Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
«Immer diese übertriebene Hast», schimpfte der Pathologe, der wie ein Vogel aussah, aber nicht wie ein sympathischer Vogel. Ein Leichenpicker, dachte De Gier, eine neurotische Krähe, halb lahm, schräg hüpfend. Der Pathologe bewegte sich tatsächlich schräg und konnte seinen schmalen Kopf nicht gerade halten, man hörte die Halswirbel knacken, während die Augen irgendwie drohend lauerten.
«Was wollt ihr denn noch?», fragte der Pathologe unwirsch und sah auf die Armbanduhr. «Ich habe Feierabend. Also, was gibt's noch?»
«Wie weit sind Sie mit dem Fall von dem Mann, der im Boot verbrannt ist?», erkundigte sich Grijpstra gelassen.
«Ach, das Häufchen Elend», meinte der Pathologe. «Das Zeugs liegt hier irgendwo rum.» Seine Klauen zogen ein paar Plastiktücher zur Seite. «Versengte Knochen und halbverbrannter Schädel. Ein Mann. Weit in den Fünfzigern. Ein Meter siebzig, wenn er aufrecht stünde, aber er ging offenbar in gebückter Haltung. Straßenarbeiter? Bauer vielleicht? Hat wohl anscheinend ständig einen Schubkarren geschoben. Konnte ich an den Resten von der Wirbelsäule erkennen. Ich kann hier bloß raten, meine Herren, ihr müsst mir schon etwas besseres Material liefern.»
«Kleider?», fragte De Gier. «Schuhe?»
Der Pathologenhals knackte laut. «Andere Abteilung. Ich hab nur mit dem bloßen Körper zu tun. Alles andere wird ins Labor weitergeleitet.»
«Zähne?», beharrte Grijpstra.
«Zähne gehören zum Körper. Liegen dort. Im Plastikbeutel.»
Grijpstra runzelte die Stirn. «Ist das Gold?»
«Eine Menge Gold», antwortete der Pathologe, «und Brücken, aber ich bin kein Zahnarzt. Ihr habt ja kein Geld mehr für einen Zahnarzt, überall wird nur noch gespart.»
«Ein armer Bauer, der sein Leben lang Schubkarren schob, mit so viel Gold im Mund? Ein Vermögen in Zahnbrücken investiert?»
«Hören Sie, Adjutant», brummte der Pathologe verärgert, «ich arbeite hier nur als Arzt. Die Lösung des Falles ist Ihre Aufgabe.»
De Gier schauderte. Die Überbleibsel des Schädels blickten ihn an, denn die Augenhöhlen waren noch erhalten, und sie starrten rußgeschwärzt zu ihm hoch. Wie ist es nur möglich, dachte der Brigadier, dass etwas, was es nicht mehr gibt, mich so flehend ansehen kann?
«Wird Ihnen etwa übel?», höhnte der Pathologe.
De Gier bedeckte seinen Mund mit einer zitternden Hand. «Daran kann ich mich einfach nicht gewöhnen, nie und nimmer. Es gibt ihn nicht mehr, aber er ist hier und beschäftigt sich mit uns, die wir uns mit ihm beschäftigen. Was ist ein Schädel? Der Kopf des Todes? Ist der Tod also lebendig?»
«Verzeihung», schnauzte der Leichenbeschauer hämisch. «Beschäftigen wir uns hier etwa mit Philosophie? Hier zählen doch nur Tatsachen; eine durch körperliche Schwerarbeit verkrümmte Wirbelsäule, teure Kunstzähne auf verkohlten Wurzeln. Ich liefere Ihnen die logischen Folgerungen, die auf empirisch gewonnenen Erkenntnissen beruhen. Ein toter Schwerarbeiter von etwa sechzig Jahren mit einem Mund voller Goldzähne. Mehr kann ich Ihnen nicht bieten. Aber das ist auf dem Boden der Tatsachen gewachsen, nicht auf dem der Philosophie.»
