Schweitzer Fachinformationen
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Oktober 2018
Tamar Ciller fluchte und sprang aus seinem Schreibtischsessel auf. Er hatte sich am Teeglas verbrannt und dabei vor Schreck das starke, süße Gebräu über die Finanzübersicht des letzten Quartals geschüttet. Er griff nach einer Serviette und wischte den Tisch trocken. Zum Glück war nichts über seinen Anzug gelaufen. Aber die Tabellen waren hinüber, die Zahlen verwischt und unleserlich.
Er hatte schon das Telefon in der Hand, um seine Sekretärin um einen neuen Ausdruck zu bitten, aber dann legte er es zurück. Aishe war schon gegangen und er wusste auch ohne diese Tabellen, dass es seiner Firma schlecht ging, hundsmiserabel, um genau zu sein.
So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er seinen lukrativen Job in Deutschland aufgegeben, seine Aktienpakete zu Geld gemacht und alles in TurkBio investiert hatte, sein Unternehmen, von dem er noch immer hoffte, dass es eines Tages das führende Biotechnologie-Unternehmen im Nahen Osten, mindestens aber in der Türkei sein würde. Aber davon war er weiter entfernt als je zuvor.
Es gab keine Aufträge, abgesehen von den staatlichen Impfstoff-Bestellungen, aber mit denen war nichts anzufangen, denn die Verwaltung zahlte nicht. Mit der Privatisierung der Impfstoffproduktion war das Institut aus dem Blick der Beamten verschwunden. Dass Gehälter und Lieferanten zu zahlen waren, interessierte niemanden. Die Amtschefs, die man früher hatte schmieren können, waren jetzt für andere Geschäftsbereiche zuständig und außerdem verärgert, dass sie die Privatisierung nicht hatten verhindern können. Beschwerden verliefen im Sand.
Entnervt warf er die Serviette in den Papierkorb und trat ans Fenster. In der Ferne glänzte der Bosporus in der Sonne, ein Frachter nach dem anderen glitt langsam durch die Meerenge, und von der großen Brücke blitzten die Scheiben der Autos hinüber, die sich in endlosen Schlangen zwischen Europa und Asien hin und her schoben. Er hatte immer davon geträumt, wieder nach Hause zurückzukehren, als gemachter Mann, weg aus Deutschland mit seinen nasskalten, endlosen Wintern, seinen Vorschriften für alles und jeden, der schlechten Stimmung und den Vorurteilen.
Am Anfang hatte alles rosig ausgesehen. TurkBio zog in ein nagelneues Gebäude, die Mitarbeiter waren noch aus Institutszeiten ein eingespieltes Team, es gab Startkapital vom Staat, Steuervorteile und eine boomende Börse, nachdem die EU im Dauerstreit mit der Türkei eingelenkt hatte. Gute Leute waren auch zu kriegen, denn viele türkischstämmige Akademiker, die in Deutschland ausgebildet worden waren, zog es zurück in die Heimat, weil der Staat gerade kräftig in Forschung und Bildung investierte und es in Deutschland wirtschaftlich bergab ging. Die Zeitungen verglichen die Lage mit den dreißiger Jahren, als deutsche Emigranten in der Türkei für ein Aufblühen der Wissenschaft gesorgt hatten. Aber dann hatte sich gezeigt, wie zerbrechlich das Verhältnis zwischen Türkei und EU war: Es gab erneut Streitereien, Drohungen und Gegendrohungen, und seit dem Putsch, genauer gesagt, den Säuberungswellen, die darauf folgten, herrschte Eiszeit. Der Boom war vorbei, auch wenn die Zentralbank das Land mit billigem Geld überschwemmte. Zudem war allen schönen Worten über das Hightech-Land Türkei zum Trotz der Beamtenapparat noch nicht einmal im 20. Jahrhundert angekommen. Die Verwaltung lebte noch in Byzanz.
Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, betrachtete Tamar die lange Reihe der Schiffe, die durch die Meerenge zogen. So schlecht konnte es der Wirtschaft doch nicht gehen! Andererseits - was dort unten schwamm, waren Produkte der alten Industrien: Textilien, Motoren, Fahrzeugteile, Haushaltsgeräte. Biotechnologie aus der Türkei war Neuland, nichts für Investoren, die sowieso schon zögerten, wenn es um die Türkei ging. Sie warteten ab, wie sich die politische Situation entwickelte. Bis dahin fanden sie genügend Investitionsmöglichkeiten im restlichen Europa.
Zwar hatte Pierre Hadrout angebissen, ein libanesischer Investor, der rund um das Mittelmeer in Biotechnologiefirmen investierte, aber auch der hatte ihn nicht gerade mit Geld überhäuft. Zu allem Überfluss hatte er ihm einen Finanzchef vor die Nase gesetzt, aus dem er nicht schlau wurde.
Erst war er von dem neuen Mann begeistert gewesen. Toros Aldemir stammte aus der Türkei und hatte in den USA studiert. Seine Kompetenz und sein Netzwerk waren beeindruckend, aber ihm fehlte jeglicher Teamgeist: Er war verschlossen und wortkarg bis zur Schroffheit und schien nicht einmal zu bemerken, wie sehr er dadurch alle Mitarbeiter gegen sich aufbrachte.
