Schweitzer Fachinformationen
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Mittwoch, 7. Juli, 15:50
»Süßigkeiten?«
Melissa Stockdale schob mit spitzen Fingern die Jellybeans von Holzwangers Tastatur.
»Gehirnnahrung.«
»Das sagen alle!«
Eine hellgrüne Bohne kullerte aus der Packung und blieb zwischen F und G liegen.
»Es ist das einzige Feld, auf dem die USA Europa überlegen sind.«
»Bei Süßigkeiten?«
»Bei der Entwicklung künstlicher Aromastoffe, die die Natur in ihrer sensorischen Durchschlagskraft weit übertreffen. Außerdem machen sie glücklich.«
»Dachte ich mir: Es ist eine Droge!«
»Iwo«, sagte Holzwanger und steckte die hellgrüne Bohne in den Mund. Birne. Ganz gut, aber bei Weitem nicht so berauschend wie Wassermelone. Wassermelone in natürlicher Form enthielt Enzyme aus der Gruppe der Superoxid-Dismutase. Superoxid-Dismutase wirkte stressabbauend, weswegen ihn schon der bloße Geschmack in Urlaubsstimmung versetzte.
»Für einen Angestellten eines führenden US-Hightech-Unternehmens redest du ganz schön abfällig über die Weltmacht Nummer eins«, stellte Melissa fest. Ihr Blick fiel auf Holzwangers Monitor. In einem dunklen Bildschirmfenster liefen helle Buchstabenkolonnen von oben nach unten. »Was ist das?«
»Twenty percent«, gab Holzwanger in der Konzernumgangssprache zurück. Melissa war die Tochter eines US-Offiziers und einer deutschen Lehrerin. Sie mochte es, wenn man ihr Gelegenheit bot, die Aussprache ihrer Untergebenen zu korrigieren.
Diesmal verzichtete sie allerdings darauf. Stattdessen starrte sie weiter auf den Bildschirm und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Darf ich dich daran erinnern, Lady Boss«, hob Holzwanger an, »dass in meinem Vertrag steht, ich dürfe - nein müsse! - zwanzig Prozent meiner Arbeitszeit mit sinnlosen Tätigkeiten verbringen, die man mit Müh und Not gerade noch als kreativ bezeichnen kann?«
»Was ist daran kreativ, wirre Zeichenfolgen anzustarren und dabei auf Firmenkosten Jellybeans zu vertilgen?«
»Oh, das ist ein kleines Proggie, das ich selbst geschrieben habe«, antwortete Holzwanger stolz, »und Jellybeans gehören zu unseren Sozialleistungen. Das Proggie spielt mir alle Suchworte zu, die bei uns null Treffer erzielen. Hier: Syndoneria! Oder Thayesula.«
»Herr Doktor Holzwanger«, sagte Melissa förmlich, »Sie sind 47 Jahre alt, promovierter Mediziner, nur durch einen dummen Zufall bei Toggle Inc. gelandet und haben absolut nicht das Recht, ein Wort der Jugendsprache wie >Proggie< zu verwenden.«
Holzwanger seufzte. »Schon vergessen, hier herrscht ja Altersrassismus.«
Das Durchschnittsalter bei Toggle betrug 29 Jahre, seine Worte enthielten also etwas Wahres. Dennoch mussten beide lachen. Dann klickte Holzwanger mit dem Mauszeiger auf ein kleines Kästchen in der Menüleiste. »Ich bin auf etwas Merkwürdiges gestoßen. Das Proggie .« - er kostete das Wort genüsslich aus - ». speichert nämlich auch, was es über den Tag so einfängt. Mit der Zeit ergibt sich ein Verlaufsmuster. Da!«
Ein paar Kurven erschienen auf dem Bildschirm.
»Seit Wochen tauchen über Stunden hinweg immer wieder bestimmte Buchstabenkombinationen auf. Dann verschwinden sie . um nach ein paar Tagen urplötzlich zurückzukehren.«
»Na und?« Melissa Stockdale kaute an einer Haarsträhne. Sie sah aus wie die junge Juliette Binoche, ein bisschen zu mager allerdings, und wer ihr das erste Mal begegnete, hielt sie für eine hübsche, aber desorientierte BWL-Studentin. In Wahrheit unterstand ihr das Deutschlandgeschäft von Toggle Inc., dem größten Suchmaschinenbetreiber der Welt.
Holzwanger knurrte: »Wenn ich mich als User vertippe und deswegen keinen Suchtreffer erziele, korrigiere ich meine Eingabe, statt sie falsch zu wiederholen. Nein, hier sucht jemand mit voller Absicht nach nicht existenten Begriffen.«
Er hielt einen Moment inne.
»Falls es wirklich nur einer ist. Mein Programm zeigt bis zu zwanzig verschiedene IP-Nummern, unter denen der jeweilige Begriff abgefragt wird.«
»IP-Nummern sind nicht dein Ressort«, ermahnte ihn Melissa. »Du bist Personalentwickler, kein Programmierer. Außerdem überwachen die IT-Cracks in Zürich das Suchwortkorpus. Das müssen sie allein schon tun, um ihre Rechtschreibkorrektur auf dem Laufenden zu halten. Wenn es Auffälligkeiten gäbe, wären sie dort längst bekannt.«
»Mhm«, machte Holzwanger. Er schien nicht überzeugt.
