Schweitzer Fachinformationen
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Körper an fremdem Körper. Auf seiner Oberlippe wächst ein Schnurrbart aus feinen Schweißperlen, sein Rücken wird feucht unter der Daunenjacke. Thomas zieht die Schulter hoch und wischt den Schweißbart in den Stoff seiner roten Jacke, es bleibt ein dunkelroter Fleck. Die Subway ruckelt in den Kurven. Menschen stehen so nahe aneinander, dass sie nicht umfallen können, und schwanken in einem gemeinsamen Rhythmus. Thomas klammert sich an der Haltestange fest.
Es ist das erste Mal, dass er allein in der New Yorker Subway fährt. Ohne C. Ohne seine Frau. Er hat sich noch nicht daran gewöhnt, sie so zu nennen: meine Frau. Der neue Ring an seinem Finger glänzt golden und ungewohnt vor dem grauen Stahl der Haltestange. Amerikaner tragen den Ehering links, Thomas jetzt auch. Er hat ihn direkt nach dem Umzug vom rechten Ringfinger an den linken Ringfinger gesteckt. Er fühlt sich roh allein in der Subway, als würde ihm ohne C. eine Schicht Haut fehlen. Alle Eindrücke prasseln auf ihn ein, dringen in ihn ein, ohne Schutz. Der Geruch. Nasse Haare, Schweiß, Mottenkugelmuff. Das Quietschen der Subway. Die Körper, die sich in jeder Kurve und bei jedem Bremsen aneinanderdrücken. Die große neue Stadt ist ein Gefühlsverstärker für ihn, fast wie Alkohol. Und wie Alkohol wirkt der Verstärker noch stärker, wenn Thomas alleine ist. Er kann kaum atmen vor Gefühl, aber er kann es nicht benennen, er ist glücklich und traurig zugleich.
Das Blut läuft langsam aus seiner Hand, die die Haltestange umklammert. Sein Jackenärmel rutscht hinab, legt sein rechtes Handgelenk und die alte Narbe daran frei. Sie ist noch immer rosafarben nach all den Jahren. In der Mitte der Narbe eine Schlucht, die sich in sein Gewebe hineingräbt, fast lila wie ein Rotweinfleck. Die Haut darüber pergamentdünn und glänzend, mit feinen Falten. Wie Seitenflüsse in einem Flussdelta quellen winzige Narbenverästelungen aus dem tiefen Narbengraben hervor. Diese Verästelungen haben wiederum winzige zackige Narbenzuflüsse, sie werden immer kleiner, immer heller, bis man nicht mehr weiß, ob das noch Narbenhaut oder schon heile Haut ist. Die Narbe zieht sich um sein gesamtes Handgelenk, er sieht sie ständig vor sich. Wenn er schreibt, wenn er sein Handy aus der Tasche zieht, wenn er Fahrrad fährt. Trotzdem erschreckt sie ihn, auch nach all den Jahren. Der Unfall, die Wogen, das schwarze Meer, die Schreie, die Gischt, das Blut, die Angst.
