Kapitel 1
In der Nacht war ein Unwetter über die Stadt hinweggezogen und noch am Morgen waren die Straßen teilweise überflutet. Alex stand allein am Strand von Cascais, einem Vorort der portugiesischen Hauptstadt Lissabon.
Der Himmel über ihm war von einem so intensiven Blau, dass es beinah schmerzte, und der Wind blies Alex dermaßen heftig ins Gesicht, dass seine Augen begonnen hatten zu tränen. Jedenfalls versuchte er sich einzureden, dass es am Wind lag und nicht an der Sache mit Isa. Er drehte sich um und betrachtete nachdenklich den riesigen, tonnenschweren Pottwal, der direkt hinter ihm lag. Er hatte das Tier mit Schritten abgemessen ? der Wal war mindestens acht Meter lang, vielleicht zehn. Eine Möwe saß auf einer der Flossen, die unter dem Koloss hervorlugten, und pickte vorsichtig daran herum.
Alex umrundete den Pottwal ein zweites Mal. Ganz schön groß, so ein Wal, schoss es ihm durch den Kopf. Die größten Tiere, die er bisher in natura gesehen hatte, waren Zooelefanten gewesen ? und somit kein Vergleich zu diesem Ungetüm. Ihm war klar, dass Wale zu den Säugetieren zählten, dennoch stank das tote Tier nach Fisch.
Alex zog sein Handy aus der Hosentasche, um Isa anzurufen, hatte aber kein Netz. Er war sich nicht sicher, ob sie überhaupt drangehen würde, nachdem er vorhin so plötzlich davongestürmt war, aber er wusste, dass sie den Wal bestimmt sehen wollte. Also ging er hoch zur Strandpromenade, die nahezu menschenleer war. Noch immer kein Netz. Alex schüttelte das Handy frustriert, auch wenn ihm klar war, dass das nicht viel bringen würde. Zu allem Übel waren seine Finger vom Wind so durchgefroren, dass ihm das Gerät aus der Hand glitt und in einem kleinen Sandhaufen zu seinen Füßen landete. Na toll. Sand und Hightech passten bekanntlich extrem gut zusammen.
Er hob das Handy auf und blies vorsichtig den Sand von der Tastatur. Er musste sich dazu umdrehen, denn der Wind trug feine Sandkörner mit sich, die ihm in die Augen stachen und zwischen seinen Zähnen knirschten. Das Handy hatte hier oben einen recht guten Empfang: drei von fünf Balken auf dem Display. Er drückte die Zwei ? Kurzwahl für Isa ?, kam aber nicht durch. Besetzt. Komisch, sonst klopfte es immer an bei ihr, und wenn sie keinen Empfang hatte, landete er auf der Mailbox. Er versuchte es erneut, aber dieses Mal hörte er nur ein eigenartiges Klicken, danach war die Leitung tot.
Alex starrte mit gerunzelter Stirn auf das Display, das plötzlich zu flackern begann. Es schien, als würde sein Handy den Geist aufgeben, die Anzeige leuchtete jedenfalls nur noch sehr schwach ? vielleicht war ein Sandhaufen eben doch nicht der ideale Landeplatz. Aber dann klingelte es plötzlich, und auf dem Display erschien: ISA.
»Hi!«, meldete sich Alex.
»Hi! Ich bin's. Du hast versucht, mich anzurufen?«
»Das stimmt, aber woher weißt du das? Ich bin nicht durchgekommen.«
»Bei mir hat es geklingelt, aber immer nur einmal, danach stand da: >Hat aufgelegt<.«
Alex zuckte mit den Achseln. »Hm. Keine Ahnung.«
»Wo bist du?«, fragte Isa. Ist alles in Ordnung?«
Die Frage überforderte Alex völlig. Wie konnte Isa so schnell auf besorgte Freundin umschalten? Dass sie vorhin nicht bemerkt hatte, dass etwas nicht stimmte, hielt er für ausgeschlossen. Und dennoch plauderte sie irritierend locker mit ihm. Aber jetzt am Telefon war nicht der richtige Moment, um sie darauf anzusprechen.
»Hier liegt ein Wal!«, sagte er. »Ein Riesending. Willst du ihn sehen?«
»Lebt er noch?«
»Nein, er ist tot. Aber ich scheine bislang der Einzige zu sein, der ihn bemerkt hat. Jedenfalls dachte ich, das interessiert dich bestimmt.«
»Klar. Es geht doch nichts über einen toten Wal!«, sagte Isa und lachte.
Machte sie sich lustig über ihn?
Isa fragte: »Wo genau bist du denn? Wale findet man ja wohl am häufigsten am Strand .«
»Ich bin in Cascais. Ist in unserem Fahrschein mit drin. Nimm den Zug vom Rossio, es sind nur zwanzig Minuten bis hierher. Ich hol dich dann am Bahnhof ab.«
»Alles klar«, sagte Isa, und ihre Stimme klang plötzlich ganz warm. »Ich freu mich auf dich!«
»Super, bis gleich«, sagte Alex, und auch aus seiner Stimme war nun fast alle Anspannung verschwunden.
Alex Fitshen war bis über beide Ohren verliebt. Aber er war sich nicht sicher, ob Isa seine Gefühle in gleicher Intensität erwiderte. Er und Isa verbrachten mit seiner Familie ein langes Wochenende in Lissabon. Alex' Vater besuchte hier einen Kongress ? sie wohnten bei Alex' Tante, die mit dem deutschen Botschafter verheiratet war.