»Und außerdem . warum soll jemand nicht sinnlose Buchstabenkombinationen suchen? Bestehen Passwörter aus sinnvollen Worten?«
Sie blickte ihn triumphierend an.
»Passwörter«, murmelte Holzwanger, »ja, das könnte es sein! Jemand sucht Passwörter.«
»Nicht, dass wir sie ihm lieferten«, sagte Melissa, die selbst im Gespräch mit ihrem Personalchef ums Image der Firma besorgt war. »Aber sicherlich gibt es da draußen immer noch ein paar Idioten deines Alters, die glauben, Passwörter schwämmen im Ozean des Internets offen herum.«
»Trotzdem bleibt es ein seltsames Muster«, beharrte Holzwanger, ohne auf den erneuten Affront einzugehen.
»Schluss jetzt!«, sagte die Chefin. »Dein kreatives Fünftel kannst du ein andermal ausleben. Wir haben ernsthafte Arbeit für dich, und ohne dir schmeicheln zu wollen, Doktor Nikolaus Holzwanger: Man hat in Valley Hills deinen Namen genannt. In Valley Hills!«
Dort, in Kalifornien, saß die Firmenzentrale.
Holzwanger zuckte mit keiner Wimper, griff aber nach der Jellybeans-Packung und warf ein buntes Bohnengemisch ein.
»Es beeindruckt dich also auch«, stellte Melissa Stockdale fest, die Holzwangers Verlegenheitsgeste kannte. »Folge mir in die Große Freiheit. Wir haben um 16 Uhr eine Videokonferenz mit Amerika.«
Toggle Inc. war ein junger, aber dennoch schon sehr großer IT-Konzern. An zwei Dutzend Standorten arbeiteten über 23000 Menschen, und dass man in Valley Hills nach einem deutschen Angestellten mit der Mitarbeiternummer 19388 gefragt hatte, erschien nicht nur diesem bemerkenswert. Auch seine Vorgesetzte wunderte sich. Sie trug zwar die Nummer 4533, aber trotz ihrer Stellung als deutsche Niederlassungsleiterin kam sie nur in Ausnahmefällen - rein privater Natur - mit der obersten Ebene in Kontakt.
Melissa Stockdale war fünfzehn Jahre jünger als Nikolaus Holzwanger, doch in der Firmenkultur von Toggle spielte das kaum eine Rolle. Manchmal wünschte sich Holzwanger ein bisschen weniger Lockerheit und etwas mehr Form - Melissa mangelte es deutlich am Gespür für Anstand und Abstand -, doch der deutsche Personalchef sah die Gründe dafür: Sie lebte den american way of career. Als hochintelligente Praktikantin begonnen, nie Urlaub genommen, keine Mission als ehrenrührig empfunden, immer auf dem Sprung zu neuen Außenposten. Wer eine solche Schule absolviert hatte, erwies sich als ebenso begeisterungsfähig in der Sache wie nassforsch im Umgang mit anderen Menschen.
Las Holzwanger dagegen Lebensläufe deutscher Uni-Absolventen, fühlte er sich in die Zeit seines Urgroßvaters zurückversetzt. Zwar betonten alle Bewerber, mindestens zwei Semester in Rom, London, Paris oder Barcelona verbracht zu haben, aber nie schimmerte eine persönliche Neigung durch. Im Gegenteil, es wirkte wie der Vermerk, auch mal am Kaisermanöver teilgenommen zu haben. Was ihn am meisten störte, war die gerade Linie in allen Lebensläufen. Sie ließ jeden Arbeitsplatz höherwertiger erscheinen als den vorangegangenen. Schon der gesunde Menschenverstand verriet, dass das nicht stimmen konnte. Die meisten Jobwechsel vollzogen sich aus familiären Gründen oder weil jemand arbeitslos wurde. Nicht selten musste er dann eine Stufe tiefer als zuvor anfangen.
Nikolaus Holzwanger kannte das aus eigener Erfahrung.
Ganz anders bei ausländischen Bewerbern, die häufig berufliche Sackgassen aufzuweisen hatten. Amerikanische Toggle-Bewerber stellten sie sogar extra heraus. Denn die Einstellungspolitik der Firma galt als legendär: Ein Ausflug ins Musikgeschäft, ein gescheitertes Startup, eine abgebrochene Karriere als Hundetrainer, ja selbst eine psychotische Sektenerfahrung waren nicht ehrenrührig. Dahinter verbargen sich womöglich schlummernde Talente, die sich für den Konzern nutzbar machen ließen.
Toggle liebte kreative Geister.
Aber dass kreative Geister auch Toggle liebten, bereitete dem deutschen Personalchef zuweilen Kopfzerbrechen. Regelmäßig musste er dann Kunststudenten erklären, dass die Firma vornehmlich Computerfachleute einstellte, um den Betrieb der weltweit größten Suchmaschine aufrechtzuerhalten, und nur in Sonderfällen reine Kreativität ankaufte. Das ließ sich umso schwerer vermitteln, je genauer die Kunststudenten den Laden kannten. Dessen Büros waren nämlich so bunt wie sein Firmenlogo, im Hausjargon Doodle genannt, und irgendjemand musste ja einst für die Farbgebung gesorgt haben.
»Ein Zufallsgenerator«, antwortete Holzwanger dann mit einem strahlenden Lächeln. »Wir sind ein Hightech-Unternehmen. Simple Gebrauchskunst erzeugen wir maschinell.«
»Lieber noch mal aufs Klo?«, fragte ihn Melissa,...
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