Schweitzer Fachinformationen
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Erneut hinauf zum Sacro Monte und nicht wie vorgestern beim Torbogen umgekehrt, sondern das Gelände betreten und stundenlang umhergegangen, besummt, bezwitschert, umblüht, und die Natur bewundert und die zwanzig Kapellen bewundert und die rätselhafte Eintracht von Natur und Kapellen bewundert und auf einer Steinbank gesessen, zwischen den Schulterblättern die große Hand der Morgensonne.
»Monte Sacro - der entzückendste Traum meines Lebens« - seit ich eingetreten bin in die Ferienwohnung meines Vaters, weiß ich, wer sich so äußerte und so begreiflich äußerte, und wenn ich auch aller übertriebenen Ehrfurcht abgeneigt bin, habe ich heute morgen, als ich vor einer starken, uralten Buche stand, dennoch gedacht: Vielleicht hat er sie schon bestaunt. - Im kleinen Vorraum, an der Wand gleich gegenüber der Wohnungstür, hängt ein Plakat, und man muß zweimal schauen, bis die aus rostbraunen Flecken bestehende Abbildung zum Gesicht wird, das nur aus buschigen Augenbrauen, einer angedeuteten Nase und einem übertriebenen Schnurrbart besteht. Der Text lädt ein zu einer Feier mit Konzert, sabato 24 settembre 1983: »Nel centenario della visita di NIETZSCHE A ORTA.« - Am unteren Rand des Plakats - ich habe das eben erst entdeckt - steht in der winzigen Steilschrift des Vaters die Bleistiftnotiz: »Orta irrt: F. N. war 1882 da.« - Ich wunderte mich weniger über die mangelhafte Kenntnis der örtlichen Kurverwaltung, welche die Zentenarfeier mit einjähriger Verspätung hatte steigen lassen, als über das Wissen des Vaters, während mich sein Bedürfnis, es bleistiftbuchhalterisch zu dokumentieren - wenn auch nur für sich selbst - , eher belustigen würde, ahnte ich nicht, daß es sich dabei um den Ausläufer eines frühen, ziemlich verzweifelten und mit meiner Mutter zusammenhängenden Bildungseifers handeln könnte.
Herein! rief eine eher ferne Stimme, nachdem ich geklingelt hatte. Schon beim zweiten Besuch, dachte ich, kommt er mir also nicht mehr entgegen. Ich öffnete die Tür, trat verstimmt in den Gang, blieb horchend stehn und fragte: Wo bist du? - Noch für ein Weilchen im Bett, sagte der Vater. - Gut, sagte ich, dann halt ein andermal. - Julia, wie schön, daß du da bist, mach's dir bequem in der Stube, die Tür zu mir ist offen, wir hören uns ja, ich bin ja heillos wach. - Befangen stand ich in der Stube, blickte durch die halboffene Tür in sein Schlaf- und Arbeitszimmer, sah aber sein Bett nicht und ihn nicht, nur einen Peddigrohrsessel und einen Wäschewust darauf, ferner einen Teil des offenbar nicht sehr aufgeräumten Schreibtisches samt einem Fax-Gerät, aus dessen Ausgabeschacht eine bis auf den Boden fallende und auf dem Boden sich rollende Thermopapierschlange quoll. - Es ist umsonst, daß ihr früh aufsteht und hernach lang sitzt und euer Brot in Mühsal eßt, sagte der Vater. - Hm, antwortete ich. - Was nützt es, wenn ich heute mit Mundwasser gurgle und morgen erlösche? fragte der Vater. Ich fragte zurück, was er unter >erlöschen< verstehe. Er sagte: Zum Beispiel gähnend erfrieren. - Kalt genug wäre es, meinte ich. - Ja, sagte er, ein totgeborener Frühling. - Ob mir, fragte er übergangslos, der Name Pieter Bruegel etwas sage. - Meinst du den holländischen Maler? fragte ich. - Welchen? fragte der Vater. Ich schwieg, er nervte mich. - Es gibt nämlich zwei, sagte er, den Älteren und den Jüngeren, den sogenannten Bauernbruegel und den sogenannten Höllenbruegel, und der Höllenbruegel hat ein Bild des Bauernbruegel abgemalt, ich habe die Kopie vor Jahren in Vaduz gesehen und sofort wieder vergessen, und gestern nacht oder heute nacht sehe ich das Bild - es stellt fünf Blinde dar, die von einem sechsten Blinden geführt werden oder eher geführt worden sind, denn der Führer scheint eben gestolpert zu sein und liegt im Moment am Boden - , sehe ich das Bild wieder vor mir, in allen Einzelheiten, ich glaube sogar, im Hintergrund steht eine Kuh und eine Kirche, überhaupt, diese Flutwellen, diese Sturzbäche! - Was meinst du damit? fragte ich. - Die Erinnerungen! rief er, die plötzlichen Erinnerungen, sogar der Großvater ist wieder da, obwohl ich erst vier war, als er starb, am Schluckauf notabene, einer Abart des Ekels. - Ich setzte mich auf das Sofa und überlegte. Auch im Schlafzimmer blieb es still. Schließlich sagte ich: Du kannst dich also seit kurzem wieder an vieles erinnern, was du vergessen zu haben glaubtest. - Seit zwei Tagen an immer mehr, sagte er, einmal, vor etwa vierzig Jahren, habe ich Sissys Zitzen ein wenig berührt, Sissy hat sehr stillgehalten und ist der Dackel der Nachbarn gewesen, und plötzlich habe ich hinter der Scheibe des Küchenfensters das Gesicht der Nachbarin, Frau Knörr hat sie geheißen, auftauchen sehn, und danach bin ich tagelang gelähmt gewesen vor Scham und Angst, aber die Abrechnung, groß und vernichtend, ist ausgeblieben, die Nachbarin hat das Vergehen vermutlich nicht bemerkt, aber die unentdeckten Vergehen, so harmlos sie gewesen sind, haben mich immer am meisten beschwert, und nicht ein einziges Mal habe ich rasch und sorgenlos einschlafen können, vielfältige Nöte haben mich Abend für Abend dem lieben Gott in die Arme getrieben, du sorgst für alle, groß und klein, drum schlaf ich ohne Sorgen ein: mit dieser Beteuerung, mit dieser Lüge, die mir der liebe Gott wahrscheinlich auch noch verübelt und als letzte Tageskerbe ins Tageskerbholz geschnitzt hat, bin ich dann schließlich trotz allem eingeschlafen, aber über die Kindheit, sagte der Vater, könne, falls überhaupt, nur stammelnd gesprochen werden, die Kindheit sei, von Jugend und Alter abgesehen, die niederschmetterndste Lebensepoche und fast so niederschmetternd wie der namenlose Raum zwischen dreißig und sechzig. - Du, fragte ich nach einer Pause, kannst du dich zufällig auch daran erinnern, wie ich entstanden bin? - Schweigen im Nebenraum. - Oder frage ich wieder zur falschen Stunde? - Schweigen im Nebenraum.