Nach dem Frühstück waren Isa und er Hand in Hand durch die Altstadt geschlendert. Alex war schon öfter in Lissabon gewesen, aber diesmal erschien ihm die Stadt vollkommen anders als sonst: nicht groß, laut und hektisch, sondern malerisch-verwunschen und herrlich romantisch, obwohl nach den Schauern der vergangenen Nacht eine feuchte Kälte in der Luft lag, mit der sie nicht gerechnet hatten. Irgendwann hatte Isa vorgeschlagen: »Lass uns doch noch mal zu GameStop gehen, da ist es wenigstens warm.«
»Schon wieder? Da waren wir doch erst gestern!«
»Aber immer nur in Cafés rumsitzen ist auch langweilig. Außerdem suche ich noch ein Spiel für den Rückflug. Und mir ist wirklich kalt!« Isa formte mit den Lippen einen unwiderstehlichen Kussmund. »Ach, bitte . «
Alex lächelte. »Na klar, schon gut . «
Aber dann, im Laden, hatte er sich doch geärgert ? Isa konnte nicht einfach nach dem Spiel fragen, das sie suchte, und den Laden wieder verlassen, wenn es nicht da war. Nein, sie musste alle Regale durchsehen und verwickelte den Verkäufer oder ein paar Kunden (oder alle auf einmal) in endlose Diskussionen über irgendwelche Charaktere und Levels und sonst noch was. Alex hatte ein paar Mal mit ihr Singstar und Autorennen gespielt, aber spätestens bei Fantasy-Rollenspielen war für ihn Schluss.
In einer Ecke des Ladens stand ein Schlagzeug, und ein ganz in Schwarz gekleideter Junge mit etlichen Piercings saß dahinter und trommelte wie ein Verrückter. Alex bekam Kopfschmerzen.
Er stellte sich an eine Gamekonsole und drückte auf ein paar Knöpfen herum, machte dann aber Leuten Platz, die sich damit auskannten. Eine Weile sah er zwei Skatern zu, die auf einem geteilten Bildschirm um die Wette fuhren, dann fragte er Isa: »Können wir jetzt gehen?«
»Gleich!«
Erst musste sie noch einem Zwölfjährigen, der wahrscheinlich kaum ein Wort Englisch verstand, die Vorteile der Fortsetzung von irgendwas klarmachen. Der Junge starrte Isa mit offenem Mund an. Das wiederum konnte Alex nur zu gut verstehen. Wenn er selbst in ihre beinah grasgrünen Augen sah, wollte er am liebsten einen Kopfsprung hinein machen. Er liebte es, sich mit ihr über alles Mögliche zu unterhalten. Während er ein Grübler war, der nicht aus dem Quark kam, engagierte sie sich leidenschaftlich und brachte ihre Ansichten auf den Punkt. Ihr kritischer Blick schien alles zu durchdringen, alles zu durchschauen, und dass er diesem Blick bislang standgehalten hatte, war schon Belohnung genug für ihn.
Oh, Alex war nicht auf den Kopf gefallen, er hatte nur einfach keinen Bock auf Schule. »Manchmal braucht man einen neuen Start«, hatte sein Vater überraschend verständnisvoll gesagt und sich für einen Schulwechsel starkgemacht.
Isa war gut ein Jahr jünger als Alex. Manchmal frustrierte es ihn, dass sie nicht nur irre gut in der Schule war, sondern auch noch Mitglied in der Politik-AG und im Theaterclub.
Nach dem Besuch im GameStop fuhren sie mit dem Elevador de Santa Justa, einem antiken Fahrstuhl, hoch zur Praça do Carmo und machten es sich im Café Olivier bequem. Von dort hatte man einen wundervollen Blick über das Schachbrettmuster der Straßen des Stadtteils Baixa.
Sie bestellten sich Galões ? portugiesischen Kaffee mit viel Milch, der in einem hohen Glas serviert wurde ? und dazu die berühmten Pastéis de Nata, kleine Vanilletörtchen.
Isa loggte ihre PSP und ihr Smartphone in das kostenlose WLAN ein. Sie saßen eine Weile da, er las sein Buch, sie spielte. Isa schob sich abwesend eine blonde Strähne hinters Ohr. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie, eine besonders schwierige Spiel-Situation zu meistern. Dann ballte sie triumphierend die Faust und schaute auf. »Ha!«, rief sie aus und strahlte ihn an.
Alex musste lachen. Isa legte zufrieden ihre PSP beiseite und griff nach dem Handy. Doch bevor sie dazu übergehen konnte, ihre neuesten Nachrichten zu lesen, nahm Alex rasch ihre Hand. Hinterher fragte er sich, ob es vielleicht ein ungünstiger Zeitpunkt gewesen war. Aber was er ihr sagen wollte, konnte einfach nicht länger warten. Sie waren heute auf den Tag genau seit sechs Monaten ein Paar.
»Ich liebe dich!«, sagte er.
Isa lächelte und drückte wortlos seine Hand. Aus dem Nichts schoss draußen plötzlich ein kleiner rötlicher Vogel heran. Er prallte gegen die Fensterscheibe und stürzte zu Boden. Isa schrie entsetzt auf, doch dem Vogel war offenbar nichts geschehen. Er schüttelte benommen sein Köpfchen, öffnete ein paar Mal den Schnabel, als wollte er ausprobieren, ob der noch funktionierte, spreizte dann die Flügel und flatterte in die Höhe. Eine Windbö kam und trug ihn davon.
Isa lächelte wieder, aber der romantische Augenblick war dahin. Sie ließ seine Hand los und begann, irgendwas in ihr Handy zu tippen. Wahrscheinlich schickte sie ihrem Exfreund eine SMS, um zu erzählen, was Alex gerade gesagt hatte. Haha! Die beiden verstanden sich für seinen Geschmack viel zu gut. Nikolai war selbst ein Gamer und hatte...