Schweitzer Fachinformationen
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Birgit Weyel
Wer sich auf das Predigen einlässt, hat es mit Texten zu tun. Eine Predigt setzt sich in der Regel mit einem biblischen Text auseinander. Und sie tut dies in einer Weise, dass sie selbst einen Text »produziert«. Die Predigt selbst ist ein Text. Und in nicht seltenen Fällen betreten in dem Text-Stück Predigt neben ihrem Bezug auf den biblischen Text noch weitere Texte die Bühne der Kanzel: Gedichte, die zitiert werden; Geschichten, die erzählt werden; Zeitungsberichte, die in Erinnerung gerufen werden. Auf diese Weise ist jede Predigt ein mehr oder weniger sorgfältig gestaltetes, ein mehr oder weniger gründlich reflektiertes Textgewebe oder Textgespinst. Wo immer wir uns auf Predigt einlassen, treffen wir auf Texte.1
Wer predigt, bezieht sich in der Regel auf (biblische) Texte. Im liturgischen Ablauf eines Gottesdienstes folgt die Predigt auf die Verlesung biblischer Texte, die Schriftlesungen. Dieser Zusammenhang ist nicht nur ein zufälliger, zeitlicher, sondern ist im Protestantismus mit starken (normativen) Zuschreibungen verbunden. Auch im Evangelischen Gottesdienstbuch klingt dieser Aspekt an, wenn es heißt, dass die Predigt eine der Lesungen zur »Grundlage«2 haben soll. Eher beschreibend dagegen ist die Rede davon, dass die Predigt in der Regel auf einen biblischen Text bezogen3 ist. Auf die Fragen der Normativität und Autorität, die sich mit dem Textbezug verbinden, soll hier nicht ausdrücklich eingegangen werden. Sie sollen an dieser Stelle einmal eingeklammert werden, um den Blick darauf zu richten, wie sich Predigten auf Texte beziehen und was es heißt, den Textbezug der Predigt als eine intertextuelle Praktik zu fassen.
Wenn man nicht abstrakt und generalisierend von »der Predigt«, sondern vom Predigen als einer Praktik spricht, dann rücken die Handlungen in den Blick, die zusammenfassend als Predigen angesprochen werden können. In einer ersten Annäherung bedeutet der Perspektivwechsel, das, was unter dem Begriff der Predigt firmiert, näher anzuschauen, indem man es als Handlung bzw. als eine Kette von Handlungen betrachtet. Ein komplexes Konzept (»Predigt«) wird »aufgemacht«4, indem man zu beschreiben versucht, aus welchen Handlungen es sich zusammensetzt und als solches hervorgebracht wird. Ein einmaliger Akt des Predigens macht noch nicht »die« Predigt. Zur Bildung eines Konzepts von Predigt gehört die Wiederholung. Praktiken können als kulturell zirkulierende Repertoires verstanden werden, auf die zurückgegriffen wird, wenn wir ein konkretes Handeln bzw. eine Kette von Handlungen als etwas, in diesem Fall als Predigen, verstehen und bezeichnen wollen. Die Intertextualität von Predigten kann im Einzelnen unterschiedlich5 durchgeführt werden, in der Regel aber sind intertextuelle Praktiken für das, was wir Predigt nennen, stilbildend. Drei kurze Beispiele, die aus einem größeren Forschungsprojekt6 stammen, möchte ich im Folgenden gerne vorstellen und einige Beobachtungen teilen, die intertextuelle Praktiken als Handlungsvollzüge beleuchten.
01 hört wOrte (.) aus dem Ersten joHANnesbrief; (.)
02 im vIErten kaPItel. (4.8)
03 dort HEIßT es, (.) (Räuspern) (.)
