Schweitzer Fachinformationen
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Die Mitte hält es nicht
Alles ist exponentiell
Es dauerte bis Herbst 2018, ehe es mir wie Schuppen von den Augen fiel, dabei hätte ich es schon viel früher kommen sehen müssen.
Ich war nach Johannesburg geflogen, um bei einer Konferenz zum Thema »Afrika zukunftsfähig machen« einen Vortrag zu halten. Als ich im Publikum saß und Rednern lauschte, die die Notlage dieses Kontinents schilderten, seine Herausforderungen und Chancen, war ich abwechselnd angetan und verwirrt - angetan von ideenreichen Programmen mit dem Ziel, Solarenergie und Windkraft in dicht bevölkerte Townships zu bringen, oder von angedachten Methoden, mithilfe der Nanotechnik aus Wolken und Meerwasser Trinkwasser zu gewinnen. Aber auch verwirrt. Verwirrt über eine Frau aus Kalifornien, die aufgeregt ein Projekt vorstellte, das ungebildeten Dorfbewohnern in Zentralafrika dabei helfen sollte, Roboter zu bauen, und über einen pferdeschwanztragenden Wissenschaftler aus Cambridge, der die Möglichkeit in Aussicht stellte, den Alterungsprozess umzukehren, sodass wir ewig leben könnten.
Wozu bitte brauchen Subsistenzbauern Roboter? Bringt es die Welt wirklich weiter, wenn das Leben einiger weniger Glücklicher auf unbegrenzte Zeit verlängert wird, während die zunehmende Bevölkerung mit Hunger kämpft? Mit Sicherheit haben diese Projekte in Abraham Maslows Bedürfnishierarchie ein paar Stufen übersprungen - direkt von den Grundbedürfnissen zur Transzendenz, ohne in der fleischigen Mitte der Pyramide, wo die meisten Menschen gelebt haben und gestorben sind, eine größere Pause einzulegen.
Ich studierte das Programm, um festzustellen, was mich noch erwartete. Exponentielle Bildung - virtuelles Fernlernen, das alle Kinder dieser Welt mit einem WLAN-Anschluss erreichen kann. Exponentielle Biologie - genverändernde CRISPR-Technik zum Spleißen von DNA und zur Beschleunigung der Evolution. Exponentielle Mobilität - Apps zum Mitfahren in autonomen Autos und Drohnentaxis zur Umgehung von Staus auf dem Weg zur Arbeit. Exponentielle Daten - Quantencomputer und überlichtschnelle selbstlernende Algorithmen, die wissen, was wir wollen, noch bevor wir es selbst wissen. Exponentielle Wirtschaft - virtuelle Währungen, um Kleinstunternehmern Startkapital zu beschaffen und Steuern zu vermeiden.
Doch in dieser quirligen, aufregenden Zukunft, in der alles drauf und dran war, in die Hockeyschlägerkurve exponentiellen Wachstums einzuschwenken, fehlte etwas Entscheidendes, und das war exponentieller Sinn. Wollte man diesen Experten Glauben schenken, dann war alles, was wir über menschliche Erfahrung wussten - Hunderttausende Jahre Primatenevolution und menschliche Kultur -, im Begriff, von der bloßen g-Kraft beschleunigter Veränderung in den Schatten gestellt zu werden. Wie es der Harvard-Biologe E. O. Wilson einmal ausdrückte: »Wir besitzen steinzeitliche Emotionen, mittelalterliche Institutionen und eine gottgleiche Technologie.« Aber niemand bot Rat in der Frage, was für einen Sinn wir in alldem sehen sollen.
Wenn man an Big-Ideas-Konferenzen wie dieser teilnimmt, bei denen alles auf tiefgreifende, visionäre Veränderungen fokussiert ist und Entwicklungen, von denen man bislang kaum gehört hat, selbstbewusst als Lösungen für sämtliche Probleme von Armut bis Krebs gehandelt werden, ist es beinahe unmöglich, sich von diesem Mix aus Kühnheit und Optimismus nicht mitreißen zu lassen. Steven Pinker hatte recht!, denkt man bei sich. Das großartige Experiment der Aufklärung der vergangenen dreihundert Jahre läuft allen Kassandren und Schwarzmalern zum Trotz wie geschmiert. In den Bereichen Bildung und Ernährung geht es aufwärts. Krieg und Krankheiten sind auf dem Rückzug. Alles deutet auf eine wenig beachtete, aber unbestreitbare Aufwärtsentwicklung hin, auf Fortschritte zum Wohle der Menschheit. Ein vollautomatischer Luxuskommunismus ist verlockend, auch wenn wir nicht genau wissen, wie wir von hier nach da gelangen.
Die Dinge, so ließe sich daraus schließen, verändern sich ohne Zweifel exponentiell zum Besseren.
Aber dann kommst du nach Hause, scrollst durch deinen News-Feed und wirst mit einer krisengeschüttelten Welt konfrontiert: Brände in der Arktis, in Amazonien und Malibu. Pandemien rund um den Globus. Flüchtlingsströme in Syrien, Venezuela und wo immer es die nächsten Pechvögel trifft. Ebola. Covid-19. Populismus. Terrorismus. Sexismus. Rassismus. All die Ismen. Die ganze Zeit.
Dinge, die zu ignorieren herzlos wäre, verschlimmern sich ohne Zweifel exponentiell.
