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Da unten wohnen sie also, die Träume. So sagt man doch, oder? Dass in dem Tal hinter der Bergkuppe, in diesen zahllosen Häusern und Straßenschluchten, zwischen denen hohe Palmen in den Nachmittagshimmel ragen, so viel geträumt wird wie nirgends sonst. Dass jede Zweite in dieser Stadt hofft, sie möge die Eine aus Millionen sein, deren Traum wahr wird. Ich lehne mich noch ein Stückchen weiter vor, presse die Nase an das ovale Flugzeugfenster, das sich kalt anfühlt. Betrachte die Ansammlung von Wolkenkratzern, die sich vor dem grün gesprenkelten Gebirgszug abheben.
Ein Gefühl macht sich in mir breit, das ich nur schwer deuten kann. Es zieht in meinem Magen, und eigentlich weiß ich längst, dass es nicht das Flugzeugessen ist, von dem ich nur wenige Bissen heruntergewürgt habe. Es ist auch kein Hunger. Es ist eine diffuse Angst, dass ich mich selbst in eine Situation gebracht habe, der ich nicht gewachsen bin. Ich bin noch nicht mal gelandet und fühle mich bereits verloren. Ich habe nichts gemeinsam mit den Menschen in der riesigen Stadt unter mir. Den Träumerinnen in den symmetrisch angeordneten Wohnvierteln, über die wir gerade fliegen. Ihre Träume sind nicht meine. Ich will vor keine Kamera, ich will nicht reich und erst recht nicht berühmt werden. Ich will einfach nur frei sein. Meine eigenen Entscheidungen treffen. So leben, wie ich es will. Ich dachte, dafür muss ich so weit wie möglich weg von dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Aber jetzt fühle ich mich plötzlich unendlich klein.
Ich spüre noch etwas in mir, es krabbelt in meinem Magen herum, zwischen dem durchaus vorhandenen Hunger und der Angst. Ich glaube, es ist Vorfreude. Was wird mich dort unten erwarten? Vielleicht das größte Abenteuer meines bisherigen Lebens? Schon bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, wird mir übel. Vom Flug kann es nicht kommen, die Maschine gleitet geschmeidig über die unendliche Stadt. Im Ernst, Los Angeles ist unendlich, ich sehe keinen Anfang und kein Ende, nur Häuser, Häuser, Häuser. Angestrahlt vom Sonnenlicht wie von tausend Scheinwerfern. Wieder schwappt Übelkeit in mir hoch. Das kommt bestimmt von der Aufregung. Seit ich weiß, dass ich hierherfliege, habe ich behauptet, das alles wäre eine Kleinigkeit. Der weite Flug, die große Entfernung von allem, was mir vertraut ist, die vielen Menschen da unten, die ich nicht kenne. Kein Thema für mich. Erst jetzt merke ich, dass ich mich überschätzt habe. Ich war noch nie länger als ein paar Tage von zu Hause weg. Und in wenigen Minuten werde ich ganz allein am anderen Ende der Welt landen.
Das Flugzeug sinkt tiefer und tiefer. Außen an der Scheibe läuft ein Wassertropfen herunter, ich fahre ihn mit dem Zeigefinger nach. Mein Magen rumort so laut, dass ich fürchte, es könnte die ältere Dame neben mir stören. Was ein komischer Gedanke ist, die Motoren sind viel lauter, außerdem schläft sie tief und fest. Sie hat fast den gesamten Flug über auf mich eingeredet: »Kannst du auch nicht schlafen? Ich freue mich so auf meine Tochter. Willst du Nüsschen? Könntest du mir die Tasche aus dem Fach heben? Schau mal, mein Gurt klemmt .« Erst vor etwa zehn Minuten ist ihr Kopf nach vorn auf die Brust gekippt. Ausgerechnet jetzt, wo wir im Grunde da sind. Soll ich sie wecken, bevor die Räder den Boden berühren?
Am Horizont zwischen den Bergen taucht ein Schriftzug auf. Ein kleines Lachen entfährt mir. Hollywood steht da in Großbuchstaben, die aus dieser Entfernung klein wirken. Den Schriftzug gibt es also wirklich. Er steht da einfach so auf einem Berg herum und guckt runter auf die Stadt. Während der Pilot zur Landung ansetzt und die Dame neben mir schnarcht und ich die Palmen in den Vorgärten zählen kann, so nah sind sie jetzt, dämmert mir: Das hier ist tatsächlich das größte Abenteuer meines Lebens.
Die Einreise ist ein Albtraum. Seit fast zwei Stunden stehe ich zwischen zwei Familien mit nörgelnden Kleinkindern in einer langen Schlange, die sich schmerzhaft langsam nach vorn schiebt. Ein Mädchen, das etwa im Alter meines Bruders ist, hört nicht mehr auf zu weinen. Sein Vater hat es auf den Arm genommen und wiegt es hin und her, mit den immer gleichen, ruhigen Bewegungen. Ich werde wütend auf meinen Vater, während ich die zwei beobachte. Kurz möchte ich wieder drei sein und auf seinen Arm, ich möchte, dass er hier ist und alles für mich regelt. Aber dann wird mir klar, wie gut es ist, dass er nicht dabei ist. Er, der sich mit meiner Mutter gegen mich verbündet hat. Er sei ganz ihrer Meinung, meinte er. Was für eine geschmeidige Wende die zwei hingelegt haben. Erst waren sie sich einig, dass ich unbedingt weiter zur Schule gehen sollte. Jetzt sind sie sicher, dass das hier eine gute Gelegenheit für mich ist, dass ich danach klarer sehen werde. Ich dachte, Papa würde kapieren, dass ich längst klarsehe. Dass ich nicht eingewilligt habe, weil sie recht haben. Sondern weil ich es selbst für eine gute Idee halte. Wer würde schon Nein sagen zu einem Gratisaufenthalt in Kalifornien?
