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Der Tag war kühl, ein lebhafter Frühlingswind brachte viel Staub mit sich. Die alten Damen beider Familien hatten ihre verschossenen Zobel und vergilbten Hermeline herausgeholt, und fast erstickte der Kampfergeruch aus den vorderen Kirchenbänken den schwachen Frühlingsduft der Lilien, die wie ein Wall den Altar umgaben.
Auf ein Zeichen des Küsters war Newland Archer aus der Sakristei getreten und stand nun mit dem Trauzeugen an den Stufen zum Chorraum der Grace Church.
Das Zeichen besagte, dass der Brougham mit der Braut und ihrem Vater in Sichtweite war. Dennoch würden Feinabstimmung und Beratung in der Vorhalle, wo die Brautjungfern schon wie eine Wolke aus Kirschblüten herumschwebten, sicher noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Während dieser unvermeidlichen Wartephase musste sich der Bräutigam zum Beweis seiner Ungeduld ganz allein von der versammelten Gemeinde anstarren lassen, und Archer stand diesen Teil der Zeremonie ebenso schicksalsergeben durch wie all die anderen Details, die aus einer Hochzeit im New York des 19. Jahrhunderts ein Ritual wie aus frühgeschichtlichen Zeiten machten. Alles war gleich leicht - oder gleich schwer, wie man's nahm - auf dem Weg, den er nun eingeschlagen hatte, und er hatte die nervösen Aufforderungen des Trauzeugen genauso lammfromm befolgt wie andere Bräutigame die seinen, als er sie einst durch das nämliche Labyrinth geleitet hatte.
Er war sich ziemlich sicher, alle bisherigen Verpflichtungen erfüllt zu haben. Die acht Buketts aus weißem Flieder und Maiglöckchen für die Brautjungfern waren rechtzeitig zugestellt worden, ebenso die goldenen Manschettenknöpfe mit den Saphiren für die acht Brautführer und die Krawattennadel mit dem Katzenauge für den Trauzeugen. Archer war die halbe Nacht aufgeblieben und hatte versucht, unterschiedliche Dankesworte für den letzten Schub an Geschenken von Freunden und ehemaligen Herzensdamen zu formulieren. Das Entgelt für den Bischof und den Pfarrer steckten wohlverwahrt in der Rocktasche des Trauzeugen. Sein Gepäck war bereits bei Mrs. Manson Mingott, wo das Hochzeitsfrühstück stattfinden würde, ebenso die Reisekleidung, damit er sich umziehen konnte, und in dem Zug, der das junge Paar zu seinem unbekannten Ziel bringen sollte, war ein Privatabteil reserviert - denn es gehörte zu den unantastbaren Tabus des prähistorischen Rituals, den Ort der Hochzeitsnacht geheim zu halten.
«Hast du auch den Ring?», flüsterte der junge van der Luyden Newland, der als Trauzeuge noch unerfahren war und eingeschüchtert von der Schwere seiner Verantwortung.
Archer machte die Handbewegung, die er an so vielen Bräutigamen beobachtet hatte: Er fuhr tastend mit der unbehandschuhten Rechten in die Tasche seiner dunkelgrauen Weste und vergewisserte sich, dass der kleine goldene Reif mit der Gravur: «Newland für May, . April 187 .» an Ort und Stelle war. Dann nahm er wieder seine vorige Haltung ein: Er stand da, den Zylinder und die perlgrauen, schwarz abgesteppten Handschuhe in der linken Hand, und schaute zum Kirchenportal.
Über ihm toste pathetisch Händels Marsch durch das Falsche Gewölbe und trug auf seinen Wogen das ausgebleichte Treibgut der vielen Hochzeiten, bei denen er in fröhlicher Gleichgültigkeit auf denselben Chorstufen gestanden und zugesehen hatte, wie andere Bräute das Kirchenschiff entlangschwebten, auf andere Bräutigame zu.
«Wie bei den Opernpremieren!», dachte er, als er die ewig gleichen Gesichter in den ewig gleichen Logen (nein: Kirchenbänken) vor sich sah, und er überlegte, ob wohl, wenn die Posaune des Jüngsten Gerichts erscholl, auch Mrs. Selfridge Merry wieder dabei wäre, genau diese hoch aufragende Straußenfeder auf dem Kopfputz, und Mrs. Beaufort mit genau diesen Brillantohrringen und genau diesem Lächeln, und ob wohl für sie in einer anderen Welt schon angemessene Proszeniumslogen reserviert waren.
Da ihm immer noch Zeit blieb, inspizierte er die vertrauten Gesichter in den vordersten Bänken: die der Frauen waren spitz vor Neugier und Aufregung, die der Männer verdrossen, weil sie schon vor dem Lunch den Frack anziehen und beim Hochzeitsfrühstück ums Essen kämpfen mussten.
Der Bräutigam hörte förmlich, wie Reggie Chivers sagte: «Zu dumm, dass das Frühstück bei der alten Catherine stattfindet. Immerhin soll Lovell Mingott darauf bestanden haben, dass sein Koch die Zubereitung übernimmt. Die Qualität dürfte also stimmen - falls man überhaupt etwas abbekommt.» Und er konnte sich vorstellen, wie Sillerton Jackson sachkundig antwortete: «Wissen Sie das noch nicht, mein Lieber? Es wird an kleinen Tischen serviert, nach der neuesten englischen Mode.»
Archers Blick verweilte kurz auf der Kirchenbank zur Linken, wo seine Mutter, die am Arm Mr. Henry van der Luydens in die Kirche gekommen war, leise weinend unter ihrem Schleier aus Chantillyspitze saß, die Hände im Hermelinmuff ihrer Großmutter vergraben.