»Next stop, Union Square«, rauscht es durch den Lautsprecher. Thomas blickt hinab auf all die Köpfe, Mützen und Frisuren, er ist der Größte hier. Hoffentlich stinken seine Achseln nicht durch seine Jacke hindurch. Direkt unter seinem Arm klammert sich eine Frau mit brauner Perücke, dicker, schwarzer Strumpfhose und langem schwarzem Rock an die Haltestange, die Knöchel ihrer Hand treten weiß hervor. Vor ihm wankt ein Mann mit abgewetzten Nadelstreifen und Schuppen auf den Schulterpolstern im Rhythmus der Bahn. Ein alter Mann versucht im Stehen eine chinesische Zeitung zu lesen. In der hinteren Ecke des Abteils ist fast niemand, lediglich ein Obdachloser liegt auf der gelben Plastiksitzbank. Er trägt nur einen Schuh, und sein linker Fuß hängt in einer schmutzigen Socke von der Bank hinunter. Sein säuerlicher Geruch zieht zu Thomas hinüber. Je näher man ihm kommt, desto betäubender ist der Gestank. Thomas ist beim Einsteigen an ihm vorbeigegangen und hat sich so weit weg von ihm durch die Menge gedrängt, wie er nur konnte. Der Mann tut ihm leid, aber er ekelt sich auch vor ihm. Ob er merkt, dass die Menschen ihn abstoßend finden? Keiner will in seiner Nähe bleiben. Ich weiß nichts von all diesen Menschen, denkt Thomas. So viele Fremde. Zu Hause waren die Fremden auch fremd, aber er konnte sich besser vorstellen, wie sie leben. Ein fremder Rucksack drückt Thomas' Jacke in seinen feuchten Rücken, der Schweiß läuft langsam hinab, Tropfen für Tropfen. Wo ist C. wohl gerade? Er lässt seinen Ehering gegen den Stahl klingen.
Die Subway jault und bremst abrupt. Thomas geht kurz in die Knie und spürt einen Ruck in seiner Schulter, seine feuchte Hand klammert weiter an der Haltestange. Eine Frau stolpert gegen seine Brust, ihr schwarzes Haar streicht über sein Kinn. Thomas spürt ihre Brüste durch seine Jacke hindurch. Sie strauchelt, er greift ihren Arm und hält sie fest. »I'm so sorry«, sagt sie und streicht sich die Haare hinter die Ohren. Sie ist um die dreißig, etwa so alt wie er. »Are you okay?«, fragt er. Sie nickt und blickt zu ihm hinauf mit den schwärzesten Augen, die er je gesehen hat. Auf ihrer Stirn schimmern feine Schweißperlen. Sie schwankt, als würde sie gleich ohnmächtig. »Geht schon wieder«, sagt sie, »keine Sorge.« Thomas rückt ein wenig zur Seite, damit sie sich festhalten kann. Sie steht so nah neben ihm, dass er ihren Scheitel sehen und ihr Shampoo riechen kann. Sie riecht sauber und merkwürdig vertraut. Die Bahn fährt mit einem Ruck wieder an.
Mit dem Ruck rutscht der Ärmel ihres Mantels hinab. Thomas zuckt zusammen. An ihrem schmalen Handgelenk frisst sich eine Narbe ins Gewebe, Millimeter für Millimeter identisch mit seiner. Er kennt seine Narbe genau, er hat sie jahrelang studiert wie eine Landkarte, er hat ihre Linien mit dem Kugelschreiber nachgezogen in langweiligen Vorlesungen an der Uni. Die Narbe der Frau hat die gleichen immer feineren Striemen, als habe jemand seine Narbe abgepaust und eine Schablone über ihr Handgelenk gelegt. Seine Narbe zieht sich um ihr linkes Handgelenk. Um sie herum cremeweiße, unschuldige Haut.
Thomas will etwas sagen, öffnet den Mund. »You«, flüstert er, »your .« Seine Kehle ist trocken. Er weiß nicht, was er sagen soll, und sagt darum nichts. Er will ihre Narbe berühren, lässt die Stange los und verliert die Balance. Die Frau blickt zu ihm empor mit ihren schwarzschwarzschwarzen Augen, ihr Blick wandert auf sein Handgelenk und seine Narbe. Sie muss ihre Narbe genauso gut kennen wie er seine, sie muss ihre als seine erkennen. Oder seine als ihre. Aber sie sagt nichts, ihr Gesicht bleibt unbeweglich, als würde sie durch sein Handgelenk hindurchschauen, dann wendet sie sich ab. Die Bahn bremst und fährt in die Station ein. Die Türen öffnen sich, die Frau drängt sich durch die Menge und steigt aus, ohne sich noch einmal umzudrehen. Thomas verliert sie sofort aus den Augen.
