flügel sitzt«, mahnte sie. »Dort ist es am sichersten, falls es abstürzt.«
»Die Businessclass ist aber ganz vorn«, wandte er ein.
»Oje. Bei...
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