Aishe, die junge Firmensekretärin, die sonst keine Probleme hatte, sich durchzusetzen, war eine Woche nach Aldemirs erstem Arbeitstag ins Chefzimmer gestürzt und hatte wutentbrannt ihre Kündigung auf den Tisch geknallt: »Dieser Mann ist kalt wie ein Fisch, und er verachtet mich! Das lasse ich mir nicht gefallen! Ich gehe, und zwar sofort.« Es hatte ihn Mühe gekostet, sie zum Bleiben zu bewegen: »Das gibt sich bestimmt«, hatte er gesagt. »Er war lange in den USA, da muss man so kühl sein.«
Dann hatte jemand herausbekommen, dass Aldemir Marathonläufer war, und die fünf Mitarbeiter, die jedes Jahr am Eurasia-Marathon von Üsküdar nach Beyoglu teilnahmen, hatten ihn hoch erfreut zum gemeinsamen Training eingeladen. Aldemir hatte sie bedenkenlos brüskiert: »Ich trainiere grundsätzlich allein.«
Auf Cillers Bitten, ein wenig mehr Teamgeist zu zeigen, hatte Aldemir nicht reagiert, und nach wie vor beteiligte er sich nicht an Geselligkeiten, Festen oder gemeinsamen Mittagessen. Verheiratet war er nicht, eine Freundin schien er auch nicht zu haben und über seine Familie wusste man nichts - kurzum, die Mitarbeiter hatten begonnen, ihn zu hassen. Es verging keine Woche, ohne dass Aishe ihm voller Empörung neue Zusammenstöße berichtete, die sie oder andere Mitarbeiter mit Aldemir gehabt hatten. »Wenn das so weitergeht«, hatte Aishe gesagt, »werden wir etwas unternehmen!«
Tamar hatte erstaunt die Augenbrauen gehoben: »Was zum Beispiel?«
»Wir . ich«, hatte sie gestottert und einen roten Kopf bekommen, »wir . wir werden alle kündigen!«
Er strich sich mit beiden Händen über die Schläfen. Was sollte er machen? Ohne Aldemir hätte es kein Geld gegeben, und was noch wichtiger war, der Neue kannte sich in der Branche aus und hatte gute Verbindungen zur EU-Bürokratie. Diese Kontakte spielten die größte Rolle für TurkBio, denn Fördermittel aus den EU-Töpfen standen mittlerweile auch türkischen Unternehmen zu. Ausgezahlt hatte sich das bislang jedoch nicht. Aldemir hatte Zusagen erreicht, aber dann bewegte sich nichts mehr, weil es politische Reibereien zwischen der EU-Kommission, den Mitgliedsländern und der türkischen Regierung gab. Immer wieder wurden die Anträge auf Eis gelegt, Zahlungen verzögert und neue Unterlagen angefordert. Das ging nun schon seit Monaten so.
Bevor Hadrout eingestiegen war, hatte Tamar einige Lieferanten um Zahlungsaufschub bitten müssen, aber selbst mit der Finanzspritze von Hadrout war absehbar, dass es in spätestens einem halben Jahr wieder eng werden würde, falls nicht endlich Fördermittel kamen. Im schlimmsten Fall müsste er den Libanesen erneut um Geld bitten. Aber je mehr der investierte, desto größer wurde auch sein Besitzanteil an TurkBio, und Tamars eigener Anteil wurde kleiner. Schon der Gedanke daran ließ seinen Blutdruck steigen. Er war es doch, der das Unternehmen aufgebaut hatte, es waren seine Ideen, seine Patente, seine Initiative, die dieser Firma Leben eingehaucht hatten! Er würde das nicht preisgeben, auch wenn dieser Libanese ihn vor dem Bankrott gerettet hatte.
Missmutig wandte er sich vom Fenster ab, kehrte zum Schreibtisch zurück und stopfte die nassen Blätter der Finanzübersicht in den Reißwolf unter seinem Schreibtisch. Die Maschine sprang kraftvoll an, doch Sekunden später fraß sich der Mechanismus fest. Mit einem tiefer werdenden Knurren erstarb der Motor. Ein wütendes Summen noch, dann flogen die Sicherungen heraus. Der Computer zischte und der Bildschirm wurde schwarz.
Mit einem Wutschrei trat Ciller den Reißwolf um. Kunststoff splitterte. Ciller setzte nach und gab auch dem metallenen Papierkorb unter seinem Schreibtisch einen Tritt, sodass er quer durch das Zimmer schoss und auf der polierten Platte des kleinen Tisches in der Besprechungsecke landete. Dort hinterließ er einen tiefen Kratzer. Ciller war jetzt so in Rage, dass er einen der Sessel umstürzte und wie von Sinnen am Regal mit den Aktenordnern rüttelte, bereit, alles aus dem Fenster zu werfen, weit weg, am liebsten in den Bosporus.
Erst als ihm ein dicker Ordner auf den Kopf fiel,...
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