«Herr Doktor», lenkte Grijpstra ein, «unsere Aufgabe ist im Grunde die gleiche. Sagen Sie mir bitte, wurde dieser Mann ermordet?»
«Sehen Sie sich das an», die Vogelklaue hob ein Röntgenbild hoch, «hübsches Foto, nicht wahr?»
Im Grau der Aufnahme zeichneten sich Flächen und Punkte ab.
«Was sehe ich denn da?», fragte Grijpstra stirnrunzelnd.
«Die Rückseite des Schädels», antwortete der Pathologe herablassend. «Soweit vorhanden, bis hierhin verbrannt, aber dort, sehen Sie, da ist ein kleines rundes Loch entstanden, hier, direkt am Rand.»
«Kugel?», fragte De Gier. «Kann ich die Aufnahme haben?»
«Dann nehme ich die Zähne mit», sagte Grijpstra. «Danke schön, Doktor.»
«Ja», sagte ein Laborant eine Stunde später, «das Loch könnte von einer Kugel stammen. Durch den Hinterkopf eingetreten und zur Augenhöhle wieder heraus. Aber das ist noch Spekulation. Wir helfen euch gerne weiter, wenn ihr uns etwas gebt, mit dem auch etwas anzufangen ist.»
«Kleinkaliber», sagte der Ballistikexperte, «aber was bedeutet das schon? Heutzutage gibt es doch schon vollautomatische Militärgewehre mit kleinem Kaliber. Aber der Mann wurde jedenfalls erschossen, das dürfte wohl feststehen.»
«Kleider? Schuhe?»
«Die hatte er an», meinte der Laborant. «Keinesfalls ist er nackt gestorben. Diese Asche, hier in dem Becher, war einmal Stoff, und die Asche im Becher daneben war zweifellos einmal Leder. Aber was für Stoff und was für Leder? Ich habe keine Ahnung, und das ist auch nicht mehr herauszubekommen.»
«Und was ist das in diesem Becher?», fragte De Gier.
«Ein Orl», antwortete der Laborant. «Sie können doch wohl lesen? Hier steht noch ganz deutlich .»
«Beim Judo», brummte De Gier stirnrunzelnd, «lernt man Selbstbeherrschung, aber man lernt auch noch mehr. Zum Beispiel, wie man einen albernen Laboranten aufs Kreuz legen kann. Ich bin recht gut im Judo.»
Der Laborant grinste unterwürfig. «Überreste eines Kugelschreibers, Brigadier, billiger Stift mit einer Reklameaufschrift. Die Buchstaben sind verbrannt, bis auf .»
De Gier nahm den Behälter mit.
«Und jetzt?», fragte Grijpstra in der Kantine. Er beantwortete seine Frage selbst. «Und jetzt gar nichts. Du hast recht. Wir warten.» Bedächtig rührte er seinen Kaffee um. Dann deutete er über De Giers Schulter. «Sieh mal, da geht Sjaan.»
De Gier wandte sich um, dann schüttelte er den Kopf. «Sjaan war das nicht, aber du frisst meinen Kuchen.»
«Ich bin doch ein raffiniertes Kerlchen», grinste Grijpstra. «Wie kommt es nur, dass ich dich immer wieder reinlegen kann? Und dabei habe ich dich doch selber ausgebildet. Die simpelste Sache der Welt. Sjaan ist schön, und du stehst auf schöne Weiber. Ich brauche nur zu sagen, dann vergisst du alles andere.»
«Du hättest auch sagen können, dass du Kuchen willst, dann hätte ich dir welchen mitgebracht.»
«Dich reinzulegen macht mir mehr Spaß», meinte Grijpstra grinsend.
De Gier ging Kuchen holen.
«Obwohl's ja eigentlich egal ist», sagte Grijpstra, als De Gier zurückkam, «aber was willst du machen? Die Zähne oder den Orl?»