Der Unfall, die Wogen, der schwarze Himmel, das Meer, die Schreie, die Gischt, das Blut, die Angst. Wie kann sie die gleiche Wunde bekommen haben wie er? »Excuse me, excuse me«, ruft er, schiebt die anderen Menschen zur Seite und drängt sich zum Ausgang und springt gerade noch durch die Schiebetür, bevor sie sich schließt. Die Frau ist so klein, zwischen all den Menschen mit ihren Mützen und dicken Winterjacken kann er sie nicht ausmachen. Plötzlich entdeckt er sie auf der Treppe nach oben. Er eilt ihr hinterher, rempelt Leute an. »Fuck you, asshole«, schreit ihn jemand an. Er hat sie schon wieder aus den Augen verloren.
Thomas hetzt in die Richtung, in der er sie zuletzt gesehen hat. Was wird er sagen, wenn er vor ihr steht? Er bleibt stehen, sieht sich um, aber die Menschenmassen drängen ihn weiter. Er läuft hinab zum anderen Bahnsteig, sieht sie nicht, läuft wieder hinauf. Er stellt sich auf die Zehenspitzen, reckt den Hals, aber sie ist weg. Er lehnt sich gegen die weiße gekachelte Wand der Subway-Station. Neben ihm trommelt ein Mann auf leere Eimer, er hat keine Arme, winzige, krumme Hände wachsen direkt aus den Schultern, die Trommelstöcke hat er unter die Achseln geklemmt. Vor ihm ein Schild: Spenden, bitte. Eine Plastikschale voller Münzen und Dollarscheine. Sein haariger, dickbäuchiger Oberkörper ist nackt. Bumm, bumm, bumm. Viertel-, Achtel-, Sechzehntelnoten. Thomas schließt kurz die Augen. Sein Herz pocht bumm, bumm, bumm.
Vielleicht hat er es sich nur eingebildet. Vielleicht war es ein Zufall. Er läuft zurück zu seinem Gleis, um den nächsten Zug in seine Richtung zu nehmen. Er wollte ja gar nicht hierher zum Union Square. Einmal noch dreht er sich um, lässt den Blick über die Köpfe gleiten - und sieht ihre schwarzen Haare auf der Treppe zum Ausgang. Sie bleibt stehen, dreht sich um, lächelt ihm über all die fremden Köpfe und Schultern zu. Dann dreht sie sich um und geht die Treppe empor. Thomas rennt los, stößt gegen den Pappaufsteller der Zeugen Jehovas. »Hey«, ruft er ihr zu. Aber er ist zu weit weg.
Als er die obersten Stufen der Treppe erreicht, ist sie schon auf der anderen Seite der Straße. Es ist Rushhour, überall gelbe Taxis, Hupen. Es nieselt. Thomas sieht sie auf der anderen Straßenseite, er sprintet ihr nach, obwohl die Fußgängerampel gerade rot geworden ist. Reifen quietschen auf dem nassen Asphalt. Thomas hastet weiter. »Hey«, ruft er wieder, aber seine Stimme versinkt im New Yorker Straßenlärm. Die kleine Frau mit der Narbe dreht sich nicht um, sie geht schnell, die Schultern hochgezogen. Es ist ein kalter Märztag, feuchte Schneereste türmen sich auf dem Bürgersteig.
Er geht immer schneller, windet sich an den Menschen vorbei, aber auch sie zieht ihr Tempo an. Ob sie ihn gesehen hat? Sie dreht sich kein einziges Mal um, ihre Schritte sind leicht, fast als würde sie den Boden nicht berühren. Thomas kommt ihr kaum näher. Sie ist noch immer gut einhundert Meter vor ihm. Sie verschwindet immer wieder in der Menschenmenge, er rennt jetzt fast. Sie windet sich zwischen den Schachspielern auf dem Union Square hindurch, die hier selbst bei Regen sitzen und für Geld gegen Touristen spielen. Thomas ist vor ein paar Tagen gegen einen angetreten und hat in einer Minute und vierundzwanzig Sekunden verloren. Eigentlich ist er ein guter Schachspieler. Der...
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