Kapitel 2
"Ich habe unseren Theo nicht gestillt. Mein Mann wollte es nicht. Er hat gesagt, davon bekomme ich einen Hängebusen. Was sagen Sie dazu? Sie kennen doch so viele Damen." Die Frau des Apothekers schaute Friseur Rimini im Spiegel fragend in die Augen, während er an ihrem Hinterkopf geschäftig Locken eindrehte. Lächelnd hielt er inne. "Gnädige Frau Siebenstern, früher oder später hat jeder einen Hängebusen. Auch Männer." Die Apothekersgattin lachte kreischend auf und versuchte, ihn dabei schwärmerisch anzuschauen. "Sie sind einer, Herr Rimini, Sie sind aber auch einer!", kicherte sie.
Das Telefon läutete. Der kleine Friseur verschwand in seinem winzigen Büro und besprach mit der Anruferin umständlich einen Termin: "Donnerstag, 11 Uhr ist für Sie reserviert, Frau Klötzer. Sie hatten ja gestern schon deswegen angerufen. Ich freue mich auf Sie. Ja, gerne. Habe ich notiert. Selbstverständlich. Nein, das ist sicher. Kundendienst, Frau Klötzer. Bis Donnerstag. Ja, wir haben geöffnet. Nein, Sie müssen nicht warten. Wiederschauen, Frau Klötzer. Ja, für Sie auch."
Hatte er die Türklingel gehört, während er telefonierte? Rimini schaute in den Laden. Aber niemand war hereingekommen. Er trat wieder an den Friseurstuhl und griff sich einen Lockenwickler. Als er die Strähne eingedreht hatte und losließ, sank der Kopf der Frau langsam nach vorne. "Den Kopf bitte wieder hochnehmen, so kann ich nicht arbeiten!", sagte Rimini in strengem Ton.
Aber die Kundin reagierte nicht. "Gnädige Frau? Frau Siebenstern?" Rimini ging um den Stuhl herum und stellte sich vor sie. "Hallo? Frau Siebenstern? Ist Ihnen nicht gut?" Dann sah er ein kräftiges Blutrinnsal, das unter dem weißen Friseurumhang auf das graugrüne Linoleum tropfte. "Ist Ihnen möglicherweise nicht gut?", fragte er noch einmal unsicher. Als er den Umhang von ihrem Hals löste und ihre Hand griff, sank sie vornüber und plumpste klatschend mit dem Gesicht auf den Boden.
"Frau Siebenstern, um Himmels willen, was ist denn los mit Ihnen? Sagen Sie doch was!" Aus dem Oberkörper der Apothekersfrau sprudelte dunkles Blut. Sie drehte sich leicht und bewegte den Kopf. Wie abwehrend spreizte sie krampfig die Hände. Ihr rechtes Auge schloss und öffnete sich langsam. Zweimal. Dreimal. Die rechte Schulter hob sich. Sie atmete noch zweimal rasselnd. Dann entspannte sich der Körper.
Friseur Rimini stürzte zum Telefon, wählte fahrig die Nummer von Doktor Rotgold, dem Universalmediziner der kleinen Stadt. "Hier Friseur Rimini! Einen Arzt! Starkes Unwohlsein einer Dame!", kreischte er in den Hörer. Dann wandte er sich wieder der Apothekersfrau zu, die regungslos in einer größer werdenden Blutpfütze auf dem Boden lag. "Machen Sie sich keine Sorgen, der Doktor kommt!", rief er ihr zu. "Ein Glas Wasser vielleicht? Oder einen Weinbrand?"
Wenige Minuten später hörte man auf der Wilhelmstraße lautes Fahrradklingeln. "Alarm, Alarm", brüllte Doktor Rotgold. Das war eine Marotte von ihm für Noteinsätze. Er war ein Arzt, der keine Krankheit und selbst den Tod nicht ernst nahm. Ernst wurde er nur bei der Diskussion um Rieslingjahrgänge. Aber seine Patienten mochten ihn, denn er stellte präzise Diagnosen, hielt lange Krankschreibungen für besonders gesundheitsfördernd und setzte sich leidenschaftlich für Mutter-und-Kind-Kuren im Allgäu oder an der Nordsee ein.
