A. Ouvertüre
Die Kunst zu überleben: Familie Tiblan
Von Eric D. U. Gutierrez
Wahid Tiblan wurde um 1940 in Pangutaran geboren, einer Inselgemeinde im Sulu-Archipel im Süden der Philippinen nahe Borneo und Malaysia. Pangutaran weist eine lange Geschichte von tödlichen Clan-Fehden zwischen Einheimischen und überwiegend Tausug sprechenden Siedler:innen auf, die von anderen Inseln des Archipels stammen. Tiblans Kinder geben sein Alter mit 84 Jahren an, doch er bestreitet dies und behauptet, er sei beinahe 90. Er erklärt, dass sie sich über sein Alter nicht sicher sind, weil in Pangutaran früher Geburtstage nicht gefeiert wurden. Erst im Alter von 74 Jahren erhielt er eine Geburtsurkunde - sein geschätztes Alter, das seine Söhne bei der Registrierung im Jahr 2014 angaben. Diese Schätzung beruhte auf seiner Erinnerung, dass seine älteste Tochter 1960 geboren wurde und er mit 20 Jahren heiratete.
Das Alter ist ein häufiges Diskussionsthema in der Familie, denn alle 12 Kinder von Wahids zwei Ehefrauen (neun von der ersten und drei von der zweiten) ließen sich ihre Geburtsurkunden erst ausstellen, als sie bereits erwachsen waren. Die Registrierung erfolgte nacheinander, weil eine Geburtsurkunde - ein grundlegender dokumentarischer Nachweis der Existenz als Bürger:in - für die Bearbeitung ihrer Landansprüche in Matangguli benötigt wurde. Matangguli bildet mit 35 weiteren Inseln die Gemeinde Balabac an der Südspitze der Provinz Palawan, die im Norden des Sulu-Archipels liegt. Hier hat sich die Familie seit 1974 niedergelassen; das siebte bis zwölfte Kind wurde in Matangguli geboren.
Das Fehlen von Dokumenten ist typisch für die meist auf dem Meer lebenden Sama, zu denen die Tiblans gehören, die weit weg von Städten und Verwaltungszentren wohnen. Sie bauen ihre Häuser meist auf Stelzen ins Wasser an der Küste, wo sie ihren Lebensunterhalt mit Fischfang und dem Anbau von Seetang verdienen. Die Sama sind eine indigene Gruppe des Sulu-Archipels. Untergruppen bilden die Sama-Bajau, die als Nomaden auf See leben, die ebenfalls auf See lebenden, aber in Siedlungen wohnenden Sama-Dilaut und die an Land lebenden Sama-Bangingi.
Ihre mangelnde zivile Registrierung schafft für die meisten Sama eine Trennung zwischen denjenigen, die über Dokumente verfügen und theoretisch Rechte und den Schutz des Staates beanspruchen können, und solchen wie den Tiblans, die für den Staat unsichtbar sind und oft als Außenseiter gelten. Doch es gibt noch weitere soziale Trennlinien, mit denen die Tiblans zu kämpfen haben. Sie sind auch Flüchtlinge, extrem arm und werden von ihren muslimischen Mitbürger:innen oft als »nicht-muslimisch genug« angesehen.
Leben als Flüchtlinge
Wie die Familie nach Matangguli kam, ist eine Geschichte für sich. Im Jahr 1969, als das ältere Ehepaar Tiblan bereits fünf Kinder hatte, verließen sie Pangaturan überstürzt, um den Kämpfen zwischen verfeindeten Clans zu entkommen. Sie zogen nach Tawi-Tawi, einer weiteren Inselgruppe in der Region, wo sich Verwandte und Sama-Kollegen aufhielten. Als kundiger Bootsbauer und Schmied baute Wahid das Haus für die Familie auf die für die Sama typische Weise im Wasser. Sie begannen mit dem Anbau von Seetang, Wahid brachte seinen Kindern das Fischen bei und gab ihnen Äxte, mit denen sie Brennholz schlagen und an Haushalte verkaufen konnten.
Doch auch Tawi-Tawi geriet in einen Konflikt. Als 1973 die Kämpfe zwischen den sezessionistischen Moro-Rebellen und dem philippinischen Militär eskalierten, wurde der philippinische Marinekommandeur zum Gouverneur von Tawi-Tawi ernannt und die Provinz damit faktisch unter Militärverwaltung gestellt. Als sich der Konflikt im Februar 1974 zuspitzte, schloss sich die Familie Tiblan dem Exodus muslimischer Flüchtlinge an, die nach Sabah in Malaysia und anderswo umzogen. Mit ihren sechs Kindern landeten die Tiblans schließlich in Matangguli in der Provinz Palawan.
Neuer Erwerbszweig
Als die Familie sich dort niederließ, baute sie ein neues Boot, ein Haus und fertigte Leinen und Netze für den Anbau von Seetang an. Sie befanden sich nicht nur in einer unbekannten Umgebung, sondern verfügten auch über keine Verwandten und kein soziales Netz, auf das sie sich verlassen konnten, und beherrschten die Lokalsprache nicht. Sie waren Flüchtlinge ohne Papiere, die nach Wegen suchten, um zu überleben. Daher traf die Familie eine strategische Entscheidung: Sie beschloss, brachliegendes Land tiefer im weitgehend flachen Landesinneren von Matangguli zu bewirtschaften - wie andere Siedler, die sich bereits in der Nähe der Küstenlinie niedergelassen hatten. Mit Spitzhacken fällten sie von Hand Bäume, um eine Brandrodung (kaingin) anzulegen, rodeten die restliche Vegetation und brannten dann das Feld und die Baumstümpfe ab, um die Anbauflächen vorzubereiten.
