Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es ist nach wie vor ziemlich kompliziert, heutzutage von Westdeutschland nach Ostdeutschland zu fahren, etwa von Hamburg nach Leipzig oder - in der umgekehrten Richtung - von Möckern nach Barmbek. Wer einen von Staats wegen anerkannten triftigen Grund für seine Reise hat, kann natürlich ohne allzu große Umstände von der BRD aus per Eisenbahn oder Auto in die DDR einreisen. Wer dort allerdings ohne Wissen der Behörden unterwegs ist, dazu noch zum allerersten Mal, schleppt verständlicherweise immer einen Zentner Angst mich sich herum.
Trimmel stellt da wahrhaftig keine Ausnahme dar: an der Leipziger Autobahn-Tankstelle Merseburger Straße wartet er mit äußerst gemischten Gefühlen auf das Taxi, das ihn in die Stadt bringen soll. Es ist September und weder zu warm noch zu kalt, aber Trimmel schwitzt Blut und Wasser . an der gegenüberliegenden Tankstelle steht ein Vopo-Streifenwagen, und zum erstenmal in seinem Leben hat der Polizist Paul Trimmel Manschetten vor der Polizei. Dann aber geht er, frech und gottesfürchtig, mit lässig übergehängter Jacke, von der Autobahn zur Merseburger Straße hinunter, der alten Reichsstraße 181.
Ein häßliches hellgrünes Auto kommt aus Richtung Leipzig; es ist tatsächlich das Taxi, das der Tankwart oben, ohne viel zu fragen, für Trimmel bestellt hat. Ein älterer Wartburg mit einem zurückklappbaren Schild hinter der Windschutzscheibe - Trimmel gibt dem Fahrer ein Handzeichen, und der Wagen rollt vor ihm aus. Gleichzeitig sieht Trimmel aus dem linken Augenwinkel, daß sich die Besatzung des Polizeiwagens nach wie vor nicht für ihn interessiert. Und dennoch . Völlig überflüssig, aus lauter Nervosität, fragt er: »Taxi?«
Der Fahrer nickt. »Tach, Tach. Wo soll's denn hingehen?«
Er sächselt gar nicht, denkt Trimmel. »Ich muß nach Leipzig rein, einen Keilriemen kaufen. Meiner ist gerissen .«
Der Fahrer wiegt bedenklich den Kopf. »Da werden Sie aber Schwierigkeiten haben ausgerechnet am Samstag, auch, wenn gerade Messe ist .«
Aber Trimmel, den die Vopos oben neben der Tankstelle immer nervöser machen, ist schon auf den Beifahrersitz geklettert. »Wir müssen es wenigstens versuchen. Fahren Sie mich am besten zur Marschnerstraße. Ich kann ja hier nicht übernachten.«
Der Taxifahrer hat bei so viel Ortskenntnis weiter keine Einwände mehr, und Trimmel atmet auf, als der Wagen anfährt. Sie wenden ein Stück weiter mitten auf der Fahrbahn, obgleich auf der Straße ziemlich viel los ist, und fahren dann zurück in Richtung Stadt.
»Keilriemen«, sagt der Fahrer, mehr zu sich selbst, »damit könnt ihr doch die Straße pflastern im Westen .«
Anschließend schweigt er, und Trimmel verkneift sich jede Antwort.
Immer geradeaus in Richtung Zentrum; wenig Gegenverkehr, aber viel Verkehr in derselben Richtung und kaum eine Lücke zum Überholen. Eine ziemlich trostlose Gegend. Sandberg. Rückmarsdorf. Nicht allzu viele Häuser, noch weniger Ortschaften .
Der Fahrer hat einen riesigen Adamsapfel, fast schon einen Kropf, und entweder redet er deshalb nicht, oder er weiß nicht so recht, was er mit seinem ungewöhnlichen Fahrgast anfangen soll. Als er von Trimmel eine Marlboro angeboten bekommt, steckt er sie sich wortlos hinter das Ohr und zündet sich eine DDR-Zigarette an.
Endlich eine Belebung: ein Friedhof zur linken Hand. »Lindenau!« sagt der bis dahin so schweigsame Taxifahrer.
Aber dann geht es zügiger, und der große Adamsapfel hüpft dreimal auf und ab: »Links die Musikalische Komödie!« Gleich dahinter biegt das Taxi scharf links ab. »Die kleine Luppe!« Sie passieren eine winzige Brücke. »Das Elsterbecken!« Eine größere Brücke - die Zeppelinbrücke .
Also, sagt sich Trimmel, müßte der Gebäudekomplex vorn rechts, der sowohl an Hitlers Reichskanzlei als auch an ein Stück Stalinallee im Grünen erinnert, die Deutsche Hochschule für Körperkultur sein. Trimmel war noch nie hier, auch nicht als sehr junger Mensch, als es noch einfacher war, Leipzig kennenzulernen. Aber er hat sich seine illegale Strecke sehr genau eingeprägt, bevor er losgefahren ist - sein erstes Etappenziel müßte er gleich erreicht haben.
Die Straße wird durch einen Trambahn-Gleiskörper in zwei Fahrbahnen geteilt, und gleich rechts kommt tatsächlich die Intertankstelle Marschnerstraße ins Bild.
»Da wären wir!« sagt der Fahrer.