"Oh, meine alte Freundin", rief Doktor Rotgold und band sich seine alte Metzgerschürze aus fleckigem weißem Gummi um, "ich tippe mal auf akute Kreislaufbeschwerden." Er öffnete den Arztkoffer und kniete sich neben die Frau des Apothekers. Seine nach Brisk duftenden dunkelbraunen Strähnen hatte er streng nach hinten gekämmt. Am Hinterkopf liefen sie in einem fetten Entenschwanz spitz zusammen. Rimini sah es mit einem Ausdruck großen Missfallens. Frisiercreme empfand er als eine Beleidigung seines Berufsstandes. Außerdem stank Brisk, so pflegte er festzustellen, "wie ein Matrose aus dem Hosenlatz." Dem Doktor war das egal. Ihm war völlig gleichgültig, was man über ihn dachte. Er war stets mit sich und den Patienten seiner kleinen Stadt sehr zufrieden.
Die Frau des Apothekers war seit langem wegen einer Herzgeschichte bei ihm in Behandlung gewesen. Sie wusste nicht viel von der Welt. Der Arzt, soviel war im Ort bekannt, vergnügte sich oft mit jungen Männern, die ihn in seinem Haus neben dem Heldengedenkstein besuchten. Vor wenigen Tagen erst hatte sie sich während des Blutdruckmessens schüchtern getraut ihn zu fragen, wie es sei, wenn Männer sich lieben. Und Doktor Rotgold hatte ihr bereitwillig und detailliert Auskunft erteilt. "Dann ist das ja gar nicht so schlimm", hatte sie gesagt und ihn angelächelt. Jetzt schwammen ihre grauen Haare mit den Lockenwicklern in dem Blutsee, der sich um ihren Oberkörper gebildet hatte.
"Ist Ihnen die Schere aus der Hand gerutscht?" fragte Rotgold feixend den Friseur. Der schaute nur entsetzt kopfschüttelnd auf die Frau. Doktor Rotgold schnitt ihr die Kleider vom Oberkörper. Dicht nebeneinander waren in der Brust nahe des Herzens zwei große Einstiche zu sehen, aus denen das Blut inzwischen dünner rann. "Hatte Sie das schon, als sie reinkam?", fragte der Arzt mit gespieltem Ernst. "Nein. Nein", stammelte Friseur Rimini und wand sich, "sie war ganz normal, wir haben uns unterhalten. Ich hätte es doch gemerkt, wenn sie verletzt gewesen wäre. Und man redet doch darüber, wenn man Messerstiche in der Brust hat. Nein, sie war ganz normal."
"Rufen Sie Kommissar Rottek. Die Frau ist tot", sagte Doktor Rotgold, "das muss sich die Polizei ansehen." Der Friseur zuckte zusammen. "Die Polizei? Glauben Sie wirklich? Aber ich habe hier doch Publikumsverkehr! Vielleicht war es nur ein Unfall. Das interessiert die Polizei doch nicht, wenn es nur ein Unfall war."
"Dann legen Sie die Dame erst mal hinten in den Flur. Vielleicht kommt sie ja sogar wieder zu sich."
Friseur Rimini wirkte sehr erleichtert. "Ja? Glauben Sie? Vielleicht bis heute Abend. Dann kann ich ja immer noch was unternehmen." Er raffte einen Arm voller Handtücher zusammen und versuchte ungeschickt, den Blutsee rund um die Leiche aufzuwischen. "Erst mal das hier", keuchte er. Dabei rutschte er auf der roten Nässe aus und fiel quer über die tote Frau Siebenstern. Als er sich wieder aufrichtete, tropfte von seinem blauen Friseurkittel und von seiner weißen Leinenhose das Blut. Wie betäubt versuchte er, sich mit den verschmierten Handtüchern zu säubern.