Die Tiblans begannen mit dem Anbau von kamote (Süßkartoffeln), cassava und kamoteng baging (wildem Maniok). Außerdem pflanzten sie Kokospalmen und bauten Tiefbrunnen für ihren Süßwasserbedarf. Anfänglich bewirtschafteten sie sieben Hektar, später kamen weitere fünf Hektar hinzu. Als die Familie wuchs, begannen die erwachsenen Kinder mit ihren eigenen Brandrodungen. Sie pflanzten zwei Kokospalmen, die ein X bildeten und die Grenze markierten. Insgesamt beansprucht die Familie 30 Hektar.
Diversifizierung des Lebensunterhalts
Das Leben war hart und die Familie musste oft hungern. Manchmal suchten sie nach Reben, die sie kochten, um sie essbar zu machen. Zudem tauschten sie Hackfrüchte gegen Haushaltsbedarf wie Zucker und Speiseöl ein. Als El Niño (ein Wetterphänomen im Pazifik, das zu Hitze und Dürre führt - Hg.) zuschlug und sie ihre Ernten verloren, mussten die Tiblans sechs Monate lang hungern und sich hauptsächlich von Bananen ernähren. »Ich dachte, ich würde dieses Alter nie erreichen«, sagt Wahid.
Der Haushalt kämpfte auch mit Malaria und anderen Krankheiten. Glücklicherweise war Wahid ein eifriger Lerner, der die Kräuter und Behandlungen auswendig kannte, die seine Eltern und die Ältesten einst in Pangutaran anwandten. Dass alle Kinder und Enkelkinder der Tiblans trotz ihrer bitteren Armut noch am Leben sind, erfüllt den älteren Tiblan mit Stolz. Der Zugang zu Kräutern und Heilpflanzen im Landesinneren ist auch ein Grund dafür, dass die auf dem Meer lebenden Tiblans ihre Anbauflächen behalten haben.
Die Überlebensstrategie der Familie bestand darin, mit ihrer Arbeit Geld zu verdienen. Alle Kinder und Enkelkinder mussten ihren Teil beitragen. Wahid stellte Boote aus den von ihnen gefällten Bäumen her. Er erinnert sich, dass er ein Boot, das er zwei Monate lang in Handarbeit hergestellt hatte, gleich nach ihrer Ankunft für 700 Peso (ca. 11,40 ?) verkaufte. Ein ähnliches Boot, sagt er, würde heute leicht 100.000 Peso (ca. 1700 ?) einbringen. Er betätigte sich auch als panday (Schmied), der Eisenbeschläge an Fischerbooten anbrachte.
In den späten 1980er-Jahren erfuhr die Familie von den Einkommensmöglichkeiten in Rio Tuba, der geschäftigen Bergbaustadt auf dem Festland von Palawan. Die älteren männlichen Kinder fanden Tagelöhnerjobs als estibas (Stauer) im Hafen von Rio Tuba. Die jüngeren Kinder boten puto - Küchlein aus Reis- oder camote-Mehl, Fisch am Stiel, gesüßte camote und andere Snacks an. Auf dem Markt verkauften sie Seetang für drei Peso (ca. 0,50 ?) pro Kilo. Dies brachte sie in engeren Kontakt mit Händlern und anderen Muslimen. Da Wahid als Heiler auch Paare beriet, bei Streitigkeiten vermittelte und sogar Ehen segnete, wurde er bald als Imam angesehen - als religiöser Führer und »Hauptmann«.
Da die Arbeitsmöglichkeiten und die sozialen Netzwerke sie zunehmend nach Rio Tuba zogen, beschloss die Familie, in der Stadt eine Wohnung zu beziehen. Die Entfernung von Matangguli nach Rio Tuba beträgt etwa 25 Seemeilen. Mit einem Paddelboot mit kleinem Segel benötigte man bei gutem Wind in der Regel vier Stunden. Andernfalls musste man eine ganze Nacht lang hart paddeln. In der Stadt gab es jedoch keine Freiflächen, auf denen »Inselbewohner«, also Außenstehende wie sie, lagern oder eine Behausung errichten konnten. Alle Familienmitglieder gingen einer informellen Beschäftigung nach und standen nicht in der Verantwortung eines Arbeitgebers. Keines der Mädchen wurde als mit-wohnende Hausangestellte akzeptiert - vermutlich aus Misstrauen. Zwar wurde ihre Arbeitskraft gebraucht, aber sie waren eine sozial ausgegrenzte Minderheit.
Also baute die Familie ein Haus über dem Wasser - ein öffentlicher Raum, in dem sie als Außenseiter leben konnten. Das Leben gestaltete sich damit praktischer, da sie dort Angelhaken auslegen und den Seetang lagern konnten, den sie aus Matangguli mitgebracht hatten. »Unang-una kami doon« (»Wir waren die Ersten dort«), verkündete Wahid. Innerhalb weniger Jahre wurde ihr Haus auf Stelzen von Dutzenden anderer Häuser umringt, in denen einige sogar Restaurants eröffneten - alle angezogen von den Möglichkeiten, die Rio Tuba für den Lebensunterhalt bot. Als die Gemeinschaft der taong-dagat (Meeresbewohner) expandierte, brannte das Gebiet nieder. Sinunog (Brandstiftung) meint Wahid und denkt wie viele andere, die sei absichtlich passiert.
Die Tiblan-Kinder leben mittlerweile verstreut. Einige Kinder und Enkelkinder befinden sich noch in Matangguli, wo sie Seetang züchten und ihre Parzellen für den Anbau von Hackfrüchten bewirtschaften. Zwei sind in Tawi-Tawi in der Seetangzucht tätig. Weitere...