4 DIE AUKTION
Die Auktion lief ziemlich genau so ab wie die zwei davor, seit de Vries den Laden übernommen hatte. Großes Chaos, viel Show, mehr Publikum, als in die Verkaufsräume passte, und praktisch keine Erfolgsergebnisse. Die ganzen zehn Stunden lang nicht.
Das Team startete den Tag um sieben Uhr morgens mit den letzten Aufräumarbeiten und dem Kaffeekochen.
Die ersten Bieter kamen um Punkt neun. Es handelte sich um Anwohner, die das gesellschaftliche Ereignis, das eine solche Auktion einmal im Quartal bot, genossen und sich einen aufregenden Samstag außer Haus gönnten.
Elena bemannte den Fronttresen, vergab die Fächer mit den Bieternummern und prüfte die schriftlichen Vorgebote. Sie kamen nur zögerlich rein.
»Die Fotos«, seufzte Elena deswegen alle paar Minuten.
Dann hatte de Vries seinen Auftritt. Kurz nach ihm trudelte die kleine Gruppe lokaler Händler ein. Ausschließlich Herren im mittleren Alter, die natürlich niemals gemeinsame Sache machen würden, aber grundsätzlich Schulter an Schulter hinter der letzten Stuhlreihe Stellung bezogen. Wir hatten extra zwei Biedermeier-Kommoden beiseitegeschoben.
Silvie und eine unserer letzten verbliebenen Aushilfen führten ein paar Unentschlossene ein letztes Mal durch die Ausstellung, während der Rest allmählich Platz nahm. Für bestimmte Bieter waren Stühle reserviert worden, damit es später nicht zu Streit kam. Obwohl so eine kleine lautstarke Auseinandersetzung gestandener Gentlemen, oder noch besser: ehrgeiziger Frauen, einer solchen Veranstaltung manchmal den fehlenden Pepp gab.
Ich setzte mich derweil an den kleinen Beistelltisch neben das Auktionatorenpult und betrachtete das Treiben, als würde ich nicht dazugehören. Da ich der Schriftführer war, und das schon seit zwei Jahren, sah es besser aus, wenn ich mich unnahbar und vor allem unparteiisch gab.
Berken schien es mir gleichzutun. Ich entdeckte ihn bei einem Blick in die Menge am anderen Ende des Saals untätig neben einer Marmorsäule stehen, die weder alt noch besonders ansehnlich war. Ich wandte den Blick ab, bevor er aufschauen konnte, und schüttelte gleichzeitig den Kopf. Immer da, aber nirgendwo involviert. So hatte er das in dem Unternehmen, in dem ich ihn kennengelernt hatte, auch schon gehandhabt.
Ich hatte mir nach unserem letzten Gespräch die Mühe gemacht seinen Namen zu googeln, denn mir war nicht klar, warum gerade er auf einen Aufschneider wie de Vries hereinfiel. Dass der verzweifelt war, sah man schon von Weitem. Andererseits hatte Berken vielleicht genau das interessiert. Laut Internet war sein Job in der Bank damals genauso kurzlebig gewesen wie meiner. Es scheint jedoch zu seinem Geschäftsmodell zu gehören, nie lange zu bleiben. Offenbar bot er seine Managementskills und Jurakenntnisse nur auf Provision und für kurze Zeit an.
Wir hatten uns damals nicht über den Job unterhalten - hatten eigentlich überhaupt nicht groß miteinander geredet -, aber hätte ich wetten müssen, hätte ich darauf gesetzt, dass wir uns in beruflichen Dingen stark unterschieden. Ich die Kunst, er das Geld. Dass ich alles für eine Stelle tun würde, die mehr als ein Jahr meine war und mir ein klein wenig Sicherheit bot, während er darauf überhaupt keinen Wert zu legen schien, überraschte mich.
Aber vielleicht hatte er seine Meinung zu dem Thema auch geändert, denn sein Vertrag hier schien nicht zeitlich begrenzt.
De Vries bezog um Schlag zehn Uhr seinen Posten hinter dem Podium. Heute trug er einen dunkelbraunen Anzug, der ihn kleiner erscheinen ließ, als er war. Aber die Krawatte saß, sein Haar war wie gewohnt frisch frisiert und die Brille farblich darauf abgestimmt. Er lächelte mir zu. Wie ich es von ihm kannte, war die Geste eher für sein Publikum bestimmt als für mich, also schenkte ich mir die Antwort.
De Vries stand hinter dem Pult, als gehörte er genau dort hin. Kein Vergleich zu seinem Vorgänger allerdings. Beide souverän, keine Frage. Aber während der vorherige Inhaber seine Souveränität der Tatsache zu verdanken hatte, dass er zu jeder Zeit gewusst hatte, was er tat, baute de Vries' Zuversicht ausschließlich darauf, dass er glaubte, es zu wissen.
Auch ein Talent.
De Vries schlug zweimal mit seinem Hammer auf den Tisch, und ich schaltete den Beamer an, der die Katalogfotos direkt neben ihn an die Wand projizierte. Ab dem Zeitpunkt rauschte dieser Samstag den sprichwörtlichen Hang hinab, als wäre er auf der Flucht.
Die Hälfte der aufgerufenen Losnummern bekam kein Gebot, weder aus dem Saal noch in Form eines Vorgebots. Der Rest schaffte es nur selten über das angesetzte untere Limit hinaus.