Die Ankündigung7 des Predigttextes beginnt mit einem Imperativ (»hört«) und der Angabe der Bibelstelle. Darauf folgt eine lange Pause, die Spannung erzeugt, eine weitere Ankündigung und ein Räuspern, bevor der Predigttext gelesen wird (1Joh 4,11-19). Die meiste Zeit blickt der Pfarrer auf das vor ihm liegende Buch und blickt nur kurz auf, wenn Adhortative (Appelle zur Liebe) gelesen werden. Das Vorlesen wird durch den konstanten Blick auf die Textvorlage inszeniert und mit einem Amen (des Liturgen) abgeschlossen. Darauf folgt mit veränderter Sprechweise, die dem alltäglichen, beiläufigen Sprechen nachempfunden ist, eine Regieanweisung: »Wir hören nun das nächste Lied [...]«
Die Ankündigung und die Verlesung des Predigttextes werden der Predigt vorangestellt. Erst durch die Bezugnahme in der Predigt auf den zuvor gelesenen Text wird dieser Text zum Predigttext. Die Aufmerksamkeit ist strikt auf die Textvorlage gerichtet: Der Prediger als Fokusperson macht in der Interaktion mit den Hörerinnen und Hörern deutlich, dass er einen schriftlich vorliegenden Bibeltext vorliest. Die Bibelstelle wird nicht nur sorgfältig genannt, so dass man unter Umständen später den Text wiederfinden und nachlesen kann, sondern sie wird auch feierlich, nach einer langen Pause von fast 5 Sekunden und nach einem Räuspern, vorgetragen. Das Amen am Ende setzt einen Schlusspunkt und grenzt die Lesung distinkt nach hinten ab. Während Zitate und Anspielungen den Gottesdienst wie ein Gewebe durchziehen und häufig sowohl die Herkünfte als auch die Ränder der eingespielten Texte unkenntlich bleiben, wird der Predigttext (im Rahmen der Schriftlesungen) mit einer genauen Quellenangabe verbunden und dadurch hervorgehoben. Christian Walti hat in Sequenzanalysen in reformierten Gottesdiensten Stilelemente von Lesungen herausgearbeitet, etwa die deklarative Lesungsansage mit Angabe der Bibelstelle und Sprechpause. »Der Umstand, dass präzise angegeben wird, wo das Gelesene steht, deutet darauf hin, dass die Inszenierung [.] auf ein übersituationales überzeitliches Traditionsgut zurückzuführen ist, das von allen auch in anderen Situationen im exakt gleichen Wortlaut wiedergefunden werden kann.« Es zeigt »philologische Präzision« und »Sorgfalt im Umgang mit dem Text an«.8 Dabei hat dieses Verfahren deutliche Parallelen zu wissenschaftlichen Praktiken des Vortragens. Es gehört zu den Regeln guter wissenschaftlicher Praxis, Zitate kenntlich zu machen und Autorschaft zu markieren, um eigenes und fremdes Gedankengut voneinander erkennbar abzugrenzen und nicht etwa ineinanderlaufen zu lassen. Praktiken des Zitierens bilden strukturell einen Zusammenhang mit Auslegungs- und Interpretationspraktiken, wie man sie auch aus akademischen oder aus juristischen Kontexten kennt.
Mehrfach spricht der Prediger von »unserem Predigttext«. In einer praxistheoretischen Perspektive verstehe ich die Rede von unserem Text als Verweis auf gemeinsame, geteilte Wissensbestände, einen common ground. Eine community of practice wird konstituiert, ganz unabhängig davon, ob alle Angesprochenen über ein entsprechendes Wissen verfügen oder die impliziten Überzeugungen teilen. Das Lesen und Auslegen von Texten ist ein kommunikatives Handeln, das wesentlich über die Textbezüge moderiert wird. Dabei handelt es sich teilweise um Praktiken der Relationierung, die zugleich als Hervorhebung der Texte beschrieben werden können. In den von mir untersuchten Trauerfeiern wird beispielsweise darauf hingewiesen, dass der Ehemann der Verstorbenen den Predigttext ausgesucht habe oder dass der Predigttext zugleich der Hochzeitsspruch des Verstorbenen und seiner Frau war. Der Predigttext wird besonders gemacht, indem er in eine Beziehung zu den vom Kasus betroffenen Personen gerückt wird. Die Semantiken unterstreichen die Besonderheit: Das Aussuchen kann verstanden werden als ein Prozess, der mit Sorgfalt und Mühe verbunden ist. Das Ehepaar hat den Hochzeitsspruch bekommen, so wie man Geschenke bekommt. Im Unterschied zu einem Sonntagsgottesdienst gehört es stilbildend zu Kasualien dazu, dass hier einzelne Personen im Mittelpunkt stehen. In den Predigten werden aber auch Beziehungen durch die Texte konstituiert, wie sie in nicht-kasuellen Gottesdiensten vorkommen. »Der erste Johannesbrief erinnert daran, dass wir die Liebe nicht aus uns selbst heraus produzieren können.« Durch die Erinnerung werden der zitierte Brief, zeitgenössische Leser und »wir« zueinander in Beziehung gesetzt. Der Text enthält ein Wissen, das mit dem Anspruch kollektiver Orientierung aufgerufen wird.
Die Predigt wird man in literaturtheoretischer Perspektive als eine kommunikative Gattung bezeichnen können, weil ihre Intertextualität den Autor:innen und den Rezipient:innen bewusst und durch den institutionellen Rahmen explizit gemacht wird. Predigen kann als eine Praktik der Textvernetzung bezeichnet werden, weil sie sich nicht nur (interpretierend und kommentierend) zu einem Text verhält, sondern viele Texte miteinander verweben kann. Der Situationsbezug der Predigt wird wesentlich über Texte hergestellt. Das gilt nicht nur für den B-Teil der Predigtstudien, wie Albrecht Grözinger beschreibt: »Und in nicht seltenen Fällen betreten in dem Text-Stück Predigt neben ihrem Bezug auf den biblischen Text noch weitere Texte die Bühne der Kanzel: Gedichte, die zitiert werden; Geschichten, die erzählt werden; Zeitungsberichte, die in Erinnerung gerufen werden.«9 In diesem Zusammenhang können viele produktive Fragen gestellt werden, die man sich selbst oder auch an Predigten anderer stellen kann. Welche Texte treten neben den (biblischen) Text, auf welche Kontexte spielen sie an, wie werden sie eingerahmt und in einen neuen Text eingepasst? Nach meiner...
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