Das kleine Mädchen hat aufgehört zu weinen und mustert mich mit tränenverklebten Augen. Ich nicke ihm leicht zu, während die Menschenschlange sich um weitere zehn Zentimeter voranschiebt.
»Was machst du in den USA?«, fragt mich der Officer, als ich endlich dran bin.
»Ich besuche Freunde«, antworte ich, wie Mama es mir geraten hat.
»Wie alt bist du?« Sein Nacken ist rasiert, die Haut an manchen Stellen gerötet.
»Siebzehn.«
»Reist du ohne Eltern?« Er blättert durch meinen brandneuen Reisepass, wobei mir auffällt, dass seine Nägel sehr kurz geschnitten sind.
»Eine Freundin der Familie holt mich ab, bei ihr werde ich wohnen.« Die englischen Worte kommen schleppend aus meinem Mund.
Er macht Aufnahmen von meinem Gesicht und scannt meine Fingerabdrücke. Alle zehn. Dabei mustert er mich mit emotionslosem Blick. Ich fühle mich wie eine Verbrecherin. So als würde der Typ direkt in meine Seele schauen, als sähe er die dunklen Geheimnisse darin, vielleicht sogar welche, die ich selbst noch nicht kenne oder verdrängt habe. Habe ich mich irgendwie verdächtig gemacht, frage ich mich. Könnte mich die Sache mit den geklauten Chips auf der Klassenfahrt nach Holland nun doch noch einholen? Sind in meinen frisch geschnittenen Haaren noch Spuren des einzigen Joints, den ich je geraucht habe? Stehen die Antiallergika in meinem Handgepäck hier auf einer roten Liste, werde ich deswegen in einen fensterlosen Hinterraum gesperrt, von wo aus ich wenige Minuten am Tag über ein altes Kabeltelefon mit meinen Eltern sprechen kann? Ich habe vermutlich zu viele amerikanische Serien geguckt.
Der Officer tippt auf seinem Computer rum. Schließlich zückt er einen Stempel und haut ihn mit Wucht in meinen Reisepass. Dann wendet er sich so schnell von mir ab, dass ich ein paar Momente brauche, um zu kapieren, dass es vorbei ist.
Ich bin drin.
Ich zerre den Koffer mit angestrengt unauffälliger Miene durch den Zoll. Die Erdnüsse und Minilaugenbrezeln, die Mama noch schnell in meinen Koffer geworfen hat - als Notfallsnacks -, zählen doch nicht als verbotene Lebensmittel, die nicht eingeführt werden dürfen, oder?
Ein süßer Beagle sitzt neben den schweren Stiefeln eines Zollbeamten und hält schnuppernd die Nase in die Luft. Riecht er, dass ich in meinen Sneakern mittlerweile Schweißfüße habe? Er und seine Kollegen sind jedenfalls der Grund dafür, dass ich Oles Abschiedsgeschenk nicht mitgenommen habe. Mama meinte, die Spürhunde könnten eventuell riechen, dass Ole kifft, und dann würde man mich filzen. Daher liegt die kleine Stoffrobbe jetzt zu Hause in meiner Kommode, hinter den Slips und Socken, die ich nicht eingepackt habe, neben den alten Postkarten und Fotos von Jonas. Hab ich Ole natürlich nicht gesagt. Ich sehe ihn vor mir, ihn und die anderen, in den Dünen am Nordstrand, an meinem letzten Abend auf Norderney, als alle so komisch feierlich drauf waren.
»Jetzt beginnt ein neuer Lebensabschnitt«, hat Emily gesagt.
»Alles wird anders«, meinte Paula, und Leni hat fast geheult.
»So viel ändert sich doch gar nicht«, habe ich geantwortet, die Musik auf der Boombox lauter gestellt und versucht, die anderen zum Tanzen zu animieren.
Aber sie haben nur aufs Meer geglotzt, als hätten sie nicht seit Jahren Hunderte von Sonnenuntergängen über der Nordsee gesehen. Nach den Sommerferien werden die meisten von ihnen aufs Gymnasium auf dem Festland gehen, weil man auf Norderney keine gymnasiale Oberstufe machen kann. Dann können sie zur Abwechslung mal den Sonnenaufgang live beobachten, von der ersten Fähre aus, die sie jeden Morgen nehmen werden. Nur Leni will nach England, alle anderen bleiben in Ostfriesland. Alle, außer mir.
Ich schüttele den Gedanken ab und trete durch die Schiebetüren in die unterirdische Ankunftshalle. Augenblicklich wird es laut um mich herum. Und voll. So viele Menschen, die auf jemanden warten. Ich halte nach Heather Ausschau, von der Mama mir Fotos gezeigt hat. Rundes, freundliches Gesicht, beachblonde Locken. Ob sie eins ihrer Kinder mitgebracht hat? Ein Schild gebastelt, auf dem steht: Welcome to California, Morlen? Hoffentlich nicht.
Ich sehe niemanden in der Menge der Wartenden, der Heather ähnelt. Dafür unzählige fremde Menschen. Männer in Anzügen halten Schilder mit Namen hoch, vermutlich weil sie irgendwelche Geschäftskunden abholen sollen. Es ist trotz der vielen Leute kühl hier drin, und es riecht nach Kaffee. Ich ziehe den...
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