Doktor Rotgold ging ins kleine Büro und wählte 215, die Nummer der Polizeiwache. Hauptwachtmeister Kesselring nahm den Anruf entgegen.
"Hier ist Doktor Rotgold. Eine Leichensache. Haben Sie Interesse?"
"Leichensache? Hat Ihre Heilkunst wieder versagt?"
"Möglicherweise, Herr Hauptwachtmeister. Ein Blutbad bei Friseur Rimini. Bringen Sie auch Ihren Kriminalkollegen Rottek mit. Falls er Zeit hat."
"Friseur Rimini? Hat er jemandem die Nasenspitze abgeschnitten? Ich habe schon immer gesagt, der Mann redet zu viel bei der Arbeit. Dann passieren solche Sachen."
"Diesmal muss es eine sehr intensive Unterhaltung gewesen sein. Aber schauen Sie selbst. Ich warte hier auf Sie."
"Ist das wieder so ein Ulk von Ihnen? Doktor, wenn Sie uns veräppeln, dann zeige ich Sie an wegen mangelndem Respekt vor der uniformierten Staatsgewalt. Das kann teuer werden."
Doktor Rotgold legte kommentarlos auf und probierte die Duftwässer, die auf dem schmalen Marmorbord unter den großen Spiegeln standen. Mit einem davon sprühte er sich grunzend ein. Er liebte den verfeinerten Lebensstil und beeindruckte damit die jungen Männer, die am Wochenende zu ihm in das elegante Haus neben dem Denkmal für die Gefallenen kamen, bis in die Nacht lachten und laute Schallplattenmusik spielten. Einmal, im Sommer, war Pastor Löselein an dem Haus vorbeigegangen und hatte gesehen, wie Doktor Rotgold in seinem Garten unter dem Rosenbogen einen Jüngling auf den Mund geküsst hatte. Abends war sogar amerikanische Musik aus dem Haus geklungen von diesem Sänger, der gerade die Jugendlichen verrückt machte. Aber nicht nur die: Sogar die Frau von Pastor Löselein sang beim Abwaschen "Love me tender", und fast hätte er ihr deshalb im Jähzorn auf den Mund geschlagen. Wütend predigte der Pastor am nächsten Sonntag von Sodom und Gomorrha und der Sündenlast gewisser Personen, die sich sittlichen Ausschweifungen hingaben. Aber seine Empörung verpuffte, denn der Doktor und seine Knaben waren nicht in der Kirche und die anderen Gottesdienstbesucher dachten, es ginge mal wieder um die Halbstarken von der Oberschule.
Friseur Rimini hatte sich inzwischen einen frischen Kittel angezogen. Die blutigen Hosenbeine schauten unten heraus. "Was für eine Situation!", flüsterte er kopfschüttelnd. "Was für eine Situation!" In dem Moment öffnete sich die Ladentür. Witwe Süsselbeck vom Pilsbüdchen in der Frankfurter Straße tat vier Schritte in das Friseurgeschäft und blieb wie angewurzelt stehen. Sie war eine große, herbe Frau und ihre Vorliebe für Speckpfannkuchen und Schmalzgebackenes zeigte sich in sehr deutlichen Rundungen. "Was ist denn hier los?" knarrte sie vorwurfsvoll mit ihrer Feldwebelstimme.
Rimini stellte sich freundlich lächelnd vor sie hin. "Nichts weiter, eine kleine Unpässlichkeit, der Doktor ist schon da", flötete er. "Wenn Sie dort schon mal Platz nehmen möchten, ich bin gleich bei Ihnen." Witwe Süsselbeck schob den kleinen Friseur mit ihren kräftigen Armen grob zur Seite. "Was ist denn hier...