Trimmel nickt. Die Taxiuhr ist nicht eingeschaltet gewesen, und er fragt scheinbar verlegen: »Kann ich Ihnen Westgeld geben, oder soll ich irgendwo wechseln?«
Der Fahrer sieht ihn ziemlich schräg von der Seite an. Wahrscheinlich hat er Angst, sein Fahrgast könne ein Spitzel sein. Allerdings kann er Westmark, gerade jetzt zur Messezeit, auch sehr gut gebrauchen . und am Ende sagt er diplomatisch: »Es macht zwölf Mark!«
Trimmel hat sich sagen lassen, daß sie hier in der »Zone« lieber westliche Münzen als westliche Banknoten haben; also legt er dem Mann drei bundesrepublikanische Fünfmarkstücke in die offene Hand. »Stimmt so. Das heißt« - er kramt in seiner Jackentasche und holt ein weiteres Geldstück, ein Zweimarkstück, heraus - »Sie könnten mir einen Gefallen tun und ein paar Groschen einwechseln!«
Diesmal zögert der Fahrer zwar noch einen winzigen Moment, wirkt aber lange nicht mehr so mißtrauisch wie zuvor. Er steckt die zwei Mark ein, holt sein Portemonnaie heraus und zählt Trimmel zwanzig blecherne Zehnpfennigstücke in die Hand. Und ärgerlicherweise macht er gleich darauf Anstalten, auszusteigen und Trimmel bei seinen Intertank- Keilriemen-Verhandlungen behilflich zu sein .
Hastig sagt Trimmel: »Lassen Sie doch! Wenn ich das Ding hier nicht kriege, geh' ich erst mal Kaffee trinken!«
Da endlich fährt der Mann mit dem Fast-Kropf davon. Seinen Fahrgast zu fragen, ob er ihn später nicht zur Autobahn zurückbringen soll, hat er sich anscheinend doch nicht getraut.
Und Trimmel ist allein in Leipzig, zwei oder drei Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt, dem größten Kopfbahnhof Europas, auf den die Leipziger angeblich viel stolzer sind als auf ihr Völkerschlachtdenkmal .
Es ist ziemlich viel los an der Tankstelle. Er greift sich einen jungen Mann und fragt: »Haben Sie Keilriemen?«
Der Junge sieht ihn leicht verstört an und holt einen Meister.
»Für welchen Wagen denn?« fragt der Meister.
»Einen Ford«, sagt Trimmel, »siebzehn Emm .«
»Kenn' ich«, nickt der Meister, »ich glaub', da können wir Ihnen sogar helfen!«
»Wär ja zu schön .« meint Trimmel dankbar; insgeheim hofft er, daß der Keilriemen, den er eigentlich gar nicht benötigt, später keinem anderen fehlt.
Der Meister ist inzwischen ins Lager gegangen und kommt mit dem Ersatzteil zurück. »Der müßte passen. Sagen Sie dem Mechaniker, er soll notfalls die Lichtmaschine was versetzen. Macht« - er muß kurz überlegen - »acht Mark!«
Acht Westmark natürlich. Hier ganz offiziell und devisenbringend nach Vorschrift. Die Intertank-Kasse gibt zwei westdeutsche Markstücke heraus und eine Maschinenquittung. Trimmel, inzwischen etwas sparsamer mit seinen westdeutschen Kröten - es sind schließlich seine eigenen - gibt diesmal nur eine Mark Trinkgeld. »Wiedersehen!« sagt er und schlendert davon.
Er geht bis zur Ecke Friedrich-Ebert-Straße und wartet dort, bis die Linie 13 kommt. In die steigt er ein und kramt absichtlich lange in seinen Taschen; schließlich legt er dem geduldigen Schaffner seine Schlüssel, einen Taschenkamm und außerdem einen Haufen DDR-Zehnpfennigstücke auf das Zahlbrett. »Wilhelm-Leuschner-Platz!«
Der Schaffner tut ihm den Gefallen und sucht sich das Fahrgeld heraus, nämlich genau zwei Blechgroschen .
Aber jetzt muß Trimmel aufpassen, daß er die richtige Haltestelle nicht verpaßt. Und wieder geht's einfacher, als er es sich vorgestellt hatte: die Bahn hält, der Schaffner winkt ihm zu, und das Schild draußen - Wilhelm-Leuschner-Platz - ist außerdem unübersehbar.
Trimmel steigt aus: Messe überall, ein fürchterliches Gedränge. Hunderttausend Fähnchen wehen, und an jeder freien Ecke werben Parolen für die Völkerverständigung. Er ist im Zentrum: vor ihm steht das Neue Rathaus mit der Pleißenburg, in der sich Martin Luther und Doktor Eck ihren berühmten Disput über die Katholiken und die späteren Protestanten lieferten. Hinter ihm - er dreht sich um - die Kuppel des alten Reichsgerichts, der Stätte so vieler weiser und nicht ganz so weiser höchstrichterlicher Entscheidungen .
Geschichte allerorten. Aber Grünspan ist keineswegs immer ein Zeichen für Glanz und Gloria. Und eine Geschäftsauslage hier sieht aus wie die andere, auch zur Messezeit.
Diesmal, immerhin, kommt ein moderner Doppeltriebwagen - eine Tram ohne Schaffner, die Straßenbahnlinie 28 nach Markkleeberg. Trimmel steigt als letzter ein: manche Fahrgäste, beobachtet er, gehen einfach durch ins Wageninnere, andere stecken zwanzig Pfennig in einen Automaten und ziehen einen Fahrschein heraus. Er macht es wie sie . wieder hat er was gelernt. Und vorübergehend fühlt er sich fast schon ein bißchen heimisch: auch in der Bundesrepublik haben Friedrich Ebert und Wilhelm Leuschner bei Straßenbenennungen Pate gestanden, denkt er, und die Leute sind freundlicher, als ich es mir vorgestellt hatte - der Taxifahrer zumindest, der Intertankmeister und der Schaffner in der vorigen Bahn. In dieser hier haben die meisten Menschen verschlossene...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.