«Ist mir egal», antwortete De Gier.
Grijpstra warf einen Gulden in die Luft, fing ihn auf und knallte ihn mit der flachen Hand auf den Puls. «Die Königin ist Orl.»
Die Seite mit dem Bild der Königin lag oben. «Du machst Orl.»
«Kleine Fische», sagte De Gier. «Geh schon los, ich bin gleich fertig. Wenn du so weit bist, kommst du zum Commissaris, da warte ich auf dich, und dann wissen wir wohl mehr.»
«Herein», rief der Commissaris. Bis jetzt hatte er in dieser Sache noch keine brauchbare Idee. Er saß, tadellos gekleidet, aber sonst unscheinbar, auf seinem mit Löwenköpfen verzierten Stuhl hinter einem auf Löwenpfoten stehenden Schreibtisch. Die geöffnete Tür verursachte Zugluft, und diese bewegte die Blätter der Zimmerpflanzen. Mit seinen zarten Händen, deren Haut sich durchsichtig über die feinen Knöchel spannte, schlug der Commissaris auf Papier, das gerade aufflattern wollte. Erschreckt blickte er auf. «Tür zu, verdammt noch mal. Guten Tag, Adjutant, Tag, Brigadier. Setzen Sie sich.»
Also doch, vielleicht hatte der Commissaris doch eine brauchbare Idee? In den Berichten wurden nur friesische Namen genannt. Algra und Wiarda. Der Commissaris hielt sich selbst für einen Friesen, schließlich war er doch in Joure geboren.
«Die Friesensache», sagte der Commissaris bedächtig. «Also. Haben Sie schon etwas herausgefunden?»
Adjutant und Brigadier legten ihre Mitbringsel auf den Schreibtisch. «Zähne», sagte Grijpstra. «Orl», sagte De Gier.
«Also, mal in der Reihenfolge des Dienstranges», meinte der Commissaris. «Was gibt's, Adjutant Grijpstra?»
«Zähne von der Leiche», begann Grijpstra, «von einem Experten begutachtet. Mein Zahnarzt sagt, dass dies die Überreste eines vollständigen Kunstgebisses seien. Sehr gut gemacht, vor allem aber auch sehr teuer. Eine technisch wohl durchdachte Arbeit, die an hier und da noch nicht verfaulten Wurzeln befestigt wurde. Mein Zahnarzt meint, dass dieses Gebiss gut und gerne dreißigtausend gekostet haben dürfte. Nach Ansicht des Pathologen hat der Tote zeit seines Lebens schwer gearbeitet, er war möglicherweise Bauer oder Straßenarbeiter. Das sind doch recht widersprüchliche Fakten. Vielleicht sollten wir das besonders beachten?»
Draußen fuhren zwei Straßenbahnen mit lautem Quietschen und Klingeln vorüber. Grijpstra sprach noch, so sah es wenigstens aus, denn sein Mund bewegte sich.
«Wie?», fragte der Commissaris.
«Ein Bauer oder Straßenarbeiter mit Zähnen für dreißigtausend.»
«Wer?», fragte der Commissaris.
«Das wissen wir doch noch nicht.»
«Ich meinte den Zahnarzt», sagte der Commissaris. «Den, der Millionärsgebisse macht. So viele können das doch nicht sein.»
Grijpstras stumpfer Zeigefinger blätterte in einem zerfledderten Notizbuch. «Hier gibt es nur einen einzigen, aber sein Anrufbeantworter sagt, dass er heute fort ist. Morgen ist er wieder zu sprechen.»
«Dann zeigen Sie ihm diese Zähne, und dann wissen wir wohl auch, wer die Leiche ist. So viel Zeit haben wir wohl noch. Gute Arbeit, Adjutant. Hat der Brigadier auch noch etwas herausgefunden?»
De Gier nickte bescheiden.
«Also, De Gier?»
«Orl», sagte de Gier, «sind drei Buchstaben aus dem Wort...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.