Wie E. B. White, der Autor des Kinderbuchklassikers von Charlotte's Web, einmal schrieb: »Ich stehe morgens auf und bin hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, die Welt zu retten, und dem Wunsch, sie zu genießen. Das macht es schwierig, den Tag zu planen.« Der Versuch, Pläne für eine Welt zu schmieden, die einem vorkommt wie ein Wust von widersprüchlichen und exponentiellen Negativkurven, macht einen selbst an den besten Tagen irre. Er erinnert an eine von diesen Differentialrechnungen mit vielen Variablen, an denen die meisten von uns auf der Schule gescheitert sind. Heute sind wir nicht besser dran.
Speziell zwei Kurven überschneiden sich im Moment - wir nennen sie den »Lebenserweckungsbogen« und den »Lebenserhaltungsbogen«.
Der Lebenserweckungsbogen beginnt links unten und schwingt sich fröhlich nach rechts oben. Er steht für Selbstverwirklichung, kulturelle Entfaltung und all die Möglichkeiten, die bei der Exponential-Konferenz so viel Raum eingenommen haben. Wäre das Leben ein Picknick am Strand, würde diese Kurve auch einschließen, was man einpackt, wen man einlädt und wo man seine Decke ausbreitet, um die bestmögliche Aussicht zu haben.
Der Lebenserhaltungsbogen beginnt links oben und fällt im weiteren Verlauf steil ab. Wäre das Leben ein Picknick am Strand, würde zu dieser Kurve auch gehören, ob man bemerkt, wie das Wasser aufs Meer hinausgezogen wird, ob man beobachtet, wie alle Tiere auf höher gelegenes Gelände flüchten, und ob man das losplärrende Handy checkt, um die Tsunami-Warnung zu lesen.
Leben zu erwecken ist zeitlos, optimistisch und darauf gerichtet, die Wahlmöglichkeiten zu maximieren - die Welt zu genießen. Leben zu erhalten ist zeitgebunden, pessimistisch und darauf gerichtet, die Wahlmöglichkeiten zu reduzieren - die Welt zu retten. Im Moment scheinen wir an ihrem Schnittpunkt festzustecken. Und das kann es schwierig machen, unsere Tage zu planen.
Unser Gebäude-Komplex
Es geht ja nicht nur darum, dass die Welt sich exponentiell verändert und unsere Sinnstiftungsfähigkeit damit nicht Schritt hält. Es geht darum, dass wir einen totalen Sinnverlust beobachten. Jeden Tag erleben wir diesen Verlust in Form von Verunsicherung, Angst und Verwirrung. Selbst unsere vertrautesten und bewährtesten Orientierungspunkte können uns keine Auskunft darüber geben, welchen Weg wir einschlagen sollen.
Im April 2019 geriet die berühmte Kathedrale Notre-Dame de Paris in Brand. Frankreich rief den nationalen Notstand aus. Präsident Emmanuel Macron twitterte wie wild und startete eine Spendenaktion. Tage nachdem der Brand gelöscht war, gingen die nachdenklichen Kommentare los. Einige meinten, der Mut der Feuerwehrleute und die Spendenzusagen von Luxusmarken wie LVHM und Yves Saint Laurent seien Belege für den nationalen Geist Frankreichs. Andere stellten andere Überlegungen an. Sie fragten sich laut, ob der Missbrauchsskandal, der die Kirche erschüttert hatte, nun auch die Institution eingeholt habe und ob der Beinahe-Einsturz von Notre-Dame nicht sinnbildlich für den Zusammenbruch der Kirche selbst stehe.
Die Symbolkraft des Notre-Dame-Brands war dem Zufall geschuldet, doch für den Einsturz der Twin Towers im New Yorker Finanzviertel 2001 galt das nicht. Al-Qaida hatte diese Gebäude gezielt ausgewählt, weil sie die Wirtschaftsmacht des Westen repräsentierten. Die Verwundbarkeit dieser berühmten Wolkenkratzer sandte Schockwellen um die Welt. Mit den Türmen kollabierte auch Amerikas Sicherheitsgefühl.
Eine ungefähre Vorstellung davon, wie unsere Überzeugungen in unseren Gebäuden verankert sind, ist hilfreich, wenn wir über unsere aktuelle Sinnkrise nachdenken. Wir alle leiden unter irgendeiner Art »Gebäude-Komplex«: Die zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort bedeutendsten Institutionen verkörpern auch unsere Werte. Sie verraten uns auf einen Blick, wer das Sagen hat und was uns am meisten bedeutet.
In der Antike und im Mittelalter bauten Pharaonen Pyramiden und Könige Schlösser, die ihr gottgegebenes Recht zum Herrschen verkörperten. Im mediävalen Europa spielten Klöster und Kathedralen eine große Rolle, denn in ihnen spiegelte sich die Macht der Kirche wider. Mit dem Auftauchen des Nationalstaats im 18. Jahrhundert rückten Parlaments- und Gerichtsgebäude ins Zentrum von Stadtplanung und Stadtbild. Im 20. Jahrhundert und der Ära der Aktiengesellschaften wurde alles von Wolkenkratzern überragt, mit denen sich Industriemagnaten und Banken Denkmäler setzten. Heute stehen von Stararchitekten entworfene Technologie-Campusse im Rampenlicht. Die Macht in der physischen Welt wird nun von denen genutzt, die unsere virtuellen Welten erfunden haben.
Doch während die Twin Towers und Notre-Dame die Krise des Gebäude-Komplexes versinnbildlichen - eine Zeit, in der die Risse in unserer Kultur als Risse in unseren Grundfesten zutage getreten sind -, sehen wir in der Realität fast überall, wohin wir blicken, den...
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