«Die arme Janey!», dachte er, als er seine Schwester betrachtete. «Selbst wenn sie den Kopf verrenkt, sieht sie nur die Leute in den vorderen Kirchenbänken, und das sind fast alles Newlands oder Dagonets ohne jeden Schick.»
Diesseits des weißen Bandes, das die für die Familie reservierten Bänke abgrenzte, sah er groß und rotgesichtig Beaufort stehen, der herausfordernd die Frauen anstarrte. Neben ihm saß seine Gattin, ganz in silbrigem Chinchilla und Veilchen. Von jenseits des Bandes schien Lawrence Lefferts' aalglatt gekämmtes Haupt die unsichtbare Gottheit namens «Gute Manieren» zu überwachen, die die Zeremonie leitete.
Archer überlegte, wie viele Schnitzer Lefferts' scharfes Auge wohl im Ritual seiner Gottheit entdeckte. Dann wurde ihm plötzlich bewusst, dass auch ihm solche Fragen einst wichtig erschienen waren. Die Dinge, die einmal seine Tage ausgefüllt hatten, kamen ihm nun vor wie eine kindliche Parodie auf das Leben oder wie die Streitereien mittelalterlicher Gelehrter über metaphysische Begriffe, die kein Mensch verstand. Eine heftige Auseinandersetzung darüber, ob die Hochzeitsgeschenke «präsentiert» werden sollten, hatte die letzten Stunden vor der Hochzeit getrübt, und Archer fand es unfassbar, dass erwachsene Menschen sich wegen solcher Kleinigkeiten dermaßen erregen konnten und dass die Frage negativ entschieden wurde, weil Mrs. Welland empört und unter Tränen erklärt hatte: «Da könnte ich ja gleich die Reporter durch mein Haus laufen lassen.» Und doch hatte es eine Zeit gegeben, in der Archer zu derlei Problemen eine unumstößliche und ziemlich energische Meinung vertreten hatte und ihm alles, was Sitten und Gebräuche seiner kleinen Sippe betraf, weltbewegend und bedeutungsschwer vorgekommen war.
«Und währenddessen», dachte er, «haben anderswo reale Menschen gelebt, und es sind ihnen reale Dinge widerfahren .»
«Da kommen sie!», flüsterte der Trauzeuge aufgeregt, aber der Bräutigam wusste es besser.
Die Kirchentür ging einen Spalt auf, was jedoch nur bedeutete, dass der Mietstallbesitzer Mr. Brown (in seiner zeitweiligen Eigenschaft als Küster schwarz gewandet) einen prüfenden Blick auf den Schauplatz warf, bevor er seine Truppen aufstellte. Leise schloss sich die Tür wieder. Erst nach einer weiteren Pause öffneten sich die Flügel majestätisch, und ein Murmeln durchlief die Kirche: «Die Familie!»
Mrs. Welland kam als erste, am Arm ihres ältesten Sohnes. Ihr breites, rosiges Gesicht wirkte angemessen feierlich, und ihr pflaumenfarbenes Satinkleid mit den blassblauen seitlichen Einsätzen sowie die blauen Straußenfedern auf der kleinen Satinhaube fanden allgemeinen Beifall. Doch noch ehe sie sich unter würdevollem Geraschel in der Bank gegenüber von Mrs. Archer niedergelassen hatte, reckten die Zuschauer schon wieder die Hälse, um zu sehen, wer nach ihr kam. Tags zuvor hatten wilde Gerüchte die Runde gemacht, Mrs. Manson Mingott habe sich trotz ihrer körperlichen Behinderung entschlossen, an der Zeremonie teilzunehmen, und der Einfall passte so gut zu ihrem unternehmungslustigen Naturell, dass in den Clubs hohe Wetten abgeschlossen wurden, ob sie überhaupt in der Lage sei, das Kirchenschiff entlangzugehen und sich in eine Bank zu quetschen. Es verlautete, sie habe ihren Hausschreiner in die Kirche geschickt, er solle prüfen, ob sich die Wange der vordersten Kirchenbank abnehmen lasse, außerdem musste er den Abstand zwischen Sitz und Vorderseite messen. Das Ergebnis war entmutigend, und die Familie musste einen weiteren qualvollen Tag mit ansehen, wie sie mit dem Plan liebäugelte, sich in ihrem riesigen Rollstuhl durch das Kirchenschiff schieben zu lassen und dann zu Füßen der Kanzel zu thronen.
Die Vorstellung, ihr monströser Körper werde dermaßen vorgeführt, war für die Verwandten unsagbar peinlich. Am liebsten hätten sie den findigen Menschen in Gold aufgewogen, der plötzlich entdeckt hatte, dass der breite Rollstuhl nicht zwischen die eisernen Pfosten des Vorzelts passte, das vom Kirchenportal bis zum Randstein reichte. Der Gedanke, dieses Vorzelt zu entfernen und damit die Braut dem Pöbel aus Schneidern und Reportern auszusetzen, der sich draußen um einen Platz an den Schlitzen der Leinwand rangelte, überstieg selbst den Mut der alten Catherine, wenngleich sie die Möglichkeit für einen Augenblick erwogen hatte. «Dann machen sie am Ende ein Foto von meinem Kind und setzen es in die Zeitung!», rief Mrs. Welland, als ihr der neueste Plan ihrer Mutter hinterbracht wurde, und vor dieser unvorstellbaren Schamlosigkeit schrak der Clan mit kollektivem Erschauern zurück. Die Ahnherrin musste nachgeben, aber ihr Entgegenkommen...
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