Dann, ich erschrak, im Flur das Klingeln des Telefons. Ich regte mich nicht, er regte sich nicht. Nach dem zehnten oder zwanzigsten Läuten schrie Vater: Sie macht mich rasend, nimm bitte ab und sag, ich sei tot. - Ich ging hinaus, hob ab und sagte: Bei Steinbach. - Es war die Sekretärin des Sekretärs, also des Vaters, eine Frau Zell, die aufgeregt sagte, der Chef, Herr Doktor Dubs, wünsche Herrn Steinbach dringend zu sprechen. Das sei nicht möglich, sagte ich, Herr Steinbach sei extrem unpäßlich und viel zu schwach, um zu sprechen. - Eine Zumutung! Ein Ansturm! brüllte der Vater aus dem Hintergrund, so daß ich mit der Hand sofort die Sprechmuschel abdecken mußte. Ob Herr Steinbach, fragte Frau Zell, nicht wenigstens die dringlichsten Fax-Meldungen beantworten könne? - Kein Kommando mehr! brüllte der Vater, als hätte er alles mitbekommen. - War das nicht Herr Steinbach? fragte die Sekretärin. - Nein, sagte ich, es ist der Hausarzt. - Und darf ich höflich fragen, wer Sie sind? fragte sie. - Mein Name ist Stoll, antwortete ich, ich pflege Herrn Steinbach.
Das hätten wir, sagte ich, als ich wieder auf dem Sofa saß. - Braves Kind, sagte der Vater. - Die besten Genesungswünsche läßt dir Frau Zell ausrichten - und daß alles drunter und drüber gehe. - Schön, murmelte er, schaffiges Schattenvolk, murmelte er. - Und nun bist du an der Reihe, sagte ich mutig, du weißt, was ich meine. - Julia, sagte er, laß mir ein paar Minuten Zeit.
Ich stellte mich, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, vor Vaters Bücherregal, und meine Augen gingen langsam und neugierig zugleich über die Buchrücken, von links nach rechts, vom obersten bis zum untersten Tablar. Sehr Unterschiedliches war hier versammelt, und was noch zusammengehört hätte, zum Beispiel die Bände einer Taschenausgabe von Nietzsches Werken, stand vereinzelt irgendwo. Viel Philosophisches, auffallend viele Nachschlagewerke zu diversen Wissensgebieten, zahlreiche Biographien, ferner, vergammelt und fragmentarisch, ein wenig Goethe und Schiller, daneben die üblichen Buchclub-Sachen von Hesse bis Böll. Manchmal nahm ich einen Band heraus, wobei viel Staub aufflog, die Bücher rochen alt und waren es, es fand sich keines, das innerhalb der letzten zwanzig oder fünfundzwanzig Jahre erschienen war. Wohl aber stieß ich auf Spuren der Benutzung: auf Buchzeichen, Unterstreichungen und vor allem auf Ausrufezeichen. Das fetteste entdeckte ich, als ich in einem Wälzer blätterte, rot und entschieden bejahte es den Satz: »Die Wahrheit ist: wir sollen elend seyn, und sind's.« - Was tust du? rief plötzlich der Vater. - Ich schau mir deine Bücher an, sagte ich. - Gestrüpp, Gestrüpp! rief er, und leiser: Ich schien ihr zu gering, und es hat alles nichts geholfen. - Dann stand er unter der Schlafzimmertür, im schwarzen Bademantel, unrasiert, ich hatte keinen Anlaß zu erschrecken, er wirkte nicht gespenstisch, er wirkte hell. Mit Schritten, die man schon fast federnd hätte nennen dürfen, trat er auf mich zu und begrüßte mich warm. Dann setzte er sich an den Tisch, bat mich, auf der Couch Platz zu nehmen, und stützte sein graublond gestoppeltes Kinn mit der Faust. Es ist nicht leicht, sagte er, aber ich will es versuchen.
Ich sehe...
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