Jedes Mal, wenn de Vries versuchte, den Preis durch Gebote am Tisch hochzutreiben, wo es keine Gebote gab, sah ich die Händler im hintersten Winkel des Saals sich Notizen machen. Früher hatten sie auf Höchstgebote gewettet. Heute darauf, wie viele Lügen de Vries in acht Stunden Auktion erzählte.
Berken schienen de Vries' verzweifelte Versuche, Verkäufe durch Mogeleien zu erzielen, ebenfalls aufzufallen. In der ersten halbstündigen Pause nahm er mich beiseite, bevor ich es zu dem Cateringwagen mit den Häppchen schaffte. Dabei war das Essen mein eigentliches Highlight an Tagen wie diesem. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, dass das hier die erste Auktion sein würde, während der ich mich nicht mit dem neuen Eigentümer stritt, weil er in aller Öffentlichkeit versuchte, Menschen zu betrügen. Ich hatte ihm die Regeln schon oft genug erklärt. Beim letzten Mal hatte man uns bis auf die Straße gehört. Ich ließ Berken abblitzen, indem ich einen Bieter in ein Gespräch übers Wetter verwickelte, bis die Pause vorbei war.
Nach dem letzten Zuschlag - oder in dem Fall: Nicht-Zuschlag, denn es hatte niemand den Fächer gehoben, als die letzte Losnummer aufgerufen worden war - leerte sich der kleine Saal zügig.
Silvie und Elena standen bereits eine halbe Stunde nach Abpfiff in Jacke und Stiefeln statt Kleid und High Heels vorn am Tresen.
Gewöhnlich wären jetzt noch Champagner und Fachgespräche angesagt. Stammkunden blieben gern länger und beobachteten den Abverkauf. Die Händler sowieso. Heute aber, wie das ganze Jahr schon: enttäuschte Stille.
»Wir hatten das schon mal besser drauf«, hörte ich Elena sagen, während ich am anderen Ende des Saals meinen Platz aufräumte. Ich sah kurz zu ihr rüber. Sie tastete unter dem Tresen nach dem Lichtschalter. Berken stand neben ihr und war so höflich, nicht darauf zu regieren, als sie beschämt über ihre eigene Aussage lachte. »Na ja, nicht so viel besser, aber die Stimmung war schon mal eine andere.«
Damals.
Als das Geld noch nicht ganz so gedrückt und der Spaß und die Aufregung an so einem Tag alles andere überwogen hatte.
»Wir gehen noch etwas trinken. Wenn Sie wollen, können Sie mitkommen. Ist direkt um die Ecke. Ein, zwei Händler werden auch da sein. Könnte nicht schaden, wenn Sie sie ohne . na ja, allein, meine ich, kennenlernen.«
Ohne de Vries, den die Händler bereits kannten und über den sie ein Urteil gefällt hatten, das nicht zu seinen Gunsten ausfiel. Wo war der Mann eigentlich? Ich hatte ihn oben in der Küche nicht gesehen. Wahrscheinlich hatte er die Flucht ergriffen, nachdem sich sein Publikum in Luft aufgelöst hatte.
»Matteo, bist du auch dabei?« Die beiden kreischten gespielt aufgeregt. Das war ein alter Witz zwischen uns, und es brachte mich zum Lachen, wie eingespielt die beiden waren. Mittlerweile hatten wir alle die richtige Dosis Fatalismus gefunden, damit Umstehende auf den plötzlichen Ausbruch an Freude gleichzeitig belustigt und misstrauisch reagierten.
Berken sah genau mit diesem Ausdruck auf dem Gesicht zwischen den beiden Frauen hin und her.
Über mir gingen die Lichter aus, gerade als ich meinen Laptop zuklappte und den Beamer ausschaltete. Jetzt leuchteten nur noch die zwei Bibliotheksleuchten im Schaufenster, die von außen betrachtet nur einen kleinen Blick in die Räume boten und Passanten eine lauschige Atmosphäre versprachen.
»Ich fahre direkt nach Hause«, meinte ich, kam zu ihnen nach vorn und schnappte mir ebenfalls meine Jacke.
»Ach komm schon«, stöhnten beide. »Noch einmal mit der Nordseebrise unsere Wunden lecken.« Noch ein Insider, den Berken nicht verstehen konnte, was in dem Fall vielleicht besser war. Die Nordseebrise war ein Cocktail, den unsere Stammkneipe nur für uns und extra für Tage wie diesen erfunden hatte. Zusammengebraut, sollte ich sagen. Der Rand war statt mit Zucker mit einer Mischung aus Meersalz und Pfeffer dekoriert und machte den Drink, der ganz passabel, wenn auch rumlastig war, fast untrinkbar. Damit war er nüchtern betrachtet meistens schlimmer als die Enttäuschung des Tages, wodurch er paradoxerweise dazu beitrug, dass uns alles nach dem ersten Schluck weniger schrecklich vorkam.
Ich schlüpfte in meine Jacke und sah Elena gespielt tadelnd an. »Nicht so voreilig. Eine Chance werden wir ja noch kriegen.« Denn eine Auktion würde es noch geben, bevor mein Vertrag hier auslief.
Ich fragte mich, seit wann es mir so leichtfiel, meinen Freunden ins Gesicht zu...